Titel:
Erfolglose Klage eines irakischen Staatsangehörigen gegen Ausweisung trotz Strafaussetzung zur Bewährung wegen günstiger Sozialprognose
Normenketten:
AufenthG § 11, § 32 Abs. 1, § 53, § 54, § 55
StGB § 21, § 57
BayVwVfG Art. 3 Abs. 3
Leitsätze:
1. Das Verwaltungsgericht ist bei der Gefahrenprognose nicht an die vom Strafvollstreckungsgericht bei dessen Entscheidung über die Aussetzung des Strafrests zur Bewährung gefundene Einschätzung gebunden. Zwar sind die Entscheidungen der Strafgerichte nach § 57 StGB von tatsächlichem Gewicht und stellen bei der Prognose ein wesentliches Indiz dar; eine Bindungswirkung geht von den strafvollstreckungsrechtlichen Entscheidungen jedoch nicht aus. (Rn. 64) (redaktioneller Leitsatz)
2. Dem zur Vorbereitung einer Entscheidung nach § 57 StGB eingeholten Gutachten kommt allenfalls die Bedeutung einer Entscheidungshilfe für die vom Strafrichter zu treffende Sozialprognose zu (OVG Münster BeckRS 2008, 37496), was die Annahme einer weitergehenden Bindungswirkung für die vom Verwaltungsgericht unabhängig und eigenständig zu treffende Prognoseentscheidung bereits vom Ansatz her ausschließt. (Rn. 65) (red. LS Clemens Kurzidem)
3. Die sich an der Erreichung des Ausweisungszwecks orientierende Sperrfrist des § 11 Abs. 2, 3 AufenthG muss sich an höherrangigem Recht, dh verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen und den Vorgaben aus Art. 8 EMRK messen und ggf. relativieren lassen. Dieses normative Korrektiv bietet der Ausländerbehörde und den Gerichten ein rechtsstaatliches Mittel, um die fortwirkenden einschneidenden Folgen des Einreise- und Aufenthaltsverbots für die persönliche Lebensführung des Betroffenen zu begrenzen (BVerwGE 142, 277 = BeckRS 2012, 56736). (red. LS Clemens Kurzidem)
Schlagworte:
Ausweisung, Irakischer Staatsangehöriger, Schwerer Raub in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung, Wiederholungsgefahr, Mehrfache Ordnungswidrigkeiten seit Inhaftierung, Einreise- und Aufenthaltsverbot, Sperrfrist, Spezialprävention, Generalprävention, schwerer Raub, Gewaltstraftaten, Prognose, Strafaussetzung zur Bewährung, irakischer Staatsangehöriger, gefährliche Körperverletzung, Haftempfindlichkeit
Rechtsmittelinstanz:
VGH München, Beschluss vom 05.11.2020 – 10 ZB 20.2215
Fundstelle:
BeckRS 2020, 24157
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
1
Der Kläger begehrt die Aufhebung des Bescheids der Beklagten, mit dem die Beklagte den Kläger aus der Bundesrepublik Deutschland auswies, ein befristetes Einreise- und Aufenthaltsverbot unter Bedingung der Straffreiheit von fünf Jahren, bei Nichterfüllung der Bedingung von neun Jahren, anordnete und die Abschiebung in den Irak androhte.
2
Der Kläger ist irakischer Staatsangehöriger und am … … … in … geboren. Er reiste am 25. Juli 2009 mit einem Familiennachzugsvisum zu seinem Vater zusammen mit seiner Mutter und seinen drei jüngeren Geschwistern erstmals in die Bundesrepublik Deutschland ein (I 7, 9, 11 ff.). Ab 31. Juli 2009 war der Kläger im Besitz einer befristeten Aufenthaltserlaubnis, die einmal bis zum 19. Juli 2012 verlängert wurde (I 10, 17).
3
Der Kläger stellte einen Antrag auf Verlängerung des Aufenthaltstitels am 20. Mai 2012, eingegangen bei der Beklagten am 12. Juli 2012 (I 35 ff.). Er kreuzte bei der Frage, ob gegen ihn Ermittlungsverfahren anhängig seien, „Nein“ an. Die Beklagte stellte dem Kläger wegen der damals bereits anhängigen Strafverfahren Fiktionsbescheinigungen aus (I 30 ff.), die bis zum 19. April 2016 verlängert wurden.
4
Der Kläger besuchte seit dem 16. November 2009 die 8. Klasse einer Hauptschule in München (I 23). Anschließend besuchte er ab dem 14. Mai 2012 eine städtische Berufsschule in München (I 39, 78) und einen berufsvorbereitenden VHS-Kurs (I 98). Der Kläger arbeitete ausweislich seines Rentenversicherungsverlaufs vom 20. Juli 2017 ab dem 15. Mai 2013 zunächst in geringfügigen nicht versicherungspflichtigen Beschäftigungen, anschließend bis zum 24. Oktober 2014 für eine Leiharbeitsfirma an verschiedenen Einsatzorten (I 199, 472). Der Kläger befand sich ab dem 1. Dezember 2014 in einem Ausbildungsverhältnis bei einem Friseursalon (I 243), das am 30. April 2016 mit seiner Unterbringung in Untersuchungshaft endete. Im Rahmen der Inhaftierung absolvierte der Kläger am 2. Februar 2019 erfolgreich die Gesellenprüfung zum Friseurhandwerk.
5
Strafrechtlich ist der Kläger wie folgt in Erscheinung getreten:
Von einer Strafverfolgung wegen Diebstahls am 20. April 2012 wurde nach Mitteilung der Staatsanwaltschaft München I vom 2. Mai 2012 nach § 45 Abs. 2 Jugendgerichtsgesetz (JGG) abgesehen (I 24 f.). Von einer Strafverfolgung wegen Bedrohung gegen seine Eltern vom 20. November 2012 wurde mit Verfügung der Staatsanwaltschaft vom 12. März 2013 nach § 154 Abs. 1 StPO abgesehen (I 95 ff, 110).
6
Mit Urteil des Amtsgerichts München - Jugendgericht - vom 30. Oktober 2012, rechtskräftig am selben Tag, wurde der Kläger wegen gefährlicher Körperverletzung in Tatmehrheit mit Diebstahl zur Ableistung von 40 Stunden gemeinnütziger Arbeit verurteilt (I 124 ff.). Hintergrund der abgeurteilten Straftaten war eine Schlägerei zwischen zwei Jugendgruppen am 21. Februar 2012, in der der Kläger einem Geschädigten Fußtritte verpasste. Am 1. September 2012 entwendete der Kläger eine Herrenjacke sowie Modeschmuck im Gesamtwert von 56,87 Euro aus einem Bekleidungsladen.
7
Mit Urteil des Amtsgerichts München - Jugendgericht - vom 17. Oktober 2013, rechtskräftig am selben Tag, wurde der Kläger wegen gefährlicher Körperverletzung zu vier Tagen Jugendarrest verurteilt (I 166 ff.). Hintergrund der abgeurteilten Straftat waren Faustschläge des Klägers und seiner Mittäter gegen einen Geschädigten am 25. Mai 2013. Im Verlauf der Auseinandersetzung stürzte das Opfer auf einer U-Bahntreppe. Der Mittäter des Klägers trat dem mit offenem Sprunggelenksbruch am Boden liegenden Geschädigten mit dem Fuß in den Bauch.
8
Mit Urteil des Amtsgerichts München - Jugendgericht - vom 15. Juni 2015, rechtskräftig am selben Tag, wurde der Kläger wegen gefährlicher Körperverletzung zu einem Freizeitarrest sowie zur Teilnahme an einem Anti-Aggressions-Kurs verurteilt (I 194 ff). Hintergrund der abgeurteilten Straftat war, dass einer der Mittäter des Klägers ein unbekanntes, circa zehn- bis 14-jähriges Kind am Bahnhofsvorplatz in Giesing drangsalierte und schlug. Ein dem Kind zu Hilfe eilender Erwachsener wurde daraufhin vom Kläger und seinen Mittätern gemeinsam mit Faustschlägen traktiert.
9
Am 28. März 2016 führte der Kläger 0,11 Gramm Marihuana mit sich, das er kurz zuvor von einer unbekannten Person für fünf Euro erworben hatte. Der Kläger gestand die Straftat gegenüber der Polizei. Nach Mitteilung der Staatsanwaltschaft an das Verwaltungsgericht vom 24. Juni 2020 wurde das Verfahren nach § 154 Abs. 2 StPO zunächst vorläufig und nach Rechtskraft des Bezugsverfahrens 20 KLs 455 Js 157432/16 endgültig eingestellt.
10
Zu einem nicht genau bekannten Zeitpunkt Mitte März 2016 geriet der Kläger nach Mitteilung der Polizei an die Ausländerbehörde vom 11. Mai 2016 auf dem Gelände der Optimolwerke in eine handgreifliche Auseinandersetzung, bei der dem Kläger mit einer Glasflasche auf den Hinterkopf geschlagen wurde. Die blutende Platzwunde des Klägers musste im Krankenhaus genäht werden (I 283 f., I 335).
11
Der Kläger wurde mit Schreiben der Ausländerbehörde vom 19. April 2016 ausländerrechtlich verwarnt (I 246). Am selben Tag wurde dem Kläger erneut ein Aufenthaltstitel nach § 32 Abs. 1 AufenthG, befristet auf den 2. September 2016, ausgestellt (I 251).
