Titel:
Zeitpunkt der nachträglichen Kenntnisnahme durch die Familienkasse - Erlass des Aufhebungs- und Rückforderungsbescheides
Normenketten:
EStG § 70 Abs. 2
AO § 173 Abs. 1 Nr. 2, § 367 Abs. 2
Leitsatz:
Maßgeblicher Zeitpunkt, ob der Familienkasse entscheidungserhebliche Tatsachen nachträglich i.S. des § 173 AO bekannt geworden sind, ist der Zeitpunkt des Erlasses des Aufhebungs- und Rückforderungsbescheides. Das gilt auch, wenn ein verspätet erhobener Einspruch als unzulässig zurückgewiesen worden ist.
Schlagworte:
Steuerfestsetzung, Aufhebung, Änderung, Kindergeldanspruch, Aufhebungsbescheid, Richteramt, Beweismittel, Familienkasse, Einspruchsentscheidung, Einspruch, Zahnmedizin, Wiedereinsetzung
Fundstelle:
BeckRS 2020, 24043
Tenor
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.
Tatbestand
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Der Kläger bezog laufend Kindergeld für seine Tochter S (geboren am 5. Oktober 1993). Mit Bescheid vom 10. September 2015 hob die Beklagte (die Familienkasse) die Festsetzung des Kindergeldes für S ab Oktober 2015 auf. Der Kläger brachte daraufhin vor, dass S im Sommersemester 2015 ein Studium der Zahnmedizin begonnen habe. Aus der vorgelegten Studienbescheinigung geht hervor, dass die Einschreibung an der Universität F am 30. März 2015 erfolgte. Mit Bescheid vom 27. Januar 2016 setzte die Familienkasse daraufhin Kindergeld für S ab Oktober 2015 fest.
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Mit Bescheid vom 11. Oktober 2018 hob die Familienkasse die Kindergeldfestsetzung für S ab November 2018 gemäß § 70 Abs. 2 Einkommensteuergesetz (EStG) auf. Zur Begründung führte sie an, dass S im Oktober 2018 das 25. Lebensjahr vollendet habe und der Kindergeldanspruch grundsätzlich mit Vollendung des 25. Lebensjahres ende. Der Kläger wurde zugleich aufgefordert, das Vorliegen der Anspruchsvoraussetzungen bis zur Vollendung des 25. Lebensjahres nachzuweisen (vgl. Erläuterungen zum Bescheid vom 11. Oktober 2018). Mit Schreiben vom 22. Januar 2019 wies die Familienkasse den Kläger darauf hin, dass er den Anspruch auf Kindergeld für S für den Zeitraum April 2015 bis Oktober 2018 trotz Aufforderung nicht nachgewiesen habe. Aufgrund dieses Sachverhalts sei zu prüfen, ob die Kindergeldfestsetzung aufzuheben sei und er zu viel gezahltes Kindergeld für diesen Zeitraum erstatten müsse. Der Kläger erhielt Gelegenheit zur Stellungnahme bis 8. Februar 2019.
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Mit Bescheid vom 14. Februar 2019 hob die Familienkasse die Festsetzung des Kindergeldes für das Kind S für den Zeitraum von April 2015 bis einschließlich Oktober 2018 gemäß § 70 Abs. 2 EStG auf und forderte Kindergeld in Höhe von 8.216 € für diesen Zeitraum zurück. Im Bescheid wurde erläutert, dass der Kläger der Aufforderung, Nachweise über das Ende bzw. die Fortdauer des Studiums einzureichen, nicht nachgekommen sei. In der Rechtsbehelfsbelehrung:zu diesem Bescheid wird u.a. ausgeführt, dass ein Einspruch bei der Familienkasse schriftlich einzureichen, dieser elektronisch zu übermitteln oder dort zur Niederschrift zu erklären ist. Die E-Mail-Adresse der Familienkasse (…) wurde im Bescheid (Briefkopf) angeführt.
