Titel:
Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft für syrische Asylbewerberin
Normenkette:
AsylG § 3, § 3a, § 3b, § 25, § 26
Leitsätze:
1. Einer später als nach einer Frist von zwei Wochen gestellter Antrag auf Familienasyl ist regelmäßig nur dann unverzüglich gestellt, wenn sich aufgrund besonderer Umstände im Einzelfall ergibt, dass der Antrag nicht früher gestellt werden konnte. (Rn. 20) (redaktioneller Leitsatz)
2. Einer syrischen Richterin an einem Berufungsgericht, die das Land unerlaubt für mehr als 90 Tage verließ und illegal ausreiste bzw. illegal über die erlaubten 90 Tage hinaus im Ausland verblieb, um dort Schutz zu suchen, droht im Falle einer unterstellten Rückkehr nach Syrien beachtlich wahrscheinlich eine Verfolgung wegen einer ihr unterstellten politischen Überzeugung. (Rn. 34) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, begründete Furcht vor Verfolgung, Richter, Staatsbedienstete, hochrangige Beamte, Familienasyl, Asylantrag, Syrien, Visum, Verfolgungshandlung, Familienzusammenführung, Richterin am Berufungsgericht, unerlaubte Ausreise, politische Überzeugung
Fundstelle:
BeckRS 2020, 23962
Tenor
1. Unter Aufhebung der Ziffer 2 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 26.06.2019 wird die Beklagte verpflichtet, der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
2. Die Beklagte trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.
3. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Tatbestand
1
Die Klägerin, eine syrische Staatsangehörige arabischer Volkszugehörigkeit und sunnitischen Glaubens, reiste mit von der Deutschen Botschaft Beirut am 12.12.2016 ausgestelltem Visum nach eigenen Angaben am 04.02.2017 im Rahmen der Familienzusammenführung in die Bundesrepublik Deutschland ein. Mit Schreiben vom 18.03.2019, eingegangen am 12.03.2019, stellte sie beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) einen Asylantrag. Dem Ehemann der Klägerin, …(BAMFAz. …), wurde mit Bescheid des Bundesamtes vom 03.11.2015 die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt.
2
Bei ihrer Anhörung nach § 25 AsylG am 26.04.2019 gab die Klägerin an, sie habe in Syrien ein Jurastudium abgeschlossen, habe drei Diplome und einen Master. Sie habe sich auch für eine Promotion angemeldet, aber diese aufgrund des Krieges nicht abgeschlossen. Vor ihrer Ausreise habe sie in … gelebt. Dort habe sie als Richterin gearbeitet. Diese Tätigkeit habe sie seit 1998 bis zu ihrer Ausreise ausgeübt. Sie habe vorwiegend Zivilangelegenheiten verhandelt; zuletzt sei sie bei der Staatsanwaltschaft und bei Gericht tätig gewesen, und sei an das Berufungsgericht befördert worden. Sie sei die erste Frau gewesen, die in … als Richterin tätig geworden sei. Mitglied in einer nichtstaatlichen, bewaffneten Gruppierung oder in einer sonstigen politischen Organisation sei sie nicht gewesen; dies habe sie als Richterin nicht gedurft. Der Hauptgrund für ihre Ausreise sei der Krieg gewesen und die ständige Angst davor, dass etwas passieren könne. Ihr Wohnort habe zwischen den zwei Kriegsparteien, dem syrischen Regime und der Freien Syrischen Armee, gelegen. Sie habe, nachdem ihr Mann mit dem älteren Sohn ausgereist sei, ständig Angst gehabt, dass ihren beiden jüngeren Kindern etwas passieren könnte. Sie hätten gehofft, dass der Krieg irgendwann zu Ende gehen würde, aber es sei immer schlimmer geworden. Sie sei zuhause, auf der Arbeit und auf dem Schulweg der Kinder ständig davon bedroht gewesen, dass etwas passieren könnte. Ihre Wohnung sei dann 