12
Am 30. April 2016 trat der Kläger erneut strafrechtlich in Erscheinung: Die vier Geschädigten fuhren am 30. April 2016 gegen 2.00 Uhr mit der S-Bahn Linie S. 3 von Deisenhofen zum Ostbahnhof. Der Kläger und sein Mittäter, die erheblich alkoholisiert waren, stiegen gegen 2.30 Uhr am Bahnhof Giesing in die S-Bahn ein. Der Kläger und sein Mittäter fassten den spontanen gemeinsamen Tatplan, von den Geschädigten Drogen und ggfls. andere Wertgegenstände zu fordern und ihnen auch gegen deren Willen abzunehmen. Der Kläger nahm eine am Boden stehende 0,7 l-Schnapsflasche an sich, um sie zur Durchsetzung der Forderung und im Zusammenhang mit der beabsichtigten Wegnahmehandlung zu verwenden. Der Kläger und sein Mittäter forderten von den Geschädigten mehrfach die Herausgabe von Drogen. Der Kläger schlug nach vorigem Entleeren der Flasche auf den Boden, diese - am Flaschenhals haltend - mehrmals gegen eine Haltestange, um seiner Forderung Ausdruck zu verleihen. Die Flasche ging dabei entgegen der Absicht des Klägers nicht zu Bruch. Der Kläger drohte verbal, die Flasche zu werfen. Der Mittäter schubste den Geschädigten B. mit Wucht gegen die Fensterscheibe eines Sitzabteils und drückte den Geschädigten R. gegen eine Sitzbank. Daraufhin durchsuchte der Mittäter die Jacke des sich nicht wehrenden Geschädigten B. und entnahm der Innentasche ein stehendes Messer mit acht Zentimeter Klingenlänge, um es für sich zu behalten und es als weiteres Drohmittel einzusetzen. Der Mittäter zeigte dem Kläger das Messer und behielt es im Fortgang einsatzbereit in der rechten Hand. Nach einer weiteren Durchsuchung der Innentasche der Jacke des Geschädigten B. entnahm der Mittäter dieser eine auf den Namen B. ausgestellte Fahrpreisnacherhebung, ein Mobiltelefon I-Phone 6, an das eine mobile Powerbank angeschlossen war und zeigte dem Kläger die Gegenstände. Der Mittäter steckte die Fahrpreisnacherhebung in seine Hosentasche und gab B. das Mobiltelefon mit der Powerbank wieder zurück. Der Mittäter richtete anschließend zur Einschüchterung das Messer gegen das Gesicht des G. und des B. und machte eine ausholende Bewegung. Der Mittäter entnahm der Jackeninnentasche des B. erneut das Mobiltelefon und die Powerbank. B. entfernte, eingeschüchtert durch das Vorverhalten des Mittäters, die Powerbank und erhielt das Mobiltelefon vom Mittäter zurück. Der Mittäter steckte die Powerbank ein. Anschließend schlug der Mittäter dem G. mit der flachen Hand ins Gesicht. Der Kläger stand mit der Flasche als Drohmittel in der Hand die gesamte Zeit bei den Geschädigten und billigte das Verhalten des Mittäters. An der nächsten Haltestelle stiegen alle Beteiligten aus. Die Geschädigten verständigten die Sicherheitswache. Der Kläger wurde daraufhin mit Haftbefehl vom 1. Mai 2016 ab dem 30. April 2016 in Untersuchungshaft genommen (I 253 ff.).
13
Mit Urteil des Landgerichts München I vom 19. Dezember 2016 (Az. 20 KLs 455 Js 157432/16), rechtskräftig am 23. Februar 2017, wurde der Kläger wegen schweren Raubs in einem minder schweren Fall in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt (I 315 ff.). Der Tathergang war durch die Videoaufnahmen in der S-Bahn und anhand der Zeugenaussagen der Geschädigten rekonstruierbar. Der Kläger wies nach dem Sachverständigengutachten während der Tat eine wahrscheinliche Blutalkoholkonzentration zwischen 1,17 und 1,45 Promille auf. Das Gericht ging daher davon aus, dass zum Tatzeitpunkt beim Kläger nicht ausschließbar eine erhebliche Einschränkung der Steuerungsfähigkeit gemäß § 21 StGB vorlag. In der Strafzumessung wertete das Gericht zu Gunsten des Klägers, dass die Tat nicht von langer Hand geplant war, die vom Kläger als Drohmittel verwendete Flasche nicht von Anfang an vom Kläger mitgeführt wurde und der Schaden bei den Geschädigten, insbesondere hinsichtlich des Werts der weggenommenen Flasche und mangels psychischer Folgeschäden, gering war. Der Kläger sei zum Tatzeitpunkt 21 Jahre alt gewesen, damit dem Jugendstrafrecht nur knapp entwachsen und sehe sich erstmalig mit Erwachsenenstrafrecht konfrontiert. Der Kläger habe aufrichtig dargetan, dass er die Tat bedauere und sich bei den Geschädigten entschuldigt. Aufgrund des geringen Altersunterschieds zwischen den Geschädigten und dem Kläger sei die Tat als jugendtypisch anzusehen. Zum Nachteil des Klägers sprach, dass die Tat im öffentlichen Nahverkehr, den viele Menschen nutzen, begingen, wobei zu Gunsten des Klägers wiederum zu werten sei, dass die Tat zur Nachtzeit begangen wurde. Aufgrund der räumlichen Beschaffenheit der S-Bahn sei es den Geschädigten nicht ohne weiteres möglich gewesen, sich dem Angriff zu entziehen. Gegen den Kläger seien zudem in den Jahren 2012 bis 2015 bereits dreimal Ahndungen wegen einschlägiger Gewaltdelikte verhängt worden, wobei hierbei Jugendstrafrecht Anwendung gefunden habe.
14
Nach Eintritt der Rechtskraft des Urteils verbüßte der Kläger ab dem 23. Februar 2017 die Freiheitsstrafe.
15
Mit Schreiben der Beklagten vom 18. Mai 2017 wurde der Kläger zur beabsichtigten Ausweisung angehört (I 373). Zu ihrer Stellungnahme führte der Bevollmächtigte des Klägers mit Schreiben vom 23. Juli 2017 (I 428) unter anderem aus, dass das Amtsgericht München im Urteil vom 15. Juni 2015 festgestellt habe, dass Reifeverzögerungen beim Kläger nicht auszuschließen seien. Die ausländerrechtliche Verwarnung vom 19. April 2016 sei nicht erforderlich gewesen. Es habe zuvor bei der Beklagten eine Verwechslung mit dem Mitangeklagten im Urteil vom 15. Juni 2015 stattgefunden. Der Tat am 30. April 2016 sei eine erhebliche Alkoholisierung des Klägers vorausgegangen. Der Kläger sei nach den Feststellungen der gerichtlichen Sachverständigen und des Gerichts erheblich in seiner Steuerungsfähigkeit eingeschränkt gewesen. Die Flasche habe er im Rahmen der Straftat an sich genommen, da diese von einem Mitglied der anderen Gruppe für ihn bedrohlich verwendet worden sei. Zwei Wochen vor dem Vorfall sei der Kläger von Männern bedroht worden, wobei ihm einer eine Bierflasche auf den Hinterkopf geschlagen habe, was zu einer blutenden Wunde und zu einem stationären Krankenhausaufenthalt des Klägers geführt habe. Der Kläger arbeite im Strafvollzug an der Aufarbeitung der Straftat. Er habe erkannt, dass sein bisheriger Umgang ihm nicht gutgetan habe und habe sich von diesen Personen losgesagt. Der Kläger werde nach seiner Haftentlassung wieder zu seinen Eltern ziehen. Der Kläger werde ab Herbst 2017 am Anti-Gewalt-Training und der Behandlungsgruppe „Alkohol und Gewalt“ teilnehmen. Er habe sich auch für die Teilnahme an der Gruppe der Anonymen Alkoholiker beworben. Die Justizvollzugsanstalt beurteile die Prognose für den Kläger positiv; die Ausländerbehörde könne von einer erfolgreichen Resozialisierung durch den Strafvollzug ausgehen. Beim Kläger sei eine Nachreifung erkennbar.
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Mit Bescheid vom 18. August 2017 (I 442 ff.), zugestellt am 18. August 2017 (I 497), wurde der Kläger aus der Bundesrepublik Deutschland ausgewiesen (Nr. 1) und das Einreise- und Aufenthaltsverbot auf sieben Jahre unter der Bedingung des Nachweises der Straffreiheit befristet, wobei die Frist mit der Ausreise beginnt (Nr. 2 Satz 1). Wird die Bedingung nicht erfüllt, beträgt die Frist neun Jahre ab Ausreise (Nr. 2 Satz 2). Nach erfülltem Strafanspruch des Staates und Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht wird der Kläger aus der Haft in den Irak abgeschoben. Sollte er aus der Haft entlassen werden, bevor die Abschiebung durchgeführt werden kann, ist der Kläger verpflichtet, das Bundesgebiet bis spätestens vier Wochen nach Haftentlassung zu verlassen. Sollte der Kläger nicht fristgerecht ausreisen, wird er in den Irak abgeschoben. Die Abschiebung kann auch in einen anderen Staat erfolgen, in den der Kläger einreisen darf oder der zu seiner Rücknahme verpflichtet ist (Nr. 3). Auf die Gründe des Bescheids wird Bezug genommen, § 117 Abs. 3 Satz 2 VwGO.