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Am 25. März versandte der Kläger ein Fax an die Familienkasse, sowie ein Schreiben per Einschreiben, das am 27. März 2019 bei der Familienkasse einging. Er übersandte die am 23. August 2018 ausgestellte Immatrikulationsbescheinigung seiner Tochter für das Wintersemester 2018/2019. Er gab an, dass er die Bescheinigung schon mehrfach an die Familienkasse übersandt habe. Da ihm auf erneute Anfrage mitgeteilt worden sei, dass seine dritte Nachricht mit der Studienbescheinigung von S wieder nicht eingegangen sei, habe er diese nunmehr per Fax als auch per Einschreiben übersandt. Als Anlage fügte er einen Ausdruck von zwei E-Mails bei. Aus dem Ausdruck geht hervor, dass er die E-Mails am 25. Januar 2019 und am 18. Februar 2019 versendet hat. Als Empfänger weisen beide E-Mails die Familienkasse mit folgender E-Mail-Adresse aus:
… Beide E-Mails haben folgenden Inhalt:
„Sehr geehrte Damen und Herren, wie telefonisch besprochen und mit Bezug zu Ihrem Schreiben vom 22.1. bitte finden sie anbei die aktuelle Studienbescheinigung unserer Tochter S. Vielen Dank für eine kurze Bestätigung, dass damit das Thema geklärt ist (…).“ In beiden E-Mails wird die Immatrikulationsbescheinigung (als pdf) als Anlage angeführt.
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Die Familienkasse wertete das Schreiben vom 25. März 2019 als Einspruch gegen den Bescheid vom 14. Februar 2019. Sie wies den Kläger darauf hin, dass ihm bei Eingabe der E-Mail-Adresse des Empfängers (Familienkasse) ein Fehler unterlaufen sei (Arbeitsargentur statt Arbeitsagentur) und beide E-Mails bzw. die Immatrikulationsbescheinigung die Familienkasse daher nicht erreicht haben. Des Weiteren wies die Familienkasse darauf hin, dass der mit Schreiben vom 25. März 2019 eingelegte Einspruch erst nach Ablauf der Einspruchsfrist und damit verspätet eingegangen sei.
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Der Kläger brachte hierzu vor, dass ihm bei der Eingabe der E-Mail-Adresse ein Fehler unterlaufen sei. Die eingegebene (falsche) E-Mail-Adresse habe er zudem wieder kopiert. Zu seiner Entschuldigung könne er vorbringen, dass er keine Fehler- oder Unzustellbarkeitsmeldung erhalten habe.
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Mit Einspruchsentscheidung vom 17. April 2019 wies die Familienkasse den Einspruch des Klägers als unzulässig zurück. Der Einspruch sei verspätetet eingelegt worden. Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand könne nicht gewährt werden, da der Kläger die Einspruchsfrist nicht schuldlos versäumt habe. Der angefochtene Bescheid habe auch die E-Mail-Adresse der Familienkasse enthalten. Bei Beachtung der erforderlichen Sorgfalt wäre es dem Kläger ohne weiteres möglich gewesen, den Einspruch innerhalb der Einspruchsfrist an die richtige Adresse zu senden.
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Der Kläger erhob gegen die Einspruchsentscheidung keine Klage. Mit E-Mail vom 30. April 2019 teilte der Kläger der Familienkasse mit, dass er mit seiner Anwältin Kontakt aufgenommen habe, die ihm einen Hinweis auf die Regelung des § 173 Abs. 1 Nr. 2 Abgabenordnung (AO) gegeben habe. Er bat, seinen Fall auf Grundlage dieser Regelung noch einmal zu überarbeiten. Der Sachverhalt beruhe darauf, dass er aufgrund eines Rechtschreibfehlers den Buchstaben “r“ in die E-Mail-Adresse aufgenommen habe.
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Die Familienkasse teilte dem Kläger daraufhin mit Schreiben vom 8. Mai 2019 mit, dass die Zulässigkeit und Begründetheit des Einspruchs im Rahmen des Einspruchsverfahrens zu prüfen sei. Da der Einspruch außerhalb der Einspruchsfrist eingegangen sei und auch eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 110 AO nicht gewährt werden könne, habe der Einspruch als unzulässig verworfen werden müssen. Die Familienkasse verwies hierzu auf die Ausführungen in der Einspruchsentscheidung. Die E-Mail des Klägers vom 30. April 2019 wertete sie als Antrag auf Änderung des Bescheides vom 14. Februar 2019 nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO.
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Mit Bescheid vom 15. Mai 2019 lehnte die Familienkasse den Antrag des Klägers, den Bescheid vom 14. Februar 2019 zu ändern, ab. Der hiergegen gerichtete Einspruch des Klägers (Schreiben vom 28. Mai 2019) blieb erfolglos (Einspruchsentscheidung vom 19. Juli 2019). Die Familienkasse sah die Voraussetzungen der Vorschrift des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO als nicht erfüllt an. Die Studienbescheinigung habe dem Kläger bereits vor Erstellung des Aufhebungsbescheides vom 14. Februar 2019 vorgelegen. Neue Tatsachen und Beweismittel seien demnach nicht nachträglich bekannt geworden. Der Kläger hätte aufgrund der mehrmaligen Anforderungsschreiben erkennen müssen, dass die Unterlagen noch nicht vorlagen. Er wäre verpflichtet gewesen, nachzuprüfen, warum seine Unterlagen nicht ankommen. Bei Beachtung der erforderlichen Sorgfalt wäre es ihm möglich gewesen, die Immatrikulationsbescheinigung an die richtige E-Mail-Adresse zu versenden.