2015 und 2016 durch Kriegshandlungen beschädigt worden, sodass sie den Entschluss gefasst habe, Syrien zu verlassen. In den letzten zwei Jahren, in denen sie noch in Syrien gewesen sei, habe sich vor ihrem Haus ein Kontrollpunkt des Regimes befunden, der Angriffsziel der Kriegsparteien gewesen sei. Daher seien sie ständig in Gefahr gewesen. Überall in Syrien, wo sie hätten hingehen können, habe es Kriegshandlungen gegeben. Da sie keine Zukunft für ihre Kinder in Syrien gesehen habe, sei sie nach Deutschland gekommen, um zunächst in Sicherheit leben zu können und eine Zukunftsperspektive zu haben. Danach gefragt, ob sie als Richterin Personenschutz gehabt habe, antwortete die Klägerin, so etwas gebe es in Syrien nicht. Näher zu dem Kontrollpunkt vor ihrem Haus befragt gab sie an, diesen habe es gegeben, weil in der Nähe der Zugang zur Luftwaffensicherheitsabteilung gewesen sei. Sie sei an diesem Kontrollpunkt jedes Mal kontrolliert und durchsucht worden. Die Frage, ob sie oder ihre jüngsten Kinder durch Kriegshandlungen verletzt worden seien, verneinte die Klägerin. Sie hätten aber immer befürchtet, durch Luftangriffe getötet zu werden. Wenn sich die Lage zugespitzt habe, seien sie in das Stadtzentrum geflüchtet und im Auto geblieben. Wenn sich die Lage beruhigt habe, seien sie dann wieder zurück nach Hause gefahren. Bei ihren Verwandten hätten sie keinen Schutz suchen können, da einige von ihnen im gleichen Stadtviertel gelebt hätten. Ihre Kinder hätten bis zur Ausreise die Schule besucht; wenn die Lage zu gefährlich geworden sei, habe die Schule sie kontaktiert und sie seien zuhause geblieben. Die letzten zwei Monate vor der Ausreise sei kein Schulbesuch mehr möglich gewesen. Die Frage, ob sie als Richterin in … jemals Probleme gehabt habe, verneinte die Klägerin, ebenso wie die Frage, ob sie als Richterin Gerichtsverhandlungen gegen Regimekritiker verhandelt habe. Regimekritikerverfahren würden ausschließlich in Damaskus geführt. In ihrem Gericht in … sei es um Zivilangelegenheiten gegangen wie beispielsweise Immobilienstreitigkeiten, Mietprobleme oder finanzielle Streitigkeiten. Auf die Frage, was ihr bei einer hypothetischen Rückkehr nach Syrien drohe, trug die Klägerin vor, sie würde ins Unbekannte zurückkehren, was ihr Angst mache. Außerdem habe sie Angst vor dem Krieg. Als Richterin habe sie das Land nicht verlassen dürfen; sie sei während ihres Urlaubs ausgereist, weshalb ihr eine Strafe drohen würde. Was sie konkret erwarten würde, wisse sie nicht genau. Bestimmt werde überall an den Grenzen nach ihr gefahndet, und sie würde eingesperrt werden. Durch die Ausreise habe sie außerdem ihren Job verloren. Sie sei aber bereit, zurück nach Syrien zu gehen, sobald der Krieg zu Ende sei und wieder Frieden herrsche. Die Frage, ob sie als Richterin einen Amtseid geleistet habe, bejahte die Klägerin. Sie habe geschworen, die syrischen Gesetze, im speziellen die Gerichtsordnung, zu achten.
3
Die Klägerin legte dem Bundesamt eine beglaubigte Übersetzung eines Schreibens des syrischen Justizministeriums vom … vor. Hierin wird bescheinigt, dass die Klägerin am … ihre Tätigkeit im Justizbereich aufgenommen habe. Aufgrund Beschlusses vom … sei sie befördert worden und arbeite seit dem … als Beraterin am Berufungsgericht … Ihr Bruttogehalt betrage … Syrische Lira.
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Mit Bescheid vom 26.06.2019 erkannte die Beklagte der Klägerin den subsidiären Schutzstatus zu (Ziffer 1) und lehnte den Asylantrag im Übrigen ab (Ziffer 2).