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Der Klägerbevollmächtigte erhob im Namen des Klägers mit Schriftsatz vom 6. September 2017, eingegangen beim Bayerischen Verwaltungsgericht München am selben Tag, Klage und beantragte,
den Bescheid der Beklagten vom 18. August 2017 aufzuheben.
18
Die Beklagte legte mit Schriftsatz vom 6. Oktober 2017 die Behördenakte vor.
19
Mit Schriftsatz vom 12. Oktober 2017 begründete der Klägerbevollmächtigte die Klage dahingehend, dass das Strafgericht die Straftat noch als jugendtypisch angesehen habe. Dass ein „amtsbekannter Straftäter B.“ den Kläger in der Haft besucht habe, sei zwar richtig. Allerdings habe der Kläger den Besucher nicht bestellt bzw. eingeladen. Mit seinem alten Freundeskreis habe der Kläger nichts mehr zu tun. Rechtlich habe die Beklagte bei der Zusammenstellung des Abwägungsmaterials die Umstände des Einzelfalles nicht erkannt bzw. nicht als günstig eingestellt. Wegen der geringen Strafverhängungen im Jugendstrafrecht bei den vorangegangenen Taten könne beim Kläger nicht von einem Serientäter gesprochen werden. Der angerichtete Schaden des Raubs sei äußerst gering gewesen, die Straftat sei nicht geplant erfolgt und der Kläger habe die Flasche nicht wegnehmen, sondern nur als gefährlichen Gegenstand aus einer gefährlichen Situation herausnehmen wollen. Der Klägerbevollmächtigte führte weiter aus, dass „bei der Einführung von generalpräventiven Momenten (…) auf vergleichbare Sachverhalte abgestellt werden“ müsse. „Die Ausweisung des Klägers dürfte auf andere, gleichaltrige und ebenso in der Reife zurückgebliebenen ausländischen Jugendlichen keine generalpräventive Wirkung haben. Die einschlägigen vorausgegangenen Straftaten seien mit im Extremfall einem Freizeitarrest von drei Tagen (Freitag mit Montag) geahndet worden“, so dass sich mit diesen Verfehlungen keine Ausweisung rechtfertigen lasse. Diese sei dann auch nicht generalpräventiven Argumenten zugänglich. Es handele sich bei der streitgegenständlichen Verurteilung um die erste schwerwiegende Verfehlung des Klägers. Eine spezialpräventive Wirkung der Ausweisung sei nicht erforderlich, da keine Wiederholungsgefahr drohe. Der Kläger habe durch das therapeutische Angebot in der Justizvollzugsanstalt die Möglichkeit bekommen, an seinen Schwachstellen zu arbeiten.
20
Mit weiteren Schriftsätzen vom 27. Dezember 2017 und vom 21. Januar 2018 legte der Klägerbevollmächtigte weitere Unterlagen, insbesondere aktuelle Vollzugspläne und Teilnahmebestätigungen vor, auf die Bezug genommen wird.
21
Aus dem Vollzugsbericht der Justizvollzugsanstalt … vom 11. Juni 2018 (Vollstreckungsheft (im Folgenden: VH) 79 ff.) ergibt sich, dass der Kläger ein überwiegend optimistischer und freundlicher Strafgefangener sei, der sich Bediensteten gegenüber respektvoll und höflich verhalte, keine Probleme mit den anderen Inhaftierten habe und keinerlei Anlass zu disziplinarischen Beanstandungen gebe. Der Kläger habe angegeben, in den sechs Monaten vor seiner Inhaftierung täglich Alkohol getrunken und seit seinem 19. Lebensjahr täglich Cannabis konsumiert zu haben. Gelegentlich habe er auch Ecstasy zu sich genommen. Der Kläger habe das Behandlungsangebot der Justizvollzugsanstalt genutzt und sich sehr interessiert und engagiert gezeigt. Er habe sich offen und ehrlich mit dem Inhalt der Gruppenstunden auseinandergesetzt und reflektierte Beiträge erbracht. In der Gesamtschau lasse sich festhalten, dass der Kläger sein Leben verantwortungsbewusst gestalte und langfristig plane. Eine Bewährungsentlassung sei nach aktuellem Kenntnisstand und vorbehaltlich eines günstigen Gutachtens grundsätzlich denkbar.
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Mit Schriftsatz vom 6. Oktober 2018 führte der Klägerbevollmächtigten aus, dass die früheren Straftaten regelmäßig unter Alkohol-, Cannabis- und teilweise Ecstasy-Einfluss zustande gekommen seien. Aktuell sei der Kläger drogenentwöhnt und charakterlich nachgereift, so dass sich die Gefahrprognose zu Gunsten des Klägers geändert habe. Gegen die Geschädigten R. und G. seien mittlerweile selbst Strafverfahren (mittäterschaftliche räuberische Erpressung, versuchter Totschlag) anhängig.
23
Laut forensisch-psychologischem Prognosegutachten vom 7. März 2019 (VH 102 ff.) gab der Kläger zur geplanten Situation nach Haftentlassung unter anderem an, dass er bereits eine Arbeitsstelle als Friseur bei seinem Onkel am Münchener Hauptbahnhof habe und zu seinen Eltern ziehen könne. Zu seinem Alkohol- und Drogenkonsum gab der Kläger an, mit 19 Jahren anfangs ein bis zwei Bier im Monat getrunken zu haben, später dann auch mal fünf bis sechs Flaschen. In den letzten fünf Monaten vor der Haft habe er regelmäßig zwei- bis dreimal pro Woche Alkohol konsumiert. Der Alkoholkonsum vor der Anlasstat sei für ihn ungewöhnlich gewesen, da er normalerweise nicht so viel Alkohol vertrage und sich dann übergeben müsse. Er habe vielleicht einmal im Monat mit Freunden gekifft und auch mal drei bis vier Monate gar nicht. Er habe nie selbst Haschisch gekauft, sondern nur bei Freunden am Joint gezogen. Er habe zweimal Ecstasy genommen. Nach dem persönlichen Eindruck bei der Untersuchung scheine der Kläger in der Haft eine deutliche Nachreifung erfahren zu haben. Im Ergebnis sei bemerkenswert, dass der Kläger im gesamten Haftverlauf und während der Exploration weder gewalttätig noch impulsiv oder sonst auffällig erschienen sei. Die in den Urteilen verzeichneten Sachverhalte stellten sich eher so dar, dass der Kläger mit „falschen Freunden“ unterwegs gewesen sei und meist auch Alkohol konsumierend in Schlägereien zwischen verschiedenen Jugendlichengruppen geraten sei, sich selbst jedoch nur marginal beteiligt habe. Eine Abhängigkeitserkrankung liege nicht vor. Obwohl seine Angaben zu den bisherigen Straftaten verharmlosender Natur seien, erschienen die Schilderungen authentisch. Der Kläger habe die Haftzeit genutzt, sich mit dem seinem bisherigen Leben, dem Alkoholkonsum und den Straftaten auseinanderzusetzen. In der Exploration sei deutlich geworden, dass der Kläger von der Teilnahme an den angebotenen Gruppenstunden habe profitieren können. Der LSI-R verweise auf eine unterdurchschnittliche Rückfallgefahr von 20 bis 30% für eine erneute Haftstrafe innerhalb von zwei Jahren nach Haftentlassung. Der Kläger könne zwischenzeitlich einen Arbeitsplatz verzeichnen, da sein Onkel ihm bereits eine Vollzeitstelle als Friseur angeboten habe. Er verfüge zudem über einen geordneten sozialen Empfangsraum, da er die Haft genutzt habe, sich mit seinen Eltern auszusprechen. Es sei derzeit mit ausreichender Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass die Gefährlichkeit des Probanden unter den Auflagen der Arbeitsaufnahme beim Onkel und der Wohnsitznahme bei seiner Familie nicht weiter fortbestehe.
24
Die Strafvollstreckungskammer beim Amtsgericht Nördlingen beschloss am 1. April 2019, dass die Vollstreckung des Strafrestes aus dem Urteil vom 19. Dezember 2016 ab Rechtskraft des Beschlusses zur Bewährung ausgesetzt werde (VH 159 ff.). Die Bewährungszeit dauere vier Jahre. Der Kläger wurde unter anderem unter Bezug auf die Vorschläge der Gutachterin verpflichtet, Wohnsitz bei seinen Eltern zu nehmen, unverzüglich die Arbeitsstelle im Friseurbetrieb seines Onkels anzutreten und jeden Wohnungs- und Arbeitsplatzwechsel nur mit Zustimmung der Bewährungshilfe vorzunehmen und binnen einer Woche dem Gericht unaufgefordert schriftlich mitzuteilen. Weiter solle der Kläger regelmäßig seine Alkohol- und Drogenabstinenz nachweisen.
25
Der Kläger wurde am 2. April 2019 aus der Haft entlassen (Akte des Landratsamts … (im Folgenden: GAP) 286).
26
Die Beklagte wies die Strafvollstreckungskammer am Amtsgericht Nördlingen mit Schreiben vom 10. April 2019 (GAP 964) darauf hin, dass der Kläger mangels Aufenthaltstitels vollziehbar ausreisepflichtig sei und in einer Gemeinschaftsunterkunft Wohnsitz nehmen müsse. Eine Erwerbstätigkeit des Klägers sei nicht gestattet. Der Beschluss vom 1. April 2019 widerspreche daher den ausländerrechtlichen Bestimmungen.