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Mit seiner hiergegen gerichteten Klage hält der Kläger daran fest, dass die Voraussetzungen der Korrekturvorschrift des § 173 AO vorliegen. Insbesondere liege kein grobes Verschulden vor. Er sei jeder Nachfrage nach einer Studienbescheinigung umgehend nachgekommen und habe regelmäßig nachgefragt, ob seine Unterlagen angekommen seien.
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Auf Rückfrage der Einzelrichterin in der mündlichen Verhandlung, stellte der Kläger klar, dass er die E-Mail vom 18. Februar 2019 an die Familienkasse nicht neu erstellt, sondern die erste E-Mail vom 25. Januar 2019 noch einmal versendet habe.
den Ablehnungsbescheid vom 15. Mai 2019 und die Einspruchsentscheidung vom 19. Juli 2019 aufzuheben und die Familienkasse zu verpflichten, den Aufhebungs- und Rückforderungsbescheid vom 14. Februar 2019 aufzuheben.
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Die Familienkasse beantragt,
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Sie verweist im Wesentlichen auf die Einspruchsentscheidung.
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Wegen des Sachverhalts im Einzelnen wird auf die Einspruchsentscheidung, die Akten und die von den Beteiligten eingereichten Schriftsätze sowie das Protokoll über die mündliche Verhandlung Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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Die Klage ist unbegründet.
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Die Familienkasse hat zu Recht die Aufhebung des bestandskräftigen Bescheides vom 14. Februar 2019 über die Aufhebung und Rückforderung von Kindergeld für den Zeitraum April 2015 bis einschließlich Oktober 2018 nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO abgelehnt.
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1. Steuerbescheide sind gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO aufzuheben oder zu ändern, soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekannt werden, die zu einer niedrigeren Steuer führen und den Steuerpflichtigen kein grobes Verschulden daran trifft, dass die Tatsachen oder Beweismittel erst nachträglich bekannt werden. Die Änderungsvorschrift ist auch im Verfahren über die Aufhebung oder Änderung von Bescheiden über die Festsetzung von Kindergeld anwendbar, da dieses nach § 31 Satz 3 des Einkommensteuergesetzes als Steuervergütung gezahlt wird. Auf die Festsetzung einer Steuervergütung sind gemäß § 155 Abs. 4 AO die Vorschriften über die Steuerfestsetzung - somit auch § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO - sinngemäß anzuwenden (BFH-Urteil vom 23. November 2001 VI R 125/00, BStBl II 2002, 296).
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2. Im Streitfall kommt eine Aufhebung des Bescheides vom 14. Februar 2019 nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO trotz nachträglich bekannt gewordener Tatsachen und Beweismittel nicht in Betracht, da den Kläger ein grobes Verschulden daran trifft, dass die Tatsachen und Beweismittel erst nachträglich bekannt geworden sind.
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a) Anders als die Familienkasse im Verwaltungsverfahren angenommen hat, liegen Tatsachen und Beweismittel vor, die im Sinne des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO nachträglich bekannt geworden sind.
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aa) Tatsache i. S. von § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO ist nach der ständigen Rechtsprechung des BFH alles, was Merkmal oder Teilstück eines gesetzlichen Steuertatbestandes sein kann, also Zustände, Vorgänge, Beziehungen, Eigenschaften materieller oder immaterieller Art (vgl. BFH-Urteil vom 18. August 2005 IV R 9/04, BStBl II 2006, 581 m.w.N.). Der Umstand, dass das Kind S im Zeitraum April 2015 bis einschließlich Oktober 2018 (noch) studiert hat, ist somit eine Tatsache i. S. von § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO. Bei der am 23. August 2018 ausgestellten Immatrikulationsbescheinigung der Universität, handelt es sich um ein Beweismittel i.S. des § 173 Abs. 1 AO, da die Bescheinigung geeignet ist, nachzuweisen, dass das Kind zum Studium eingeschrieben war.
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bb) Dabei handelt es sich auch um Tatsachen und Beweismittel, die i.S. des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO nachträglich bekannt geworden sind.
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(1) Für das nachträgliche Bekanntwerden kommt es nicht auf die Kenntnis des Steuerpflichtigen bzw. Kindergeldberechtigten an, sondern auf die Kenntnis der zuständigen Behörde.
