Inhalt

VG Augsburg, Urteil v. 04.08.2020 – 3 K 19.411
Titel:

Hilfe zur Erziehung nach Übertragung der elterlichen Sorge auf die aufnehmende Tante

Normenketten:
SGB VIII § 27, § 33, § 36a, § 86
BGB § 1631 Abs. 1, § 1793, § 1800
Leitsatz:
Ein Anspruch auf Hilfe zur Erziehung (hier: in Form der Vollzeitpflege) entfällt nicht durch die gerichtliche Übertragung der elterlichen Sorge auf die aufnehmende Tante. (Rn. 19) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Hilfe zur Erziehung, Vollzeitpflege, Übertragung der elterlichen Sorge auf die aufnehmende Tante, örtliche Zuständigkeit, selbst beschaffte Hilfe, Hilfe für Betreuung in der Familie der Pflegeperson, elterliche Sorge, Übertragung, Tante
Fundstelle:
BeckRS 2020, 24271

Tenor

I. Das Verfahren wird eingestellt, soweit die Klage zurückgenommen wurde.
II. Unter entsprechender Aufhebung des Bescheids des Landratsamts * vom 22. Februar 2019 wird der Beklagte verpflichtet, der Klägerin ab 1. September 2019 Hilfe zur Erziehung in Form von Vollzeitpflege für die Erziehung des Jugendlichen * zu bewilligen.
III. Die Klägerin trägt 13/55, der Beklagte 42/55 der Kosten des Verfahrens. Die Beigeladene trägt ihre außergerichtlichen Kosten selbst.
IV. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

1
Die Klägerin begehrt Hilfe zur Erziehung ihres am * 2005 geborenen Neffen, der der Sohn ihrer Schwester ist.
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Nachdem das Familiengericht * mit Beschluss vom 8. Oktober 2018 der Klägerin die elterliche Sorge für * übertragen hatte, stellte sie am 16. Januar 2019 einen Antrag auf Hilfe zur Erziehung in Form der Vollzeitpflege bei der Beigeladenen, die den Antrag zuständigkeitshalber an den Beklagten weiterleitete. Zur Begründung gab die Klägerin an, * wolle bei ihr leben.
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Die Eltern * sind geschieden. Bis Juli 2018 lebte er gemeinsam mit seiner Mutter und seinem Stiefvater in, wo es wiederholt zu Streitigkeiten mit dem Stiefvater kam. Am 24. oder 25. Juli 2018 kehrte er nach dem Besuch der Mittelschule nicht mehr zu seiner Mutter zurück, sondern fuhr mit dem Bus nach * zur Klägerin. Diese verständigte die Kindsmutter, die mit einem dauerhaften Verbleib bei der Klägerin einverstanden war. Am 22. August 2018 wurde * mit Hauptwohnsitz in * bei der Klägerin angemeldet.
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Mit Bescheid vom 22. Februar 2019 lehnte das Landratsamt * den Antrag auf Hilfe zur Erziehung ab. Die Eignungsprüfung der Familie der Klägerin als Pflegefamilie durch den Sozialdienst des Jugendamts der Beigeladenen sei derzeit noch nicht vollständig abgeschlossen. Der Beginn der Hilfe sei nicht der Zeitpunkt der Antragstellung, sondern das Datum der tatsächlichen Hilfegewährung. Zum jetzigen Zeitpunkt könne keine Hilfe zur Erziehung in Form der Vollzeitpflege bei der Familie der Klägerin installiert werden. Der frühest mögliche Hilfebeginn sei daher noch offen und liege auf jeden Fall in der Zukunft. Eine erneute Antragstellung könne ab dem Vorliegen der Voraussetzungen erfolgen. Zuständig hierfür sei das Jugendamt der Beigeladenen.
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Am 20. März 2019 erhob die Klägerin Klage mit dem Ziel, ab 1. August 2018 Hilfe zur Erziehung ihres Neffen zu erhalten. Nach teilweiser Klagerücknahme in der mündlichen Verhandlung beantragte sie zuletzt,
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unter entsprechender Aufhebung des Bescheids des Landratsamts * vom 22. Februar 2019 den Beklagten zu verpflichten, ihr ab 1. September 2019 Hilfe zur Erziehung in Form von Vollzeitpflege für die Erziehung des Jugendlichen * zu bewilligen.
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Seit Anfang August 2018 befinde sich * mit ausdrücklicher Billigung durch die Jugendämter der Beigeladenen und des Beklagten im Haushalt der Klägerin und ihres Ehemanns. Im September 2018 sei ein eingehender Hausbesuch durch eine Mitarbeiterin des Jugendamts des Beklagten erfolgt, im Januar 2019 habe es Inspektionsbesuche zweier erfahrener Mitarbeiter des Jugendamts der Beigeladenen gegeben. Alle Mitarbeiter hätten nach eingehender Überprüfung der Notwendigkeit der Unterbringung und der Geeignetheit der Klägerin und ihres Ehemanns die verfahrensgegenständliche Erziehungsunterbringung befürwortet, die von der Klägerin zuverlässig und ohne Beanstandungen erledigt werde. Es werde mit Nichtwissen bestritten, dass derzeit eine erforderliche Eignungsprüfung durch den Sozialdienst des Jugendamts der Beigeladenen noch nicht vollständig abgeschlossen sei.
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Der Beklagte beantragte,
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die Klage abzuweisen.
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Da * schon länger als sechs Monate seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Bereich der Beigeladenen habe, sei diese nach § 86 Abs. 3 i.V.m. § 86 Abs. 2 Satz 2 und 4 SGB VIII örtlich zuständig. Im Übrigen hätten sowohl die Klägerin als auch die Kindsmutter am 20. August 2018 bei einem gemeinsamen Gespräch im Jugendamt des Beklagten angegeben, dass sie das Finanzielle untereinander regeln würden. Die Kindsmutter habe veranlassen wollen, dass das Kindergeld und der Unterhalt des Kindsvaters an die Klägerin ausgezahlt werde. Sie selbst habe sich erkundigen wollen, wie viel Unterhalt sie für * an die Klägerin bezahlen müsse.
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Die Beigeladene vertritt die Auffassung, dass der Beklagte für die Entscheidung über den am 16. Januar 2019 gestellten Antrag der Klägerin örtlich zuständig sei.
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Mit Bescheid vom 25. September 2019 gewährte die Beigeladene der Klägerin unter dem Vorbehalt des Widerrufs für * vorläufig Jugendhilfe in Form von Vollzeitpflege ab 1. September 2019 bis auf weiteres. Seitdem erhält die Klägerin monatlich eine Pflegepauschale in Höhe von 996 EUR und eine Zusatzpauschale in Höhe von 25 EUR.
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Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Akteninhalt und das Protokoll über die mündliche Verhandlung Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

