Inhalt

VG Augsburg, Urteil v. 12.08.2020 – Au 5 K 20.30849
Titel:

Fiktionsbescheinigung nach § 81 Abs. 4 AufenthG steht dem Erlass einer Abschiebungsandrohung durch das Bundesamt nicht entgegen

Normenketten:
AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 4, § 26 Abs. 1 Nr. 3, § 34 Abs. 1 Nr. 4
AufenthG § 81 Abs. 4
Leitsatz:
Eine Fiktionsbescheinigung nach § 81 Abs. 4 AufenthG steht dem Erlass einer Abschiebungsandrohung durch das Bundesamt nicht entgegen, da die Regelung des § 34 Abs. 1 Nr. 4 AsylG den Besitz eines förmlichen Aufenthaltstitels voraussetzt. (Rn. 16) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Irakischer Staatsangehöriger, Klage gegen Abschiebungsandrohung, Fiktionsbescheinigung nach Verlängerungsantrag steht Besitz eines förmlichen Aufenthaltstitels nicht gleich, Abschiebungsandrohung, Fiktionsbescheinigung, Familiennachzug, Verlängerungsantrag, Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots, förmlicher Aufenthaltstitel
Fundstelle:
BeckRS 2020, 24276

Tenor

I. Soweit die Klage zurückgenommen wurde, wird das Verfahren eingestellt.
II. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
III. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Tatbestand