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Nachträglich bekannt gewordene Tatsachen und Beweismittel sind solche, die zu dem für eine Aufhebung oder Änderung nach § 173 AO maßgebenden Zeitpunkt bereits vorhanden, aber der zuständigen Behörde noch unbekannt waren. Tatsachen sind jedenfalls dann nachträglich bekannt geworden, wenn sie die Familienkasse bei Erlass des Bescheides - auf den sich der Änderungsantrag nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO bezieht - noch nicht kannte. Schließt sich im Anschluss an das Ergehen des Bescheides ein Einspruchsverfahren an, so muss die Familienkasse die Sache in vollem Umfang erneut überprüfen (§ 367 Abs. 2 Satz 1 AO). Folglich ist dann der maßgebende Zeitpunkt dafür, ob eine Tatsache nachträglich bekannt geworden ist, grundsätzlich der Zeitpunkt des Erlasses der Einspruchsentscheidung (vgl. hierzu von Groll in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 173 Rn. 216).
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(2) Im Streitfall ist die Tatsache, dass das Kind S ihr Studium weiter fortgeführt hat, ebenso wie die Immatrikulationsbescheinigung vom 23. August 2018, der Familienkasse erst nachträglich bekannt geworden, da sie erst nach Ergehen des Aufhebungs- und Rückforderungsbescheides vom 14. Februar 2019 aufgrund des Fax bzw. Schreibens des Klägers vom 25. März 2019 hiervon Kenntnis erlangt hat. Zwar hat sich im Anschluss an das Ergehen des Bescheides noch ein Einspruchsverfahren angeschlossen. Der (unstreitig) verspätet erhobene Einspruch des Klägers wurde jedoch mit (bestandskräftiger) Einspruchsentscheidung vom 17. April 2019 als unzulässig zurückgewiesen. Da demnach - anders als bei einem zulässigen Einspruch - eine Überprüfung in der Sache nicht mehr stattgefunden hat, ist im Streitfall der Zeitpunkt des Ergehens der Einspruchsentscheidung nicht der maßgebliche Zeitpunkt für ein nachträgliches Bekanntwerden i.S. des § 173 AO, sondern der Erlass des Aufhebungs- und Rückforderungsbescheides vom 14. Februar 2019. Zu diesem Zeitpunkt hatte die Familienkasse noch keine Kenntnis von der Fortführung des Studiums durch S bzw. von der Immatrikulationsbescheinigung.
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b) Im Streitfall trifft den Kläger jedoch ein grobes Verschulden daran, dass die Tatsachen und das Beweismittel der Familienkasse erst nachträglich bekannt geworden sind.
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aa) Grobes Verschulden i.S. des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO umfasst Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit. Grob fahrlässig handelt der Steuerpflichtige, wenn er die Sorgfalt, zu der er nach seinen persönlichen Kenntnissen und Fähigkeiten verpflichtet und imstande ist, in ungewöhnlichem Maße und in nicht entschuldbarer Weise verletzt (vgl. BFH-Urteil vom 15. Juli 2010 III R 32/08, BFH/NV 2010, 2237 m.w.N.).
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bb) Hiervon ausgehend ist das Verhalten des Klägers bis zum Ergehen des Aufhebungsbescheides nicht als grob schuldhaft zu werten.
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(1) Zwar handelt ein Kindergeldberechtigter regelmäßig grob schuldhaft i.S. des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO, wenn er trotz mehrfacher Aufforderung durch die Familienkasse offenkundig anspruchserhebliche Tatsachen nicht mitteilt oder nachweist. Dies gilt umso mehr, wenn ausdrückliche Nachfragen einer Familienkasse nicht beantwortet werden (BFH-Urteil vom 26. November 2014 XI R 41/13, BFH/NV 2015, 491).
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(2) Im Streitfall ist jedoch zu berücksichtigten, dass der Kläger auf die Aufforderung der Familienkasse vom 22. Januar 2018, Nachweise für ein Fortdauern des Studiums seiner Tochter vorzulegen, reagiert hat. Mit E-Mail vom 25. Januar 2019, in der er Bezug auf das Schreiben der Familienkasse vom 22. Januar 2018 nahm, wollte er die Immatrikulationsbescheinigung seiner Tochter an die Familienkasse übersenden und seiner Mitwirkungspflicht nachkommen. Diese erreichte jedoch die Familienkasse nicht, da er aufgrund eines Schreibfehlers - Einfügung des Buchstabens “r“ - die E-Mail-Adresse der Familienkasse fehlerhaft eingab. Zwar lag es im Verantwortungsbereich des Klägers, bei elektronischer Übermittlung von Unterlagen, die E-Mail auch an die richtige E-Mail-Adresse des Empfängers zu versenden und darauf zu achten, dass keine Schreibfehler vorkommen. Der Schreibfehler des Klägers, der die die Ursache dafür war, dass die E-Mail vom 25. Januar 2019 der Familienkasse nicht zuging, ist für sich genommen jedoch nicht als grobes Verschulden i.S. des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO zu werten. Es handelt sich um einen Schreibfehler, der ohne weiteres vorkommen kann. Auch bei einer Prüfung der E-Mail-Adresse auf Richtigkeit vor Versendung ist ein derartiger Fehler - auch im Hinblick auf die Länge der E-Mail-Adresse - nicht ohne weiteres bzw. auf den ersten Blick zu erkennen. Zudem hat der Kläger glaubhaft vorgetragen, dass nach Absendung der E-Mail keine Fehlermeldung erfolgte. Dies entspricht auch den Erfahrungen des Gerichts im Hinblick auf falsch adressierte E-Mails an die Familienkasse.