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Zur Begründung ist ausgeführt, die Klägerin sei kein Flüchtling im Sinne des § 3 AsylG. Aus ihrem Vorbringen sei weder eine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgungshandlung noch ein flüchtlingsrechtlich relevantes Anknüpfungsmerkmal ersichtlich. Sie habe keine individuelle zielgerichtete Verfolgungshandlung gemäß § 3a AsylG kundgetan und eine solche sei auch nicht ersichtlich. Selbst in ihrer jahrelangen Eigenschaft als Richterin für Zivilangelegenheiten bzw. im Dienst des syrischen Innenministeriums, die sie bis zu ihrer Ausreise ausgeübt habe, habe sie keinerlei Probleme gehabt, sodass sie gänzlich unverfolgt im Sinne der §§ 3a und 3b AsylG ausgereist sei. Für ihre Befürchtung, bei ihrer Rückkehr sogleich verhaftet zu werden, sei daher ein Verfolgungsgrund gemäß § 3b AsylG nicht ersichtlich, zumal sich die Klägerin eine freiwillige Rückkehr nach der Befriedung Syriens vorstellen könne. Auch sei keine mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohende Gefahr einer solchen Verfolgungshandlung ersichtlich. Ein Anspruch auf Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 26 AsylG liege ebenfalls nicht vor. Die Klägerin habe sich vor ihrer Asylantragstellung bereits fast zwei Jahre lang in der Bundesrepublik aufgehalten und sei weit nach Zuerkennung des Flüchtlingsschutzes für ihren Ehemann und ihren ältesten Sohn in die Bundesrepublik eingereist. Eine unverschuldete verzögerte Antragstellung sei im Falle der Klägerin weder kundgetan worden noch ersichtlich, sodass die Voraussetzungen des § 26 Abs. 1 Nr. 3 AsylG in ihrem Fall nicht gegeben seien. Eine Ableitung der Flüchtlingseigenschaft von ihren beiden minderjährigen Kindern sei nicht möglich, da diese nur einen abgeleiteten Schutzstatus hätten.
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Laut Aktenvermerk wurde der Bescheid am 26.06.2019 als Einschreiben zur Post gegeben.
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Mit Schriftsatz ihrer Prozessbevollmächtigten vom 12.07.2019, eingegangen bei Gericht am 15.07.2019, erhob die Klägerin Klage gegen den Bescheid und beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung der Ziffer 2 ihres Bescheids vom 26.06.2019 zu verpflichten, der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 AsylG zuzuerkennen.
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Zur Begründung ist ausgeführt, sie habe einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft sowohl aus eigenem Recht nach § 3 AsylG, als auch aus abgeleitetem Recht nach § 26 AsylG. Sie habe in Syrien als Zivilrichterin eine besondere Tätigkeit innegehabt und habe auf Antrag eine 90-tägige Freistellung von ihrer Tätigkeit erhalten, um ihren kranken Sohn in Deutschland besuchen zu können. Aufgrund ihrer besonderen Tätigkeit sei es nun mehr als wahrscheinlich, dass sie verfolgt werden würde, würde sie jetzt nach zwei Jahren und ohne, dass inzwischen Frieden eingekehrt sei, zurückkehren. Dies gelte trotz des Umstands, dass sie nicht wisse, welche Strafen sie bei einer Rückkehr in ein nicht befriedetes System konkret treffen würden. Gerade Richtern sei es nicht gestattet, ohne offizielle Erlaubnis das Land und den Arbeitsplatz zu verlassen. Aus anderen vergleichbaren Fällen sei ersichtlich, dass der syrische Staat das Stellen eines Asylantrags in Verbindung mit dem Aufenthalt im westlichen Ausland bereits als Ausdruck einer regimekritischen Haltung werte und zum Anknüpfungspunkt für Festnahme und Folter nehme. Bei der besonderen Tätigkeit, die sie in … als Zivilrichterin ausgeübt habe, sei davon auszugehen, dass eine solche Auslegung und Verfolgung mehr als wahrscheinlich sei. Ihr drohe damit mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr einer Verfolgung. Ihr die Flüchtlingseigenschaft zu versagen, weil sie gesagt habe, sie könne sich vorstellen, nach Syrien zurückzukehren, verkenne völlig die Realität in Syrien. Unverändert herrsche dort Krieg und es seien 400.000 Menschen auf der Flucht. Dass nach einer Befriedung des Landes und bei einer sicheren