I.
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Soweit die Klage zurückgenommen wurde, war das Verfahren einzustellen (§ 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO).
II.
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Im Übrigen ist die Klage zulässig und begründet.
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1. Der Beklagte ist für den geltend gemachten jugendhilferechtlichen Anspruch passivlegitimiert, weil er für die Entscheidung über den Leistungsantrag sachlich und örtlich zuständig ist. Im Zeitpunkt der Antragstellung am 16. Januar 2019 stand die Personensorge für * keinem der seit langem geschiedenen Elternteile zu, so dass sich die örtliche Zuständigkeit gemäß § 86 Abs. 3 i.V.m. § 86 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII nach dem gewöhnlichen Aufenthalt des Elternteils richtet, bei dem * vor Beginn der Leistung zuletzt seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte. Beginn der Leistung im Sinn von § 86 SGB VIII ist das Einsetzen der Hilfegewährung und damit der Zeitpunkt, ab dem die konkrete Hilfeleistung tatsächlich gegenüber dem hilfsbedürftigen Kind oder Jugendlichen erbracht wird (vgl. BVerwG, U.v. 19.10.2011 - 5 C 25.10 - juris Rn. 18). Entgegen der Auffassung des Beklagten ist damit nicht der Zeitpunkt der (stattgebenden) Entscheidung über den Jugendhilfeantrag gemeint, sondern der Zeitpunkt, in dem * in den Haushalt der Klägerin aufgenommen wurde, also der 24. oder 25. Juli 2018. Zuvor hatte er seinen gewöhnlichen Aufenthalt bei seiner in * im Landkreis * wohnenden Mutter. Da deren gewöhnlicher Aufenthalt vor Beginn der Leistung damit im Zuständigkeitsbereich des Beklagten lag, ist dieser nach § 86 Abs. 3 i.V.m. § 86 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII örtlich zuständig.
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2. Der Klägerin steht ab dem 1. September 2019 der geltend gemachte Anspruch auf Hilfe zur Erziehung in Form von Vollzeitpflege zu (§§ 27, 33 SGB VIII).
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a) Zwar stand dem ursprünglich bereits ab dem 1. August 2018 geltend gemachten Anspruch zunächst entgegen, dass es sich bei der Unterbringung * in der Familie der Klägerin um eine selbst beschaffte Hilfe handelte, die nicht die Voraussetzungen des § 36a Abs. 3 Satz 1 SGB VIII erfüllte. Nach dieser Bestimmung ist bei abweichend von den Absätzen 1 und 2 selbst beschafften Hilfen der Träger der öffentlichen Jugendhilfe zur Übernahme der erforderlichen Aufwendungen nur verpflichtet, wenn u.a. die Deckung des Bedarfs bis zu einer Entscheidung des Trägers der öffentlichen Jugendhilfe über die Gewährung der Leistung keinen zeitlichen Aufschub geduldet hat. Dies ist nach den Umständen des Falles zu verneinen. Demnach beschloss * aufgrund massiver Streitigkeiten mit seinem Stiefvater eines Tages nach Schulschluss, nicht mehr zu seiner Mutter zurückzukehren, und fuhr daraufhin mittags von der Mittelschule * mit dem Bus nach * zu seiner Tante, der Klägerin. Die Mutter wurde hierüber von der Klägerin telefonisch verständigt und war mit * Verbleib bei der Klägerin einverstanden. Sie merkte an, dass der Verbleib * bei der Klägerin nun für immer sein müsse, andernfalls solle er unverzüglich nach Hause kommen („ganz oder gar nicht“). * entschied sich gemeinsam mit der Klägerin für den Verbleib bei ihr auf Dauer (vgl. Weiterleitungsschreiben des Stadtjugendamts der Beigeladenen vom 18.1.2019). Dies zeigt, dass es keinen