Inhalt

FG München, Beschluss v. 17.06.2020 – 7 V 949/20
Titel:

Wiedereinsetzung in die versäumte Einspruchsfrist – Krankheit als Wiedereinsetzungsgrund

Normenkette:
AO § 110 Abs. 1
Schlagworte:
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, Einspruchsfrist, Krankheit, Wiedereinsetzungsgrund
Fundstelle:
BeckRS 2020, 24042

Tenor

1. Der Antrag wird abgelehnt.
2. Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens.

Gründe

I.
1
Streitig ist im Klageverfahren, ob die Antragstellerin fristgerecht Einspruch gegen die Aufhebung der Kindergeldfestsetzung erhoben hat.
2
Mit Bescheid vom 22. November 2019 wurde die Festsetzung des Kindergeldes für das Kind S, geboren am 04.08.1997, ab dem Monat Oktober 2017 aufgehoben. Zugleich wurde das für diesen Zeitraum bereits ausgezahlte Kindergeld in Höhe von 4.476 € zurückgefordert. Die Aufhebung der Festsetzung wurde damit begründet, dass die Studienbescheinigungen ab dem Wintersemester 2017/18 nicht vorgelegt worden seien und daher nicht festgestellt werden könne, ob ein Anspruch auf Kindergeld bestehe.
3
Mit Schreiben vom 19. Januar 2020 übersandte die Antragstellerin verschiedene Unterlagen, unter anderem die Studienbescheinigung ab dem Wintersemester 2017/18. Gleichzeitig entschuldigte sie sich für ihre verspätete Reaktion und begründete die fehlende Einlegung eines fristgerechten Einspruchs damit, dass sie aufgrund eines Arbeitsunfalls am 19. November 2019, bei dem sie sich unter anderem die rechte Hand gebrochen habe, nicht in der Lage gewesen sei, auf das Schreiben der Antragsgegnerin zu antworten. Eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vom 19. November 2019 bis 12. Januar 2020 legte sie dem Schreiben bei. Darüber hinaus habe die Tochter nach einer Operation infolge einer akuten Entzündung der Weisheitszähne im Zeitraum vom 27. Dezember 2019 bis 14. Januar 2020 intensiv von ihr betreut werden müssen. Eine ärztliche Bescheinigung für eine Behandlung der Tochter am 7. Januar 2020 und eine Krankheitsbescheinigung für den Zeitraum 11. Januar 2020 bis 14. Januar 2020 legte sie ebenso bei.
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Der Einspruch wurde als unzulässig verworfen (Einspruchsentscheidung vom 24. März 2020).
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Dagegen erhob die Antragstellerin Klage (Az. 7 K 830/20), über die das Gericht noch nicht entschieden hat und stellte einen Antrag auf AdV.
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Die Antragstellerin beantragt,
die Aussetzung der Vollziehung des Bescheids vom 22. November 2019 in Höhe von 4.476 € rückwirkend ab Fälligkeit.
7
Die Antragsgegnerin beantragt,
die Ablehnung des Antrags.
8
Wegen des Sachverhalts im Einzelnen wird auf die Einspruchsentscheidung vom 24. März 2020, die Akten und die eingereichten Schriftsätze Bezug genommen.
II.
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Der Antrag ist unbegründet.
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1. Gemäß § 69 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. Abs. 2 Sätze 2 bis 6 der Finanzgerichtsordnung (FGO) kann das Gericht der Hauptsache die Vollziehung eines angefochtenen Verwaltungsakts ganz oder teilweise aussetzen. Die Vollziehung soll ausgesetzt werden, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts bestehen (§ 69 Abs. 2 Satz 2 FGO).
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Ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit eines angefochtenen Verwaltungsakts bestehen, wenn bei überschlägiger Prüfung des angefochtenen Verwaltungsaktes im Aussetzungsverfahren neben den für die Rechtmäßigkeit sprechenden Gründen gewichtige, gegen sie sprechende Umstände zutage treten, die Unentschiedenheit oder Unsicherheit in der Beurteilung der entscheidungserheblichen Rechtsfragen bewirken oder Unklarheiten in der Beurteilung der Tatfragen aufwerfen (ständige Rechtsprechung, vgl. z.B. Bundesfinanzhof - BFH-Beschluss vom 26. Mai 2010 V B 80/09, BFH/NV 2010, 2079).
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Die Entscheidung über einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung ergeht wegen der Eilbedürftigkeit aufgrund des Prozessstoffs, der sich aus den dem Gericht vorliegenden Unterlagen, insbesondere den Akten der Finanzbehörde und präsenten Beweismitteln ergibt (BFH-Beschluss vom 21. Juli 1994 IX B 78/94, BFH/NV 1995, 116).
13