27
Die Beklagte legte dem Gericht mit Schriftsatz vom 25. April 2019 eine Ergänzung der Behördenakte vor. Aus Ermittlungen der Beklagten ergibt sich ausweislich dieser Akte, dass ein Bruder des Klägers ebenfalls mehrfach über Jahre hinweg straffällig wurde (u.a. Diebstahl, Leistungserschleichung, Verstoß gegen BtMG - Cannabis, Körperverletzung, falsche uneidliche Aussage) und vom 17. Juli 2018 bis zum 15. März 2019 inhaftiert war. Im Beschluss des Jugendvollstreckungsgerichts Bamberg vom 12. März 2019 wurde dem Bruder des Klägers aufgegeben, ab dem 15. März 2019 bei seinen Eltern Wohnsitz zu nehmen.
28
Die Strafvollstreckungskammer am Amtsgericht Nördlingen änderte den Beschluss vom 1. April 2019 mit Beschluss vom 26. April 2019 (VH 175) dahingehend ab, dass der Kläger Wohnsitz am zugewiesenen Wohnort nehmen müsse und die Weisungen bezüglich der Arbeitsaufnahme aufgehoben werden.
29
Der Kläger stellte am 27. Juni 2019 beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge einen Asylantrag (GAP 329). Die Regierung von Oberbayern wies dem Kläger mit Bescheid vom 10. Juli 2019 als Wohnsitz eine Gemeinschaftsunterkunft im Landkreis … … … …*).
30
Mit Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 22. August 2019 wurde der Asylantrag sowie der Antrag auf Gewährung von internationalem Schutz abgelehnt und festgestellt, dass keine Abschiebungsverbote vorliegen und die Abschiebung in den Irak angedroht (GAP 115 ff.). Der Bescheid wurde nach Einstellung des vom Kläger angestrengten Klageverfahrens am 3. Januar 2020 bestandskräftig (GAP 78).
31
Nach einer Telefonnotiz der Beklagten erklärte ein Mitarbeiter der Unterkunftsverwaltung der Gemeinschaftsunterkunft am 14. November 2019 (GAP 88), dass der Kläger seit mindestens vier Wochen nicht mehr dort wohne und vermutlich bei seiner Familie in München sei.
32
Mit Schriftsatz vom 3. September 2019 trug die Beklagte vor, dass die Klage aktuell aufgrund einer fehlenden ladungsfähigen Anschrift nicht zulässig sei. Der Kläger halte sich - trotz seiner Verpflichtung in der Gemeinschaftsunterkunft zu wohnen - seit mindestens vier Wochen dort nicht mehr auf. Ob der Kläger tatsächlich bei seiner Familie oder bei Dritten lebe, sei unklar. Der Kläger verstoße damit gegen seine Meldepflicht sowie gegen die Weisung im Beschluss vom 1. April 2019. Die Klage sei auch unbegründet. Eine konkrete Wiederholungsgefahr sei auf Grundlage der Spezialprävention gegeben. Die Gutachterin habe ihre positive Prognose ausdrücklich von der Erfüllung bestimmter Voraussetzungen der Entlasssituation abhängig gemacht (Wohnsitznahme bei den Eltern, Arbeitsaufnahme bei einem Verwandten). Die im Bewährungsbeschluss diesbezüglich enthaltenen Voraussetzungen hätten jedoch nie den ausländerrechtlichen Vorschriften entsprochen. Die Voraussetzungen für die Prognose der Gutachterin seien daher entfallen bzw. hätten nie bestanden. Der Kläger sei derzeit nicht arbeitstätig. Zudem habe er gegenüber der Gutachterin angegeben, dass er eine Arbeitsstelle bei seinem Onkel am Hauptbahnhof in Aussicht habe, er habe jedoch nur einen Arbeitsvertrag von einem anderen Salon in Pasing vorgelegt. Weiter sei fraglich, ob das Verhältnis des Klägers zu seinen Eltern so gut sei und die Eltern damit als derart stabilisierend angesehen werden können, wie von der Gutachterin eingeschätzt. Ob die familiären Rahmenbedingungen die Bewährung des Klägers förderten, sei zweifelhaft. Hierfür werde auf die Straftaten des Bruders des Klägers hingewiesen, der zuletzt auch inhaftiert gewesen sei und dem nach seiner Bewährungsentlassung auch Weisungen bezüglich Drogen erteilt worden seien. Auch die Schwester sei bereits wegen Körperverletzung in Erscheinung getreten; von einer Verfolgung sei nach § 45 Abs. 2 JGG abgesehen worden. Der Kläger habe nach den Ausführungen des Klägerbevollmächtigten inzwischen Schulden. Der Kläger befände sich nicht - wie die Gutachterin meinte - im „Erstvollzug“, sondern habe bereits zweimal Jugendarrest verbüßt. Auch generalpräventiv sei die Ausweisung begründet. Der Kläger übererfülle zwei besonders schwerwiegende Ausweisungsinteressen. Die Anwendung von § 21 StGB im Strafurteil schließe die Annahme einer möglichen generalpräventiven Wirkung für andere Ausländer, die wie der Antragsteller ersichtlich im Zusammenhang mit Alkoholmissbrauch Straftaten begehen, nicht aus. Eine Ausweisung aus generalpräventiven Gründen sei auch verhältnismäßig.
33
Nach Ermittlungen der Ausländerbehörde und des Gerichts hielt sich der Kläger am 30. September 2019 entgegen den Regelungen der Grünanlagensatzung nach Einbruch der Dunkelheit auf einem Spielplatz in … auf. Der Kläger erklärte in der mündlichen Verhandlung hierzu, dass ein Freund von ihm geheiratet habe und er abends auf dem Spielplatz mit diesem eine Zigarette geraucht habe. Sie seien wohl etwas zu laut gewesen, so dass Anwohner die Polizei gerufen hätten. Er wurde wegen dieses Verstoßes von der Landeshauptstadt München nach §§ 56 ff. OWiG verwarnt.
34
Der Kläger wurde durch das Landratsamt … wegen einer Ordnungswidrigkeit nach § 73 IfSG angezeigt, weil er sich entgegen den geltenden Ausgangsbeschränkungen vom 21. März 2020 bis zum 13. April 2020 nicht in der Gemeinschaftsunterkunft aufgehalten hat. Der Kläger gab in der mündlichen Verhandlung hierzu an, dass er mit zwei bzw. drei Mitbewohnern in einem Zimmer wohnen musste, die sich nicht an die Ausgangsbeschränkungen gehalten hätten und habe sich daher zu seinem eigenen Schutz zu seiner Familie begeben.
35
Am 17. April 2020 wurde der Kläger von der Polizei mit vier weiteren Personen am Karlsfelder See kontrolliert. Der Kläger und seine Freunde wollten dort entgegen der geltenden infektionsschutzrechtlichen Maßnahmen grillen. Es handelte sich bei einem der Anwesenden um den im Strafurteil vom 15. Juni 2015 mitabgeurteilten Mittäter an einer gefährlichen Körperverletzung zu Lasten eines unbekannten Kindes und eines Passanten. Die zuständige Bußgeldstelle am Landratsamt Dachau konnte nach telefonischer Auskunft einen Bußgeldbescheid bisher nicht erlassen, da die Adresse des Klägers in den Polizeiunterlagen als unbekannt angegeben worden war.
36
Die Ausländerbehörde … beschränkte mit Bescheid vom 28. April 2020 das Gebiet des Aufenthalts des Klägers räumlich auf den Landkreis … und drohte ein Zwangsgeld an (GAP 17 ff.).
37
Mit E-Mail vom 3. Juni 2020 teilte die Ausländerbehörde … der Beklagten mit, dass der Kläger sich weiterhin nur sporadisch in der ihm zugewiesenen Gemeinschaftsunterkunft aufhalte (GAP 14).
38
Die Strafakte zum Strafverfahren wegen besonders schweren Raubes (20 KLs 455 Js 157432/16) sowie das Vollstreckungsheft wurden vom Gericht am 18. Mai 2020 angefordert und beigezogen.
39
Der Bewährungshelfer des Klägers erstattete am 25. Juni 2020 einen Bericht. Der Kläger spreche gut Deutsch und habe die Friseurausbildung erfolgreich abgeschlossen. Er könne nach eigenen Angaben sofort eine Arbeit in München aufnehmen. Der Kläger habe regen Kontakt zu seiner Familie in … und halte sich „nach Absprache mit der Ausländerbehörde …“ regelmäßig dort auf. Der Kläger leide unter den Umständen der Unterbringung und der Perspektivlosigkeit und würde gerne in der Nähe seiner Familie leben. Von der Haftzeit zeige sich der Kläger nachhaltig beeindruckt. Er habe die Zeit in Haft und die ihm zur Verfügung stehenden Angebote optimal für sich genutzt. Die begangenen Straftaten bereue der Kläger glaubhaft. Er habe sich mit den begangenen Straftaten auseinandergesetzt. Die durchgeführten Alkohol- und Drogenscreenings seien ohne Befund. Vom früheren, negativ besetzten Umfeld habe sich der Kläger distanziert. Die Rückfallwahrscheinlichkeit in erneute strafbare Handlungen werde seitens der Bewährungshilfe als gering eingeschätzt.
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Der Kläger hielt sich nach telefonischer Nachfrage des Gerichts im Landratsamt … in den Monaten Mai und Juni 2020 in folgenden Zeiträumen nicht in der Gemeinschaftsunterkunft auf: 1. bis 9. Mai; 18. Mai, 30. Mai und 1. Juni, 4. bis 15. Juni und am 26. Juni. Eine Absprache oder Anträge für ausnahmsweise Gestattung von Aufenthalten in München liege nicht vor.