1
Mit seiner Klage wendet der Kläger sich zuletzt gegen die im Bescheid des Bundesamts vom 20. Mai 2020 verfügte Abschiebungsandrohung in den Irak und die Anordnung und Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots.
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Der Kläger ist irakischer Staatsangehörige arabischer Volkszugehörigkeit. Er reiste am 17. Juni 2017 im Rahmen des Familiennachzugs in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 5. Februar 2019 einen Asylantrag.
3
Bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) am 25. Juni 2019 trug der Kläger vor, dass er aus * stamme. Er sei Berufsmusiker gewesen, deshalb sei er von einer radikalen Gruppierung namens „Sarayh Al Asaeb Alhaq“ bedroht worden. Im Mai 2014 sei er von der Gruppierung von zuhause entführt worden und zwei Wochen lang gefangen gehalten worden. Man habe ich in dieser Zeit auch gefoltert. Er sei erst freigelassen worden, nachdem er versprochen habe, dass er nicht mehr musiziere. In der Zeit bis zu seiner Ausreise im November 2016 habe er seinen Aufenthaltsort ständig gewechselt und sich bei Verwandten aufgehalten. Teilweise habe ihn seine Familie unterstützt, außerdem habe er im Laden eines Freundes als Verkäufer arbeiten können. Seine Frau, eine syrische Staatsangehörige, sei im Jahr 2015 nach Deutschland ausgereist. Er sei mit den beiden Kindern jedoch im Irak geblieben, weil die Kinder von seiner Schwester gut betreut worden seien. Schließlich sei er im November 2016 mit den Kindern in die Türkei gereist, um von dort im Wege des Familiennachzugs zu seiner Frau nach Deutschland reisen zu können. Diese habe offiziell eine Einladung für sie geschickt. Im Jahr 2018 sei er nochmals für einen knappen Monat in den Irak gereist, weil er dort einen behinderten Bruder habe, um den er sich kümmern musste. Er sei mit seiner ältesten Tochter zurückgeflogen.
4
Der Ehefrau des Klägers wurde mit Bescheid des Bundesamts vom 3. Februar 2016 (Gz. *) die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Dem Kläger wurde im Hinblick auf den Familiennachzug zunächst eine bis 5. Mai 2019 gültige Aufenthaltserlaubnis erteilt. Nachdem er die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis beantragt hatte, wurde ihm am 9. Juli 2019 eine Fiktionsbescheinigung nach § 81 Abs. 4 AufenthG ausgestellt. Über den Verlängerungsantrag hat die zuständige Ausländerbehörde noch nicht entschieden.
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Das Bundesamt lehnte mit Bescheid vom 20. Mai 2020 (Gz. *), dem Kläger zugestellt am 28. Mai 2020, den Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Nr. 1) und auf Asylanerkennung (Nr. 2) sowie auf Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus (Nr. 3) ab. Weiter wurde festgestellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 4). Die Abschiebung in den Irak wurde angedroht (Nr. 5). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gem. § 11 Abs. 1 AufenthG wurde auf 6 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 6). Zur Begründung wurde ausgeführt, dass mit der vorgetragenen Bedrohung des Klägers durch eine Miliz wegen seines Berufes als Musiker keine Verfolgung in Anknüpfung an ein flüchtlingsrelevantes Merkmal dargelegt werde. Der Kläger habe als Musiker keiner besonderen sozialen Gruppe nach § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG angehört. Selbst bei Wahrunterstellung seines Vortrags sei es dem Kläger zudem gelungen, nach der Entführung durch die Miliz zweieinhalb Jahre ohne Repressalien zu leben. Eine Ableitung der Flüchtlingseigenschaft von der Ehefrau nach § 26 Abs. 5 AsylG komme ebenfalls nicht in Betracht. Wegen der unterschiedlichen Staatsangehörigkeiten des Klägers und seiner Ehefrau liege keine „Verfolgungsgemeinschaft“ vor. Der Kläger habe in seinem Herkunftsland keine Verfolgung zu befürchten. Zudem sei der Asylantrag nicht unverzüglich nach der Einreise i.S.d. § 26 Abs. 1 Nr. 3 AsylG gestellt worden. Der Kläger sei bereits am 19. Juni 2017 in die Bundesrepublik Deutschland eingereist und habe den Asylantrag erst am 5. Februar 2019 gestellt. Auch die Voraussetzungen für die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus lägen nicht vor. Der Vorfall mit der Miliz liege mehr als fünf Jahre zurück. Dem Kläger sei es trotz offener Ausübung einer Erwerbstätigkeit gelungen, zweieinhalb Jahre im Irak zu leben, ohne erneut von der Miliz bedroht zu werden. Zudem habe sich der Kläger 2018 nochmals freiwillig in den Irak begeben, obwohl weitere dort lebende Geschwister sich um den Bruder hätten kümmern können. Es gebe deshalb keine Anhaltspunkte für die Gefahr eines ernsthaften Schadens bei einer Rückkehr. Zwar sei davon auszugehen, dass in Teilen des Iraks ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt nicht ausgeschlossen werden könne. Dem Kläger als Zivilperson würde jedoch weder in Bagdad selbst noch in einem möglichen Ausweichort im Süden Irakseine erhebliche individuelle Gefahr aufgrund willkürlicher Gewalt drohen. Ein Anspruch auf die Feststellung nationaler Abschiebungsverbote bestehe ebenfalls nicht. Die derzeitigen humanitären Bedingungen im Irak führten nicht zu der Annahme, dass bei Abschiebung des Klägers eine Verletzung des Art. 3 EMRK vorliege. Der Kläger sei ein gesunder und arbeitsfähiger Man. Ihm sei es bereits vor der Ausreise gelungen, den Lebensunterhalt für sich und seine minderjährigen Kinder mit Hilfe der Familie und eigener Erwerbstätigkeit zu sichern. Der Kläger könne bei einer Rückkehr auch auf die Unterstützung des Familienverbandes zurückgreifen. Die Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 1 AufenthG auf sechs Monate sei im vorliegenden Fall im Hinblick auf die Flüchtlingsanerkennung der Ehefrau angemessen.
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Auf die weiteren Gründe des Bescheids wird ergänzend Bezug genommen.
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Hiergegen erhob der Kläger am 3. Juni 2020 Klage mit dem Antrag,
die Beklagte zu verpflichten, den Kläger als Asylberechtigten anzuerkennen, hilfsweise ihm die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, hilfsweise festzustellen, dass er die Voraussetzungen des subsidiären Schutzstatus erfüllt, hilfsweise festzustellen, dass Abschiebungsverbote gem. § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG vorliegen, hilfsweise das Einreise- und Aufenthaltsverbot aufzuheben bzw. kürzer zu befristen und den Bescheid des Bundesamtes vom 20. Mai 2020 aufzuheben, soweit er dem entgegensteht.
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Zur Begründung wurde auf den Asylantrag und die persönliche Anhörung vor dem Bundesamt Bezug genommen.
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Mit Schriftsatz vom 30. Juli 2020 nahm die Bevollmächtigte des Klägers die Klage hinsichtlich der Nrn. 1 bis 4 des angefochtenen Bescheids zurück. Bezüglich der Nrn. 5 und 6 wurde die Klage aufrechterhalten.
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Die Beklagte hat die Verfahrensakten in elektronischer Form vorgelegt, sich in der Sache jedoch nicht geäußert.
11
Die Kammer hat den Rechtsstreit mit Beschluss vom 15. Juli 2020 der Einzelrichterin zur Entscheidung übertragen (§ 76 Abs. 1 AsylG).
12
Mit der Ladung übersandte das Gericht eine aktuelle Erkenntnismittelliste. Die Regierung von Schwaben als Vertreterin des öffentlichen Interesses hat auf jegliche Zustellungen mit Ausnahme der Endentscheidung verzichtet.
13
Wegen der weiteren Einzelheiten wird Bezug genommen auf die Gerichts- und die beigezogene Behördenakte sowie die Niederschrift über die mündliche Verhandlung.