akuten Anlass für den Umzug * zur Klägerin gegeben hat. Vielmehr war neben dem Entschluss, sich dem ihn belastenden Dauerstreit mit seinem Stiefvater zu entziehen, ausschlaggebend die Bereitschaft der Klägerin zu seiner Aufnahme und die Zustimmung der Mutter hierzu. Eine selbst beschaffte Hilfe liegt jedoch nicht mehr vor, seitdem die Beigeladene mit Bescheid vom 25. September 2019 rückwirkend ab 1. September 2019 der Klägerin Hilfe zur Erziehung in Form von Vollzeitpflege gemäß §§ 27 und 33 SGB VIII gewährt hat. Auch wenn es sich hierbei nur um eine vorläufige Leistung nach § 86d SGB VIII handelt, die unter dem Vorbehalt des Widerrufs steht, ändert dies nichts daran, dass es sich nicht mehr um eine selbst beschaffte Hilfe handelt, so dass der Versagungsgrund des § 36a Abs. 3 Satz 1 Nr. 3a SGB VIII ab 1. September 2019 entfallen ist.
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b) Dem geltend gemachten Anspruch steht auch nicht entgegen, dass seit der Übertragung der elterlichen Sorge für * auf die Klägerin durch Beschluss des Amtsgerichts * - Abteilung für Familiensachen - vom 8. Oktober 2018 diese nach § 1630 Abs. 3 Satz 3 i.V.m. § 1915 Abs. 1 Satz 1, § 1793 BGB das Recht und die Pflicht hat, für * zu sorgen, und die Personensorge nach §§ 1800, 1631 Abs. 1 BGB insbesondere das Recht und die Pflicht umfasst, ihn zu pflegen, zu erziehen, zu beaufsichtigen und seinen Aufenthalt zu bestimmen. Die Klägerin ist jedoch nicht verpflichtet, im Rahmen ihrer Personensorge die tatsächliche Betreuung und Erziehung * selbst zu übernehmen. Nach § 1915 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 1800 Satz 2 BGB hat die Pflegeperson bzw. der Vormund die Pflege und Erziehung persönlich zu fördern und zu gewährleisten, nicht aber persönlich zu leisten. Es genügt, wenn sie dafür sorgt, dass der Jugendliche seinem Wohl entsprechend durch andere betreut und erzogen wird (vgl. BVerwG, U.v. 15.12.1995 - 5 C 2.94 - juris Rn. 15 f.). Die dafür erforderlichen Kosten fallen nicht ihr als Pflegeperson, die als solche dem Jugendlichen keinen Unterhalt schuldet, sondern dem Jugendlichen selbst zur Last. § 27 Abs. 2a SGB VIII bestimmt mittlerweile ausdrücklich, dass der Anspruch auf Hilfe zur Erziehung nicht dadurch entfällt, dass eine andere unterhaltspflichtige Person bereit ist, diese Aufgabe zu übernehmen, wenn eine Erziehung des Kindes oder des Jugendlichen außerhalb des Elternhauses erforderlich ist. Können aber unter diesen Voraussetzungen selbst unterhaltsverpflichtete Großeltern einen Anspruch auf Hilfe zur Erziehung insbesondere in Form der Vollzeitpflege geltend machen, so muss dies für nicht unterhaltsverpflichtete Tanten und Onkel erst recht gelten.
20
Anhaltspunkte dafür, dass die Klägerin zur tatsächlichen Betreuung und Erziehung * nicht geeignet wäre, sind weder vorgetragen noch ersichtlich.
21
Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Der bis zur teilweisen Klagerücknahme streitgegenständliche Zeitraum erstreckte sich vom 1. August 2018 bis 28. Februar 2023, also auf 55 Monate. Die Klage ist letztlich für 13 Monate erfolglos geblieben, hatte aber für die übrigen 42 Monate Erfolg. Da die Beigeladene keinen Antrag gestellt und sich damit keinem Kostenrisiko ausgesetzt hat, entspricht es der Billigkeit, dass sie ihre außergerichtlichen Kosten selbst trägt (vgl. § 162 Abs. 3 VwGO).
22
Die Kostenentscheidung war gemäß § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO für vorläufig vollstreckbar zu erklären.