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Das Gericht hat am 1. Juli 2020 mündlich verhandelt. Auf die Niederschrift der mündlichen Verhandlung wird im Übrigen Bezug genommen.
42
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtssowie die vorgelegten Behördenakten und die beigezogenen Strafakten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
43
Die Klage hat keinen Erfolg, weil sie unbegründet ist.
44
Der Bescheid der Beklagten ist zum maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts (vgl. BVerwG, U. v. 15.1.2013 - 1 C 10.12 - juris Rn. 12) rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
45
Das Gericht verweist auf die zutreffenden Ausführungen im ausführlich begründeten Bescheid und sieht insoweit von der Darstellung eigener Entscheidungsgründe ab (§ 117 Abs. 5 VwGO).
46
Darüber hinaus gilt folgendes:
Die Beklagte ist trotz des Zuweisungsbescheids der Regierung von Oberbayern vom 10. Juli 2019 nach § 78 Abs. 1 Nr. 1 VwGO weiterhin passivlegitimiert. Das nach der Zuweisung ab dem 11. Juli 2019 für den Kläger ausländerrechtlich örtlich zuständige Landratsamt … stimmte der Verfahrensdurchführung durch die Beklagte mit Schreiben an das Gericht vom 22. Juni 2020 zu, Art. 3 Abs. 3 BayVwVfG. Die Fortführung des Verfahrens durch die Beklagte dient auch der einfachen und zweckmäßigen Durchführung des Klageverfahrens. Entgegenstehende Interessen der Beteiligten sind nicht ersichtlich.
47
Der streitgegenständliche Bescheid ist rechtmäßig: Das Gericht hat die behördliche Entscheidung der Beklagten unter Berücksichtigung des Sach- und Streitstands zum Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts am 1. Juli 2020 zu überprüfen.
48
Ein Ausländer, dessen Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährdet, wird ausgewiesen, wenn die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausweisung mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt (§ 53 Abs. 1 AufenthG). Diese Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt.
49
Die Ausweisung des Klägers ist unter Berücksichtigung des dargelegten Maßstabs rechtmäßig, weil der Aufenthalt des Klägers die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährdet (1.) und das öffentliche Interesse an der Ausweisung das Interesse des Klägers an einem weiteren Verbleib überwiegt (2.).
50
1. Der Aufenthalt des Klägers gefährdet die öffentliche Sicherheit und Ordnung, weil von ihm nach wie vor die Gefahr der Begehung schwerer Straftaten ausgeht.
51
Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts haben Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte bei spezialpräventiven Ausweisungsentscheidungen und deren gerichtlicher Überprüfung eine eigenständige Prognose hinsichtlich der Wiederholungsgefahr zu treffen, ohne dass sie an die Feststellungen der Strafgerichte rechtlich gebunden sind. Bei der Prognose, ob eine Wiederholung vergleichbarer Straftaten mit hinreichender Wahrscheinlichkeit droht, sind die besonderen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Tat, die Umstände ihrer Begehung, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts sowie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt. Für die Feststellung der entscheidungserheblichen Wiederholungsgefahr gilt ein differenzierender Wahrscheinlichkeitsmaßstab, wonach an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts umso geringere Anforderungen zu stellen sind, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist. Der Rang des bedrohten Rechtsguts bestimmt dabei die mögliche Schadenshöhe, wobei jedoch keine zu geringen Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts gestellt werden dürfen (BVerwG, U.v. 4.10.2012 - 1 C 13.11 - juris Rn. 18; BVerwG, U. v. 10.7.2012 - 1 C 19.11 - juris Rn. 16).
52
1.1. Unter Berücksichtigung dieser Vorgaben steht zur Überzeugung des Gerichts (§ 108 Abs. 1 VwGO) fest, dass vom Kläger weiterhin eine Wiederholungsgefahr ausgeht, so dass eine Ausweisung aus spezialpräventiven Gründen gerechtfertigt ist.
53
1.1.1. Nach dem persönlichen Eindruck, den das Gericht in der mündlichen Verhandlung am 1. Juli 2020 gewonnen hat, liegt beim Kläger nach wie vor keine Einsicht in seine Taten vor. Hierfür spricht zum einen seine Schilderung der Anlasstat für die Ausweisung. Der Kläger erklärte hierbei, dass es in der S-Bahn zu Streit gekommen sei und der Mittäter im Verlauf dieses Streits ohne Kenntnis des Klägers ein Handy und ein Kabel mit Powerbank weggenommen habe. Er selbst habe nur leicht geschubst. Erst auf eingehende und nachdrückliche Befragung des Klägerbevollmächtigten erzählte der Kläger stockend, dass er die Flasche nur weggenommen habe, um sich selbst zu schützen und er niemanden damit habe schlagen wollen. Diese nur vage und oberflächliche Schilderung des Tathergangs steht in erheblichen Widerspruch zu den Videoaufnahmen der Tat, die den Geschehensablauf nachweisen (vgl. Schilderungen im Strafurteil vom 19. Dezember 2016, Bl. I 330 ff., 338 ff. und 352), und relativiert den Tatbeitrag des Klägers. Auch die Schilderung der Anlasstat im forensisch-psychologischen Gutachten vom 7. März 2019 (S. 34 f.) zeigt starke Relativierungen des Geschehens, indem der Kläger keinerlei eigenen Tatbeitrag schilderte, sondern lediglich erklärte, was der Mittäter getan habe und dass er sich von den Geschädigten bedroht gefühlt habe. Nach den Feststellungen im Strafurteil ist den Videoaufzeichnungen der Tat und den Zeugenaussagen zu entnehmen, dass der Kläger und der Mittäter ohne Anlass aggressiv auf die Geschädigten eindrangen. Ein Verhalten der Geschädigten, aus dem sich eine subjektive Bedrohungssituation für den Kläger hätte ergeben können, ist nach den Angaben im Strafurteil nicht ersichtlich. Dass gegen die Geschädigten inzwischen Ermittlungsverfahren wegen Straftaten anhängig sind, ist für die Bewertung der der Ausweisung zu Grunde liegenden Tat irrelevant, insbesondere da der Kläger, der Mittäter und die Geschädigten sich vor der Tat nicht kannten.
54
Die Gutachterin vom 7. März 2019 befragte den Kläger weiter zu den Vorstrafen (S. 35 f. d. Gutachtens), wobei hier auch auffällt, dass die Schilderungen des Klägers sich nicht mit den Feststellungen des Sachverhalts in den jeweiligen Urteilen decken und von Relativierungen oder Verschweigen eigener Tatbeiträge durchzogen sind. Trotz des erst neun Monate zuvor verhängten Freizeitarrestes und der ausländerrechtlichen Verwarnung vom 19. April 2016, mit dem ihm die Folgen weiterer Straffälligkeit aufgezeigt wurden, beging der Kläger bereits am 30. April 2016 die Anlasstraftat.
55
Des Weiteren ist festzustellen, dass der Kläger vor der Anlasstat, die - entgegen der immer noch aufrecht erhaltenen Aussagen des Klägers - ein nicht unerhebliches Ausmaß an Gewalt beinhaltete, wegen gefährlicher Körperverletzung bereits dreimal vom Jugendgericht verurteilt wurde und somit aus früheren Verurteilungen keine Lehren gezogen hat. Das jeweilige Vorgehen bei der Begehung dieser Gewalttaten lässt auch auf eine erhöhte Gefährlichkeit des Klägers schließen, da alle drei vorhergehenden Straftaten durch Situationen gekennzeichnet waren, in denen der Kläger mit den Mittätern in Überzahl andere Menschen mit Faustschlägen und Fußtritten traktierte.
56
Aus dem Eindruck in der mündlichen Verhandlung und dem Aktenstudium ist für das Gericht daher erkennbar, dass der Kläger seine Taten nach wie vor nicht ausreichend reflektiert hat und seinen Tatbeitrag stark relativiert.
57
1.1.2. Unabhängig davon demonstriert der Kläger auch dadurch, dass Ermittlungsverfahren aus verschiedenen Strafdeliktsbereichen gegen ihn anhängig waren (u.a. auch Diebstahl, BtM), dass er allgemein die Rechtsordnung und die durch diese geschützten Rechtsgüter geringachtet.
58
Auch gesetzliche bzw. behördliche Anordnungen - wie beispielsweise die aufenthaltsrechtliche Regelung seiner Wohnsitzverpflichtung in einer Gemeinschaftsunterkunft in …, die Grünanlagensatzung für den Bereich München sowie die infektionsschutzrechtlichen Anordnungen während der Corona-Pandemie - haben dem Kläger gegenüber keine derartige Autorität entfaltet, dass er sich daran gehalten hätte. Der Kläger legt nach Angaben des Klägerbevollmächtigten trotz der im April 2020 ergangenen Aufenthaltsbeschränkung auf den Landkreis … laufend Arbeitsverträge für Arbeitsstellen in München vor und ist schon seit Herbst 2019, als er wegen mehr als vierzigtägiger Abwesenheit in der Unterkunft als untergetaucht gemeldet war, immer wieder und mehrtägig bzw. mehrwöchentlich aus der ihm zugewiesenen Gemeinschaftsunterkunft abgängig. Der Kläger hält sich ohne gültigen Reisepass und ohne Aufenthaltserlaubnis weiterhin in der Bundesrepublik Deutschland auf. Daraus ergibt sich, dass der Kläger die Regelungen der Bundesrepublik Deutschland weiterhin nicht ernst nimmt.