Zukunft für die Kinder eine Rückkehr nach Syrien denkbar sei, sei selbstverständlich und stehe der aktuellen Flüchtlingseigenschaft nicht entgegen. Darüber hinaus habe sie auch einen abgeleiteten Rechtsanspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 26 Abs. 1 i.V.m. Abs. 5 AsylG. Ihrem Ehemann sei die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden und die gesetzliche Überprüfung eines möglichen Widerrufs- oder Rücknahmeverfahrens sei mit Schreiben vom 17.05.2019 eingestellt worden. Der abgeleitete Schutz sei auch nicht durch eine schuldhafte Verzögerung verwirkt. Sie habe unverschuldet den Antrag erst im März 2019 gestellt, da sie bis dahin nicht von der Erforderlichkeit eines Antrags ausgegangen sei. Sie sei davon ausgegangen, dass mit der Einreisegenehmigung im Rahmen des Familiennachzugs alle erforderlichen Anträge gestellt worden seien. Alle sonstigen in Deutschland erforderlichen Meldungen und Anträge habe sie in … eigenhändig gestellt. Hätte sie von dem Erfordernis eines zusätzlichen Antrags nach § 26 AsylG gewusst, hätte sie auch unverzüglich einen Antrag gestellt. Die Frage nach dem Asylantrag sei erst im Rahmen der Anhörung ihrer minderjährigen Kinder gestellt worden; erst zu diesem Zeitpunkt habe sich gezeigt, dass nicht nur ihre Kinder, sondern auch sie einen eigenen Asylantrag stellen mussten. Dies habe sie daraufhin getan. Nachdem ihren Kindern die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden sei, habe sie davon ausgehen können, dass ein verspäteter Antrag kein relevantes Thema für sie sei. In ihrer Anhörung habe es dazu ebenfalls keine Fragen gegeben, sodass sie habe davon ausgehen können, dass der Zeitpunkt der Antragstellung keine Relevanz habe. Andernfalls hätte sie darlegen können, dass sie unverschuldet erst 2019 den Antrag gestellt habe.
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Die Klägerin legte dem Gericht eine beglaubigte Übersetzung eines Beschlusses des syrischen Justizministeriums vom … vor. Hierin wurde die Klägerin ab dem … für neunzig Tage von ihrer Tätigkeit beurlaubt. Die Beklagte beantragte mit Schriftsatz vom 26.07.2019,
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Zur Begründung bezog sie sich auf den angefochtenen Bescheid. Die Klägerin habe Syrien unverfolgt verlassen. Die Gewährung von Familienasyl scheitere daran, dass der Asylantrag nicht unverzüglich, also nicht ohne schuldhaftes Zögern, nach der Einreise gestellt worden sei. Die Rechtsprechung halte in der Regel eine Dauer von zwei Wochen für angemessen. Davon könne abgewichen werden, wenn sich aufgrund besonderer Umstände des Einzelfalls ergebe, dass kein Verschulden vorliege. Ein solches Unverschulden könne jedoch nur im Ausnahmefall festgestellt werden. Das bloße Nichtwissen der Notwendigkeit der Stellung eines Asylantrags reiche hierfür nicht aus, da beispielsweise eine Rechtsberatung kurz nach der Einreise möglich und gerade aus Sicht einer ehemaligen Richterin als sinnvoll zu erachten gewesen wäre.
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Die Prozessbevollmächtigte der Klägerin wies daraufhin mit Schriftsatz vom 26.08.2019 darauf hin, dass sie im Jahr 2015 den Ehemann und den Sohn der Klägerin vertreten habe. Erst seit der Anhörung im Frühjahr 2019 sei sie nun auch die anwaltliche Vertreterin der Klägerin.
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Mit weiterem Schriftsatz vom 20.09.2019 führte sie aus, dass es hinsichtlich des Familienasyls keine gesetzliche Ausschlussfrist gebe. Der Hinweis auf ein eigenständiges Verfahren sei erstmals in dem Verfahren, das die Klägerin gemeinsam mit ihrem Ehemann für die beiden minderjährigen Kinder geführt habe, erteilt worden. Daraufhin habe die Klägerin unverzüglich ihren Antrag gestellt. Das Thema sei auch nie von einer Ausländerbehörde angesprochen worden. Der Hinweis, die Klägerin hätte sich als Richterin für syrisches Zivilrecht in Deutschland Rechtsbeistand einholen müssen, widerspreche dem tatsächlichen Umgang mit den … Behörden. Dort habe die Klägerin sämtliche erforderlichen Anträge selbst gestellt.