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cc) Ein grobes Verschulden des Klägers liegt jedoch darin, dass er es versäumt hat, der Familienkasse, die Tatsache, dass das Studium von S noch andauerte, im Rahmen eines fristgerechten Einspruchs gegen den Aufhebungsbescheid vom 14. Februar 2019 zu unterbreiten und nachzuweisen.
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(1) Nach der ständigen Rechtsprechung des BFH ist für die Prüfung, ob dem Steuerpflichtigen der Vorwurf eines grob schuldhaften Verhaltens am nachträglichen Bekanntwerden von Tatsachen und Beweismitteln gemacht werden kann, nicht nur der Zeitraum bis zum Erlass des Bescheides, sondern auch der Zeitraum bis zum Eintritt der formellen Bestandskraft einzubeziehen (vgl. grundlegend BFH-Urteil vom 25. November 1983 VI R 8/82, BStBl II 1984, 256; nachgehend z.B. BFH-Urteile vom 4. Februar 1998 XI R 47/97, BFH/NV 1998, 682; vom 16. September 2004 IV R 62/02, BStBl II 2005, 75; vom 22. Mai 2006 VI R 17/05, BStBl II 2006, 806, m.w.N.). Ein grobes Verschulden i.S. des § 173 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 AO kann auch darin bestehen, dass es der Steuerpflichtige unterlässt, gegen einen Steuerbescheid Einspruch einzulegen, obwohl sich ihm innerhalb der Einspruchsfrist die Geltendmachung von der Behörde bisher nicht bekannten Tatsachen hätte aufdrängen müssen.
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(2) Zwar wandte sich der Kläger im Streitfall nach Ergehen des Aufhebungs- und Rückforderungsbescheids vom 14. Februar 2019 mit einer weiteren E-Mail an die Familienkasse. Mit E-Mail vom 18. Februar 2019 wollte er die Immatrikulationsbescheinigung erneut an die Familienkasse übersenden. Nach eigenen Angaben versandte er die erste E-Mail vom 25. Januar 2019 erneut. In der Folge erreichte auch diese E-Mail - die innerhalb der Einspruchsfrist des Bescheids vom 14. Februar 2019 versendet wurde und bei Zugang als Einspruch gegen den Bescheid vom 14. Februar 2019 hätte gewertet werden können - aufgrund der fehlerhaften Empfängeradresse die Familienkasse nicht. Dass dem Kläger der Fehler der Verwendung einer falsch geschriebenen E-Mail-Adresse ein zweites Mal unterlaufen ist, stellt ein grobes Verschulden i.S. des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO dar. Der Kläger hat vorgetragen, dass er mehrfach bei der Familienkasse angerufen und die Antwort erhalten habe, dass dort nichts eingegangen sei und er die Unterlagen noch einmal schicken solle (vgl. hierzu die E-Mail des Klägers vom 30. April 2019). Nachdem seine erste E-Mail vom 25. Januar 2019 die Familienkasse offenkundig nicht erreicht hatte, musste sich dem Kläger eine Prüfung der von ihm verwendeten E-Mail-Adresse vor der erneuten Versendung aufdrängen. Bei gebotener Sorgfalt - Prüfung der E-Mail-Adresse Zeichen für Zeichen bzw. Buchstabe für Buchstabe - hätte er vor erneuter Versendung der E-Mail vom 25. Januar 2019 erkennen können, dass Grund dafür, dass die erste E-Mail der Familienkasse nicht zugegangen war, die falsch geschriebene E-Mail-Adresse war. Damit hat er die ihm zumutbare Sorgfalt in einem ungewöhnlichen Maße und in nicht entschuldbarer Weise verletzt.
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3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 Finanzgerichtsordnung (FGO).