59
1.1.3. Aus dem Vergleich der vom Gericht angeforderten Akten und Berichte ergibt sich, dass der Kläger selektiv mit relevanten Informationen an verschiedene Beteiligte umgeht. So ist u.a. festzuhalten, dass der Kläger dem Bewährungshelfer noch bis zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung erklärte, sich in Absprache mit der Ausländerbehörde … regelmäßig bei seinen Eltern aufzuhalten. Eine solche Absprache ist nicht nur inexistent; gegen den Kläger wurde bereits mit Bescheid vom 28. April 2020 eine Aufenthaltsbeschränkung für den Landkreis … gegen Zwangsgeldandrohung erlassen.
60
Der Kläger erklärte bezüglich seines Alkohol- und Drogenkonsums gegenüber der Justizvollzugsanstalt, dass er Alkohol die letzten sechs Monate vor seiner Haft nahezu jeden Tag getrunken und Cannabis vom 19. Lebensjahr bis zwei Jahre vor Haftbeginn fast täglich konsumiert habe (VH S. 63); mutmaßlich um die Chance der Aufnahme in die entsprechenden Alkoholtherapiegruppen zu erhöhen. Gegenüber der Gutachterin und dem Gericht erklärte der Kläger hingegen, dass er vor der Inhaftierung zwei- bis dreimal die Woche Alkohol getrunken habe, manchmal etwas mehr, was aber am Einfluss der Freunde gelegen habe, zu denen er inzwischen keinen Kontakt mehr habe. Er habe mit 20/21 Jahren das erste Mal Haschisch probiert und dann vielleicht insgesamt einmal im Monat gekifft. Er habe nie selbst Haschisch gekauft, sondern lediglich bei Freunden am Joint gezogen (vgl. VH S. 131 f.; Niederschrift der mündlichen Verhandlung). Dem widerspricht das Geständnis des Klägers im Ermittlungsverfahren (Az. 1123 Cs 361 Js 218612/16) wegen Vergehens nach § 29 BtMG, laut dem der Kläger mit Freunden im Park „Gras“ für fünf Euro gekauft habe.
61
Diese selektive Informationsverteilung an unterschiedliche Personen zieht sich durch weitere Lebensbereich des Klägers (Freundinnen bzw. Verlobte des Klägers/Arbeitsmöglichkeit bei Onkel am Hauptbahnhof/Entlassadresse der Eltern/ etc.). Nach dem Eindruck, den das Gericht aufgrund der Aktenlage und der mündlichen Verhandlung vom Kläger gewonnen hat, versucht der Kläger weiterhin - auch seit seiner Haftentlassung - sich unter selektiven Informationsweitergaben möglichst Vorteile zu verschaffen.
62
Ein integerer und zuverlässiger Eindruck des Klägers, insbesondere in Hinsicht auf ein zukünftig gesetzeskonformes Leben, ist darin nicht zu erkennen.
63
1.2. Das Gericht folgt der Gefahrprognose des forensisch-psychologischen Gutachtens vom 7. März 2019 sowie der Beschlüsse der zuständigen Auswärtigen Strafvollstreckungskammer des Landgerichts vom 1. April 2019 und 26. April 2019 zur Aussetzung der Vollstreckung des Strafrests zur Bewährung nicht.
64
Das Gericht ist bei der Gefahrprognose nicht an die vom Strafvollstreckungsgericht bei dessen Entscheidung über die Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung gefundene Einschätzung gebunden. Zwar sind die Entscheidungen der Strafgerichte nach § 57 StGB von tatsächlichem Gewicht und stellen bei der Prognose ein wesentliches Indiz dar. Eine Bindungswirkung geht von den strafvollstreckungsrechtlichen Entscheidungen jedoch nicht aus. Die Prognose, ob der Ausländer eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland darstellt, bestimmt sich nämlich nicht nach strafrechtlichen Gesichtspunkten, auch nicht nach dem Gedanken der Resozialisierung. Vielmehr haben die zuständigen Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte eine eigenständige Prognose über die Wiederholungsgefahr zu treffen. Sie können deshalb sowohl aufgrund einer anderen Tatsachengrundlage als auch aufgrund einer anderen Würdigung zu einer abweichenden Prognoseentscheidung gelangen (vgl. BVerwG, U.v. 13.12.2012 - 1 C 20.11 - juris). Dies kann gerade bei einer Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung nach § 57 Abs. 1 StGB deshalb in Betracht kommen, weil hier schon wegen der maßgeblichen Bedeutung der Stellungnahme der Justizvollzugsanstalt (§ 454 Abs. 1 Satz 2 und 4 StPO) naturgemäß eher Resozialisierungsgesichtspunkte im Vordergrund stehen. Zudem geht es bei der Aussetzung der Reststrafe zur Bewährung um die Frage, ob die vorzeitige Entlassung unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit verantwortet werden kann (§ 57 Abs. 1 Nr. 2 StGB), während die ausländerrechtliche Beurteilung eine im Regelfall an strengeren Kriterien orientierte und darüber hinaus längerfristige Gefahrenprognose erfordert.
65
Sind die Verwaltungsgerichte demzufolge an die strafrichterliche Prognoseentscheidung nicht gebunden, so gilt dies auch hinsichtlich der hier in Rede stehenden prognostischen Einschätzungen, die in dem von der zuständigen Strafvollstreckungskammer in Auftrag gegebenen Gutachten zum Ausdruck kommen. Dem zur Vorbereitung einer Entscheidung nach § 57 StGB eingeholten Gutachten kommt demgemäß allenfalls die Bedeutung einer Entscheidungshilfe für die vom Strafrichter zu treffende Sozialprognose zu (vgl. OVG NRW, B.v. 17.7.2008 - 18 A 1145/07 - juris), was die Annahme einer weitergehenden Bindungswirkung für die vom Verwaltungsgericht unabhängig und eigenständig zu treffende Prognoseentscheidung bereits vom Ansatz her ausschließt. Vielmehr haben die zuständigen Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte eine eigenständige Prognose über die Wiederholungsgefahr zu treffen. Sie können deshalb sowohl aufgrund einer anderen Tatsachengrundlage als auch aufgrund einer anderen Würdigung zu einer abweichenden Prognoseentscheidung gelangen (OVG Saarlouis, B.v. 1.7.2019 - 2 B 30/19 - juris Rn. 22). Erforderlich ist aber eine substantiierte Begründung, wenn von der strafgerichtlichen Entscheidung abgewichen wird (BayVGH, B.v. 14.1.2019 - 10 ZB 18.1413 - juris Rn. 10).
66
Die Voraussetzungen, unter denen das Gutachten vom 7. März 2019 eine ausreichende Wahrscheinlichkeit, dass die Gefährlichkeit des Klägers nicht mehr weiterbesteht, annahm, sind nach Einschätzung des Gerichts nicht bzw. nicht mehr gegeben.
67
Der Kläger sollte als Auflage sofort nach der Haftentlassung Wohnsitz in der von den Eltern bewohnten Wohnung nehmen und jeden Wohnsitzwechsel mitteilen. Weiter sollte der Kläger sofort nach seiner Haftentlassung schnellstmöglich einen Arbeitsplatz im Friseursalon seines Onkels antreten, um einen geregelten Tagesablauf zu haben. Dem liegt zum einen zu Grunde, dass die Gutachterin von einem geordneten sozialen Empfangsraum bei Rückkehr zur Familie und zum anderen von der bestehenden Minimierung der klägerischen Risikofaktoren für weitere Straftaten (Vorstrafen, schädlicher Gebrauch von Alkohol, bestehende Schulden, ungeklärte ausländerrechtliche Situation, „falscher“ Freundeskreis) ausging.
68
Ein geordneter sozialer Empfangsraum liegt jedoch nach Überzeugung des Gerichts nicht vor: Zum einen hat der Wohnsitz bei den Eltern in den Jahren von 2012 bis 2016 den Kläger nicht von der Begehung von vier geahndeten Straftaten und der Veranlassung einer Vielzahl polizeilicher Ermittlungsverfahren (vgl. Bl. 425 f.) innerhalb von vier Jahren abgehalten. Der Bruder des Klägers, der eine vergleichbare Anzahl an verurteilten Straftaten bzw. eingeleiteten Ermittlungsverfahren aufweist, zog erst am 15. März 2019 unter Aussetzung des Rests einer Jugendstrafe von einem Jahr und sechs Monate zur Bewährung zu seinen Eltern zurück. Auch die Schwester des Klägers war bereits strafrechtlich auffällig.