Es ist Sache der Beteiligten, die entscheidungserheblichen Tatsachen darzulegen und glaubhaft zu machen, soweit ihre Mitwirkungspflicht reicht (BFH-Beschluss vom 20. März 2002 IX S 27/00, BFH/NV 2002, 809, m.w.N.).
14
Im Streitfall hat der Antragsgegner den von der Antragstellerin gegen den Kindergeldaufhebungsbescheid vom 22. November 2019 eingelegten Einspruch zu Recht als unzulässig abgewiesen. Unstreitig wurde der Einspruch nicht innerhalb der vierwöchigen Einspruchsfrist nach § 355 Abgabenordnung (AO) erhoben. Gründe, nach denen Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 110 AO zu gewähren ist, hat die Antragstellerin nicht vorgetragen.
15
Nach § 110 Abs. 1 AO ist auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn jemand ohne Verschulden verhindert ist, eine gesetzliche Frist einzuhalten. Schuldmaßstab ist nicht die im Rechtsverkehr erforderliche (§ 276 Abs. 2 Bürgerliches Gesetzbuch), sondern diejenige Sorgfalt, die den Betroffenen unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des einzelnen Falles und seiner persönlichen Verhältnisse zugemutet werden kann. Bereits bei leichter Fahrlässigkeit ist ein Wiedereinsetzungsantrag regelmäßig abzulehnen. Im Streitfall hat die Antragstellerin die Fristversäumnis lediglich mit einem Arbeitsunfall am 19. November 2019, bei dem sie sich unter anderem die rechte Hand gebrochen habe sowie mit dem Umstand, dass ihre Tochter nach einer Operation infolge einer akuten Entzündung der Weisheitszähne im Zeitraum vom 27. Dezember 2019 bis 14. Januar 2020 intensiv von ihr habe betreut werden müssen, entschuldigt. Eine eigene Krankheit ist jedoch nur dann ein Wiedereinsetzungsgrund, wenn dem Kranken wegen seines Zustandes nicht zuzumuten war, die Frist durch eigenes Handeln oder durch das Handeln eines Dritten zu wahren. Dies bedeutet, dass die Krankheit plötzlich und in einer Schwere auftreten muss, die es dem Steuerpflichtigen auch nicht mehr zumutbar ermöglicht, einen Dritten mit der Interessenwahrnehmung zu beauftragen. Diese Voraussetzungen liegen im Streitfall offensichtlich nicht vor, da eine Fraktur der rechten Hand infolge eines Arbeitsunfalls nicht dazu führt, dass ihr die Einlegung des Einspruchs, ggf. unter Zuhilfenahme eines Dritten, nicht mehr zuzumuten war. Da der Aufhebungsbescheid bereits am 22. November 2019 erlassen wurde und damit nur wenige Tage nach dem Arbeitsunfall am 19. November 2019, hatte die Antragstellerin nach nahezu einen ganzen Monat Zeit, einen fristgemäßen Einspruch einzulegen. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass ihre Tochter S vom 27. Dezember 2019 bis 14. Januar 2020 wegen einer Entzündung der Weisheitszähne erkrankt war. Zwar erscheint es glaubhaft, dass sie sich um die in ihrem Haushalt lebende Tochter kümmerte. Nicht nachvollziehbar ist jedoch, dass sie die bereits 22-jährige und ein Universitätsstudium absolvierende Tochter so intensiv betreuen musste, dass es der Antragstellerin nicht mehr zuzumuten war, ihren sonstigen Verpflichtungen nachzukommen.
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2. Die Vollziehung des Bescheids hat auch keine, über den Vollzug der Bescheide hinausgehende unbillige Härte zur Folge (§ 69 Abs. 3 Satz 1, Abs. 2 Satz 2 FGO). Eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte liegt vor, wenn dem Steuerpflichtigen durch die Vollziehung des angefochtenen Bescheides wirtschaftliche Nachteile drohen, die nicht oder nur schwer wiedergutzumachen sind oder wenn die Vollziehung zu einer Gefährdung seiner wirtschaftlichen Existenz führen würde (vgl. Stapperfend in Gräber, FGO, 9. Aufl. 2019, § 69 Rz 170, m.w.N.). Allerdings kommt eine AdV auch in diesem Fall nur dann in Betracht, wenn zusätzlich Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsakts bestehen (Stapperfend in Gräber, FGO, 9. Aufl. 2019, § 69 Rz 172, m.w.N.). Da im Streitfall Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Aufhebungsbescheids nicht bestehen, kommt auch eine AdV unter diesem Gesichtspunkt nicht in Betracht.
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3. Soweit geltend gemacht wird, dass die Antragstellerin einen Antrag auf Ratenzahlung gestellt hat, der von der Antragsgegnerin mit Schreiben vom 16. April 2020 abgelehnt wurde, so ist dies im vorliegenden Verfahren nicht zu prüfen, da die Ablehnung des Stundungsantrags einen eigenständigen Verwaltungsakt darstellt, der nicht Gegenstand des vorliegenden Verfahrens ist.
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4. Die Kostenentscheidung beruht auf § § 135 Abs. 1 FGO FGO.