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Mit Beschluss vom 21.04.2020 wurde der Rechtsstreit der Berichterstatterin als Einzelrichterin übertragen.
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Mit Beschluss vom 22.04.2020 wurde der Klägerin Prozesskostenhilfe bewilligt und ihr ihre Prozessbevollmächtige unter Beschränkung auf die Kosten eines im Gerichtsbezirk ansässigen Rechtsanwalts beigeordnet.
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Wegen des Verlaufs der mündlichen Verhandlung wird auf die Sitzungsniederschrift verwiesen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes wird gemäß § 117 Abs. 3 Satz 2 VwGO auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Behördenakten dieses Verfahrens Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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Das Gericht kann trotz des Nichterscheinens eines Vertreters der Beklagten im Termin zur mündlichen Verhandlung entscheiden, da die Beklagte bei der Ladung darauf hingewiesen worden ist, dass bei ihrem Ausbleiben auch ohne sie verhandelt und entschieden werden kann (§ 102 Abs. 1 und 2 VwGO).
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Die Klägerin hat einen Anspruch gegen die Beklagte auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, weshalb nach § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO die entsprechende Verpflichtung durch das Gericht auszusprechen war.
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1. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft im Rahmen des Familienasyls sind zwar nicht gegeben. Gemäß § 26 Abs. 5 i.V.m. Abs. 1 AsylG wird dem Ehegatten eines Ausländers, dem die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wurde, ebenfalls die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, wenn die Anerkennung des Ausländers unanfechtbar ist, die Ehe schon im Herkunftsstaat bestanden hat, der Ehegatte vor der Anerkennung des Ausländers eingereist ist oder er den Asylantrag unverzüglich nach der Einreise gestellt hat und die Flüchtlingseigenschaft des Ausländers nicht zu widerrufen oder zurückzunehmen ist. Dem Ehemann der Klägerin wurde die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt und diese ist nach Mitteilung des Bundesamtes auch nicht zu widerrufen. Doch hat die Klägerin ihren Asylantrag nicht unverzüglich nach der Einreise gestellt.
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Unverzüglich bedeutet entsprechend der Legaldefinition in § 121 BGB ohne schuldhaftes Zögern (vgl. BVerwG, Urteil vom13.05.1997 - Az. 9 C 35/96). Der Antrag muss danach zwar nicht sofort, aber - unter Berücksichtigung der persönlichen Lebensumstände des Ehegatten - alsbald gestellt werden. Dabei ist ihm einerseits eine angemessene Überlegungsfrist zuzubilligen, andererseits aber auch das von § 26 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AsylG verfolgte öffentliche Interesse, möglichst rasch Rechtsklarheit zu schaffen, zur Geltung zu bringen. In der Regel ist hiernach eine Frist von zwei Wochen angemessen und ausreichend. Ein späterer Antrag ist folglich regelmäßig nur dann rechtzeitig, wenn sich aufgrund besonderer Umstände im Einzelfall ergibt, dass der Antrag nicht früher gestellt werden konnte.
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Die Klägerin stellte ihren Asylantrag mit Schreiben vom 18.03.2019 und damit erst zwei Jahre nach ihrer Einreise in die Bundesrepublik Deutschland. Dies ist selbst bei sehr großzügiger Auslegung des Wortlauts des § 26 Abs. 1 AsylG nicht mehr als „alsbald“ zu werten. Es bestanden im Falle der Klägerin auch keine besonderen Umstände, aufgrund derer sie daran gehindert gewesen wäre, ihren Asylantrag bereits zu einem früheren Zeitpunkt zu stellen. Denn wie die Darlegungen der Klägerin in der mündlichen Verhandlung zeigten, waren ihr der Unterschied zwischen dem Flüchtlingsstatus ihres Mannes und ihres eigenen, vom Bestehen ihrer Ehe abhängigen, Aufenthaltsstatus und die daran anknüpfenden Folgen durchaus bewusst. Sie ging lediglich davon aus, selbst keinen eigenen Asylantrag stellen zu können, und berief sich nun darauf, es habe ihr niemand gesagt, dass dies möglich sei. Allerdings wäre es der ausgesprochen gebildeten Klägerin, die zudem mit ihrem Ehemann und ihrem ältesten Sohn Verwandte hat, die bereits deutlich länger als sie in der Bundesrepublik leben und sich entsprechend mit den Behörden besser auskennen, unzweifelhaft möglich und auch zumutbar gewesen, sich an einen Rechtsanwalt zu wenden oder sich schlicht beim Bundesamt direkt zu erkundigen, ob sie mit ihrer Annahme richtigliegt. Die Asylantragstellung nach über zwei Jahren erfolgte somit nicht mehr „ohne schuldhaftes Zögern“.