69
Die weiterhin im Gutachten als notwendig erachtete familiäre/soziale Kontrollinstanz durch eine geregelte Arbeit im Rahmen des Friseursalons des Onkels des Klägers wurde vom Kläger - unabhängig vom ausländerrechtlichen Verbot der Erwerbstätigkeit - nicht umgesetzt:
70
Der Kläger gab gegenüber der Gutachterin an, dass er eine Anstellung als Friseur im Friseursalon seines Onkels am Hauptbahnhof sofort nach der Entlassung aufnehmen könne. Obwohl der Kläger einige Arbeitsverträge im Lauf der Zeit bei der Beklagten und beim Landratsamt … vorlegte, ist ein Arbeitsvertrag mit dem Friseursalon seines Onkels nicht darunter. Ob der Onkel des Klägers nicht existiert, der Onkel keinen Friseursalon besitzt oder den Kläger nicht als Arbeitnehmer aufnehmen möchte bzw. kann, kann vorliegend dahinstehen: relevant ist, dass der Kläger der Gutachterin vorspiegelte, im familiären Rahmen eines Familienbetriebs unter Aufsicht seines Onkels einer geregelten Tätigkeit nachgehen zu können. Weiter ist jedoch auch festzuhalten, dass der Kläger während seiner Ausbildungszeit vom 1. Dezember 2014 bis zum 30. April 2016 insgesamt fünf polizeiliche Ermittlungsverfahren verursachte, von denen eines die schwerwiegende Anlasstat darstellte und eines lediglich wegen Geringfügigkeit im Vergleich zur Anlasstat eingestellt wurde (§ 154 Abs. 2 StPO). Die Verhinderung von weiteren Straftaten des Klägers ist daher für das Gericht selbst bei einer Arbeitsaufnahme in seinem Ausbildungsberuf nicht gesichert.
71
Nach den Darstellungen im Gutachten vom 7. März 2019, die größtenteils auf der Eigendarstellung des Klägers während der Begutachtung bzw. vor den Strafgerichten beruhen, handele es sich beim Kläger um einen jungen Erwachsenen, der oft mit „falschen Freunden“ unterwegs gewesen sei und meist Alkohol konsumierend in Schlägereien zwischen verschiedenen jugendlichen Gruppierungen geraten sei, „sich selbst aber nur marginal beteiligt habe““ (VH 152). Der Kläger gab gegenüber der Gutachterin (VH 126, 132, 136 ff.), dem Bewährungshelfer und dem Verwaltungsgericht an, sich von seinem ehemaligen Freundeskreis, mit dem er immer wieder strafrechtlich in Erscheinung getreten ist, distanziert zu haben und diese Freunde nicht mehr zu treffen. Diese beabsichtigte Distanzierung lag auch der Gefährdungsprognose der Gutachterin zu Grunde.
72
Diese Voraussetzung des Gutachtens liegt nach Ermittlungen des Gerichts jedoch nicht vor: Dem widerspricht die angezeigte Ordnungswidrigkeit des Klägers vom 17. April 2020. Aus dem Abgleich der Namen der Mitbeschuldigten der Ordnungswidrigkeit vom 17. April 2020 mit der Akte des Klägers ergibt sich, dass dieser am 17. April 2020 mit einem Freund am See grillen wollte, der zusammen mit dem Kläger eine gefährliche Körperverletzung beging (vgl. Strafurteil vom 15. Juni 2015). Auf Vorhalt des Gerichts gab der Kläger zu, dass er mit diesem, und noch einem oder zwei anderen Freunden aus dem alten Freundeskreis Kontakt habe.
73
Das Gutachten zeigt weiter Widersprüche auf, indem es zwar zum einen feststellt, dass der Kläger weiterhin seine Straftaten verharmlost und bagatellisiert (VH 150, 152), andererseits allerdings feststellt, dass der Kläger sich mit seinen Straftaten auseinandergesetzt habe und die Verantwortung für seine Taten übernehme (VH 140, 153). Das Gericht sieht bis hin zur mündlichen Verhandlung eine erhebliche Tendenz des Klägers, die Verantwortung für Straftaten auf andere zu projizieren („falsche Freunde“, Alkohol, er sei eigentlich schüchtern, etc.) und die Straftaten durchgängig unter Unterschlagung seines Tatbeitrags zu verharmlosen (s.o.).
74
1.3. Auch die Teilnahme des Klägers an den Gruppen „Alkohol und Gewalt“ sowie „Anonyme Alkoholiker“ der Justizvollzugsanstalt beseitigt nicht die Wiederholungsgefahr. Der Kläger war ausweislich der Akten im Rahmen der verurteilten Körperverletzungsdelikte nur bei zwei von vier Taten alkoholisiert. Eine bestehende Alkoholabhängigkeit, die Hauptursache für die Straftaten gewesen sein könnte, liegt nicht vor, so dass die Teilnahme an diesen Gruppenangeboten keine durchschlagende Sicherung vor einem Rückfall bewirken kann, insbesondere da der Kläger sich weiterhin in seinem alten Freundeskreis bewegt.
75
1.4. Vor dem dargestellten Hintergrund sieht das Gericht weiterhin eine vom Kläger ausgehende Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, insbesondere durch die Gefahr der Begehung von Straftaten gegen die körperliche Unversehrtheit. Unter den oben genannten Umständen kann die von der Gutachterin ermittelte (unterdurchschnittliche) Rückfallwahrscheinlichkeit des Klägers von (lediglich) 20 bis 30% für eine erneute Haftstrafe innerhalb von zwei Jahren nach Haftentlassung (VH 153 f.) nicht hingenommen werden, falls sie angesichts der teilweise falschen Tatsachengrundlage überhaupt noch aufrechterhalten werden könnte. Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Kläger seit seiner Haftentlassung vor 15 Monaten bereits wieder Anlass zu vier polizeilichen Ermittlungsverfahren (eine ausländerrechtliche Straftat und drei Ordnungswidrigkeiten) gab und sich nach eigenen Angaben in der mündlichen Verhandlung weiterhin mit Teilen seines alten Freundeskreises trifft.
76
1.5. Aus den Beschlüssen der zuständigen Auswärtigen Strafvollstreckungskammer vom 1. April 2019 und 26. April 2019, mit denen die Vollstreckung des Strafrests des Klägers zur Bewährung ausgesetzt wurde, ergibt sich keine Änderung der ausländerrechtlichen Gefahrprognose für den Kläger. Die Beschlüsse basieren ausweislich deren Gründe auf dem forensisch-psychologischen Gutachten vom 7. März 2019 und den Angaben aus den Berichten der Justizvollzugsanstalt …, deren Einschätzungen das Gericht aus oben benannten Gründen nicht folgt. Darüberhinausgehende Gründe sind aus den Beschlüssen nicht ersichtlich.
77
2. Die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise des Klägers mit den Interessen an seinem weiteren Verbleib im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an seiner Ausreise überwiegt.
78
2.1. Nach § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG wiegt das Ausweisungsinteresse im Sinne von § 53 Abs. 1 AufenthG u.a. dann besonders schwer, wenn der Ausländer wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens zwei Jahren verurteilt worden ist, was vorliegend der Fall ist.
79
Darüber hinaus wiegt das Ausweisungsinteresse vorliegend auch deshalb gemäß § 54 Abs. 1 Nr. 1a AufenthG besonders schwer, weil der Kläger wegen einer vorsätzlichen Straftat gegen die körperliche Unversehrtheit rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt wurde.
80
Weiter liegt auch ein schwerwiegendes Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 2 Nr. 8a AufenthG vor, da der Kläger im Rahmen seines Antrags auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis vom 20. Mai 2012, eingegangen bei der Beklagten am 12. Juli 2012, ankreuzte, dass er nicht bereits strafrechtlich in Erscheinung getreten sei und gegen ihn nicht derzeit wegen Verdachts auf eine Straftat ermittelt werde. Dies stellten falsche Angaben zur Erlangung eines deutschen Aufenthaltstitels nach § 54 Abs. 2 Nr. 8a AufenthG dar, da die Staatsanwaltschaft München I bereits mit Schreiben vom 2. April 2012 Anklage gegen den Kläger und einen Mittäter wegen gefährlicher Körperverletzung erhob. Dem Kläger war zum Zeitpunkt des 20. Mai 2012 auch bewusst, dass strafrechtliche Ermittlungen gegen ihn laufen, da er nach der Anklageschrift vom 2. April 2012 am 21. Februar 2012 und 15. März 2012 bei der Polizei Einlassungen zu den angeklagten Straftaten machte.
81
Die notwendige Belehrung der Strafbarkeit und der möglichen ausländerrechtlichen Konsequenzen von Falschangaben im Rahmen eines Antrags auf Erteilung bzw. Verlängerung eines Aufenthaltstitels war zu diesem Zeitpunkt gegeben (I 38).
82
Die vom Kläger verwirklichten drei Ordnungswidrigkeiten und ausländerrechtliche Straftat im Zeitraum von lediglich gut einem Jahr nach der Haftentlassung stellen weiter nicht nur vereinzelte Verstöße gegen Rechtsvorschriften oder gerichtliche oder behördliche Entscheidungen dar, die nach § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG ein schwerwiegendes Ausweisungsinteresse begründen.
83
2.2. Dem steht kein normiertes Bleibeinteresse des Klägers gemäß § 55 AufenthG gegenüber. Ein Interesse des Klägers am Verbleib in Deutschland ergibt sich nach § 53 Abs. 2 AufenthG aus seinen familiären Bindungen zu seinen in Deutschland lebenden Eltern und Geschwistern sowie der entfernteren Familie. Weiter lebt der Kläger seit inzwischen elf Jahre in Deutschland, hat deutsche Sprachkenntnisse und verfügt über eine abgeschlossene Ausbildung als Friseur.
84
2.3. Bei der Abwägung gemäß § 53 Abs. 1 AufenthG überwiegt unter Berücksichtigung der in § 53 Abs. 2 AufenthG genannten Kriterien sowie aller sonstigen Umstände des Einzelfalls vorliegend das öffentliche Interesse an der Ausreise das private Bleibeinteresse des Klägers. Die Ausweisungsentscheidung erweist sich auch mit Blick auf die Anforderungen des Art. 8 EMRK und des Art. 6 GG als verhältnismäßig.