Entscheidungsgründe

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Die zulässige Klage ist nicht begründet. Klagegegenstand sind nach der teilweisen Klagerücknahme nur noch die im Bescheid vom 20. Mai 2020 verfügte Abschiebungsandrohung (Nr. 5) und die Anordnung und Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots auf sechs Monate ab dem Tag der Abschiebung (Nr. 6). Der angefochtene Bescheid ist insoweit rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
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1. Die Abschiebungsandrohung wurde zu Recht auf § 34 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 59 AufenthG gestützt.
16
Die dem Kläger am 9. Juli 2019 ausgestellte Fiktionsbescheinigung nach § 81 Abs. 4 AufenthG steht der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung nicht entgegen. Zwar erlässt das Bundesamt nach § 34 Abs. 1 Nr. 4 AsylG eine Abschiebungsandrohung nur, wenn der Ausländer keinen Aufenthaltstitel besitzt. Dieser Fall liegt hier jedoch vor. Der Kläger war zum Zeitpunkt des Bescheiderlasses und auch im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 AsylG) nicht im Besitz eines Aufenthaltstitels. Die ihm erteilte Fiktionsbescheinigung nach § 81 Abs. 4 AufenthG steht dem Besitz eines Aufenthaltstitels nicht gleich. Dies lässt sich zum einen bereits aus dem Wortlaut des § 34 Abs. 1 Nr. 4 AsylG ableiten. Der „Besitz“ eines Aufenthaltstitels ist denklogisch nur möglich, wenn ein solcher Titel überhaupt existiert. Wenn jedoch lediglich sein Fortbestehen fingiert wird, existiert kein Titel, den der Ausländer besitzen kann. Auch in Zusammenschau mit den Regelungen in § 43 Abs. 2 AsylG ergibt sich, dass die Fiktionsbescheinigung nach § 81 Abs. 4 AufenthG dem Erlass der Abschiebungsandrohung nicht entgegensteht. Nach § 43 Abs. 2 Satz 1 AsylG wird die Abschiebungsandrohung für den Fall, dass der Ausländer die Verlängerung eines Aufenthaltstitels mit einer Gesamtgeltungsdauer von mehr als sechs Monaten beantragt hat, erst mit der Ablehnung dieses Antrags vollziehbar. Die Regelung geht demnach davon aus, dass es eine Abschiebungsandrohung geben kann, auch wenn die Verlängerung eines Aufenthaltstitels beantragt wurde. Auch der Kläger hat die Verlängerung seines Aufenthaltstitels mit einer Gesamtgeltungsdauer von mehr als sechs Monaten beantragt. Nach § 43 Abs. 2 Satz 2 AsylG steht § 81 des Aufenthaltsgesetzes der Abschiebung im Übrigen nicht entgegen. Wenn jedoch weder § 81 Abs. 3 AufenthG noch § 81 Abs. 4 AufenthG einer tatsächlichen Abschiebung entgegenstehen, kann daraus geschlossen werden, dass sie auch dem Erlass einer Abschiebungsandrohung nicht entgegengehalten werden können. Die Regelung des § 34 Abs. 1 Nr. 4 AsylG setzt demnach den Besitz eines förmlichen Aufenthaltstitels voraus (so auch VG Darmstadt, U.v. 9.6.2006 - 5 E 853/04. A (3) - juris Rn. 58; Pietzsch in BeckOK, Ausländerrecht, Kluth/Heusch, Stand: 1.3.2020, § 34 AsylG Rn. 25, 26; Marx, AsylVfG, 8. Auflage, § 34 Rn. 18). Damit erweist sich die Abschiebungsandrohung in Nr. 5 des angefochtenen Bescheids als rechtmäßig.
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2. Auch die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots gem. § 11 Abs. 1 AufenthG auf sechs Monate nach der Abschiebung ist rechtlich nicht zu beanstanden. Die Bemessung der Frist beruht auf zutreffenden Ermessenserwägungen und trägt den privaten Belangen des Klägers ausreichend Rechnung.
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3. Die Klage war deshalb mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).