85
2.3.1. Für den weiteren Verbleib des Klägers im Bundesgebiet sprach bei dieser Abwägung, dass seine engere und weitere Familie in der Bundesrepublik Deutschland ansässig ist. Die Eltern, zwei Brüder und eine Schwester des Klägers leben ebenso wie die erweiterte Familie in Deutschland. Das Verhältnis zu diesen ist nach Angaben des Klägers gut; er gab die Adresse seiner Eltern als Entlassadresse nach seiner Inhaftierung an und besucht seine Familie häufig auch für mehrere Tage. Der Kläger ist jedoch als inzwischen 26-Jähriger nicht mehr auf die Unterstützung seiner Eltern und Geschwister angewiesen. Im Fall einer Ausweisung ist es dem Kläger nicht unzumutbar, zu seiner Familie Kontakt über Telefon, Briefe und Internet zu halten. So hielt der Kläger auch die vier Jahren seiner Untersuchungshaft und Inhaftierung Kontakt zu seiner Familie.
86
Der Kläger lebt seit dem Jahr 2009, d.h. inzwischen elf Jahren in der Bundesrepublik Deutschland. Er reiste als 14-Jähriger in Deutschland mit seiner Mutter und seinen Geschwistern ein. Die reine Aufenthaltsdauer des Klägers ist jedoch nicht alleine ausschlaggebend: Es ist auch beachtlich, inwieweit der Kläger sich während seiner Aufenthaltsdauer in Deutschland integrieren konnte. Der Kläger schaffte es nach Einschätzung des Gerichts nicht, sich in Deutschland zu integrieren. Er arbeitete nach seiner Beschulung in der Mittelschule mehrere Jahre in geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen bzw. als ungelernter Arbeiter im Rahmen eines Leiharbeitsverhältnisses. Zu Gunsten des Klägers ist zu berücksichtigen, dass er im Rahmen der Inhaftierung seine Ausbildung beendete. Der Kläger pflegt nach Aktenlage größtenteils soziale Kontakte mit Personen irakischer Staatsangehörigkeit, teilweise auch anderer ausländischer Staatsangehörigkeit.
87
2.3.2. Für das Überwiegen der Ausweisungsinteressen sprechen jedoch die Art und Schwere der vom Kläger begangenen Straftaten. Die aus spezialpräventiven Gründen für das Überwiegen des Ausweisungsinteresses sprechenden Gesichtspunkte sind gemeinsam mit den generalpräventiven Gründen so gewichtig, dass die von der Beklagten vorgenommene Entscheidung nicht zu beanstanden ist.
88
Die Beklagte hat die privaten Belange des Klägers zutreffend dargestellt und mit sehr ausführlicher Begründung, der sich das Gericht anschließt, gegen die für die Ausreise sprechenden Gründe abgewogen.
89
Aufgrund der Schwere der Straftaten insbesondere im Hinblick auf die verletzten Rechtsgüter und die hierbei gezeigte Einstellung hält das Gericht die Ausweisung für verhältnismäßig. Der Kläger beging mehrfach und ohne sich vorhergehende Verurteilungen eine Lehre sein zu lassen gefährliche Körperverletzungen. Die Gewaltstraftaten vor der Anlasstat beging der Kläger zusammen mit seinen Freunden in Überzahl gegen diverse Geschädigte, darunter auch Zufallsopfer, die zu Gunsten anderer Geschädigter helfend eingriffen. Das Gericht sieht in der Anlasstat eine massive Störung der öffentlichen Sicherheit, da der Kläger mit dem Mittäter spontan und ohne Anlass die Geschädigten aggressiv anging und trotz deren defensiven Verhaltens während des gesamten Tatvorgangs nicht von ihnen abließ. Die Geringschätzung der körperlichen Unversehrtheit und des Eigentums anderer durch den Kläger ist den Straftaten des Klägers zu entnehmen, die auch nicht alle im alkoholisierten Zustand zu Stande kamen. Das Strafgericht kam auch zur Ansicht, dass das vom Kläger verübte Unrecht gegen die körperliche Unversehrtheit Dritter mit einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten schuldangemessen geahndet werden müsse. Mithin wiegt die strafrechtliche Schuld des Klägers schwerer als für das Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG erforderlich und erheblich schwerer als für das Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 1 Nr. 1a AufenthG. Die bis in die mündliche Verhandlung gezeigte Einstellung des Klägers zu den Straftaten zeugt von einer Externalisierung der Schuld an den Verletzungen des sehr hoch im Rang stehenden Rechtsgut der körperlichen Unversehrtheit und einer Bagatellisierung seiner Tatbeiträge. Der Kläger, der Straftaten bisher immer zusammen mit seinen Freunden beging, trifft sich weiterhin mit diesen und versuchte, dies gegenüber den Behörden, dem Bewährungshelfer, dem Gericht sowie seinem Rechtsanwalt zu verbergen. Eine ernsthafte und durchgreifende Nachreifung des Klägers kann angesichts dieses Verhaltens und der selektiven Informationsweitergabe durch den Kläger (s.o.) nicht angenommen werden.
90
Bei der Aufenthaltsbeendigung handelt es sich daher um die Folge der massiven Straffälligkeit des Klägers, die ihm auch zuzumuten ist.
91
Der Kläger ist auch nicht im Hinblick auf sein Heimatland entwurzelt. Er verbrachte die ersten dreizehn Lebensjahre im Irak und ist mit den dortigen Gepflogenheiten und Gebräuchen vertraut. Es entspricht nicht der Lebenserfahrung, dass der Kläger, der die ersten 14 Jahre nicht in Deutschland verbrachte und dann bis zu seiner Inhaftierung weiterhin mit seiner Familie zusammenlebte, seine Muttersprache nicht mehr spricht. Als Volljähriger ist der Kläger nicht mehr auf den Beistand seiner Eltern angewiesen; zum Entscheidungszeitpunkt ist der Kläger bereits 25 Jahre alt. Der Kläger ist gesund, daher ist es ihm zuzumuten, sich in seinem Heimatland mit der Unterstützung seiner hier lebenden Verwandten eine neue Existenz aufbauen. Es wäre ihm sogar zuzumuten, sich ohne Kontaktperson zurechtzufinden.
92
2.3.3. Zusammenfassend kommt das Gericht im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung wie die Beklagte zum Ergebnis, dass die Ausweisung nicht gegen höherrangiges Recht verstößt und dem Kläger eine Rückkehr in das Land seiner Staatsangehörigkeit zuzumuten ist.
93
3. Die von der Beklagten verfügte Befristung der Ausweisung auf sieben Jahren unter der Bedingung von Straffreiheit ist rechtlich nicht zu beanstanden.
94
Über die allein unter präventiven Gesichtspunkten festzusetzende Frist hat die Beklagte gemäß § 11 Abs. 3 i.V.m. Abs. 5 AufenthG nach Ermessen zu entscheiden. Sie hat dies unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls zu tun und darf hierbei fünf Jahre nur überschreiten, wenn der Kläger aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesen worden ist oder wenn von ihm eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgeht. Da der Kläger aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesen worden ist, darf die Frist zehn Jahre nicht überschreiten, § 11 Abs. 5 Satz 1 AufenthG. Im Rahmen dieser Ermessensentscheidung sind in einem ersten Schritt das Gewicht des Ausweisungsgrundes sowie der mit der Ausweisung verfolgte Zweck zu berücksichtigen. Hierbei bedarf es der prognostischen Einschätzung im jeweiligen Einzelfall, wie lange das Verhalten des Betroffenen, das der zu spezialpräventiven Zwecken verfügten Ausweisung zugrunde liegt, das öffentliche Interesse an der Gefahrenabwehr zu tragen vermag. Die sich an der Erreichung des Ausweisungszwecks orientierende Sperrfrist muss sich aber an höherrangigem Recht, d.h. verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen und den Vorgaben aus Art. 8 EMRK messen und gegebenenfalls relativieren lassen. Dieses normative Korrektiv bietet der Ausländerbehörde und den Gerichten ein rechtsstaatliches Mittel, um die fortwirkenden einschneidenden Folgen des Einreise- und Aufenthaltsverbots für die persönliche Lebensführung des Betroffenen zu begrenzen (BVerwG, U. v. 10.7.2012 - 2 C 19.11 - juris Rn. 42). Die Befristung kann zur Abwehr einer Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung mit einer Bedingung versehen werden, insbesondere einer nachweislichen Straffreiheit (§ 11 Abs. 2 Satz 5 AufenthG).
95
Gemessen an diesen Vorgaben erweist sich die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots auf sieben Jahre ab dem Zeitpunkt der Ausreise als ermessensfehlerfrei. Die gewählten sieben Jahre sind angemessen. Auch liegen die Voraussetzungen des § 11 Abs. 2 Satz 5 AufenthG vor.
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Auch die bei Nichterfüllung der Bedingung festgesetzte Frist von neun Jahren ist rechtlich nicht zu beanstanden. Auch hier erweist sich die Befristung unter Würdigung der vom Kläger ausgehenden Gefahr als ermessensfehlerfrei. Die Voraussetzungen des § 11 Abs. 3 Satz 2 AufenthG liegen vor.
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Die Kostenfolge ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO.
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Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 173 VwGO i. V. m. §§ 708 ff. der Zivilprozessordnung.