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2. Die Klägerin hat jedoch einen - eigenen, nicht abgeleiteten - Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 AsylG. Sie befindet sich nach Überzeugung des Gerichts aus begründeter Furcht vor Verfolgung durch den syrischen Staat wegen ihrer vermuteten politischen Überzeugung außerhalb Syriens.
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2.1 Nach § 3 Abs. 4 i.V.m. Abs. 1 AsylG besteht ein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft dann, wenn sich der Ausländer aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt oder dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will, und er keine Ausschlusstatbestände erfüllt. Eine solche Verfolgung kann nicht nur vom Staat ausgehen (§ 3c Nr. 1 AsylG), sondern auch von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen (§ 3c Nr. 2 AsylG) oder nicht staatlichen Akteuren, sofern die in Nrn. 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht (§ 3c Nr. 3 AsylG). Allerdings wird dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (§ 3e Abs. 1 AsylG).
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Für die richterliche Überzeugungsbildung im Sinne von § 108 Abs. 1 VwGO gilt Folgendes:
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Das Gericht muss sich die volle Überzeugung von der Wahrheit des behaupteten Verfolgungsschicksals und der Wahrscheinlichkeit der Verfolgungsgefahr bilden. Eine bloße Glaubhaftmachung in der Gestalt, dass der Vortrag lediglich wahrscheinlich sein muss, ist nicht ausreichend (vgl. grundlegend BVerwG, Urteil vom 16.04.1985 - Az. 9 C 109.84). Es ist vielmehr der asylrechtliche Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zu Grunde zu legen. Der Wahrscheinlichkeitsmaßstab setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhaltes die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Hierbei darf das Gericht jedoch hinsichtlich der Vorgänge im Verfolgerland, die zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder der Feststellung eines Abschiebungsverbotes führen sollen, keine unerfüllbaren Beweisanforderungen stellen, sondern muss sich in tatsächlich zweifelhaften Fragen mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit begnügen, auch wenn Zweifel nicht völlig auszuschließen sind (BVerwG, Urteil vom 16.04.1985 a.a.O.). Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 - Az. 10 C 23/12).
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Nach Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 ist hierbei die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von einer solchen Verfolgung und einem solchen Schaden bedroht wird. Diese Regelung privilegiert den von ihr erfassten Personenkreis bei einer Vorverfolgung durch eine Beweiserleichterung, nicht aber durch einen herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab. Die Vorschrift begründet für die von ihr begünstigten Antragsteller eine widerlegbare Vermutung dafür, dass sie erneut von einem ernsthaften Schaden bei einer Rückkehr in ihr Heimatland bedroht werden. Dadurch wird der Antragsteller, der bereits einen ernsthaften Schaden erlitten hat oder von einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, von der Notwendigkeit entlastet, stichhaltige Gründe dafür darzulegen, dass sich die einen solchen Schaden begründenden Umstände bei Rückkehr in sein Herkunftsland erneut realisieren werden.
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Als vorverfolgt gilt ein Schutzsuchender dann, wenn er aus einer durch eine eingetretene oder unmittelbar bevorstehende politische Verfolgung hervorgerufenen ausweglosen Lage geflohen ist. Die Ausreise muss das objektive äußere Erscheinungsbild einer unter dem Druck dieser Verfolgung stattfindenden Flucht aufweisen. Das auf dem Zufluchtsgedanken beruhende Asyl- und Flüchtlingsrecht setzt daher grundsätzlich einen nahen zeitlichen (Kausal-) Zusammenhang zwischen der Verfolgung und der Ausreise voraus.
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Es obliegt aber dem Schutzsuchenden, sein Verfolgungsschicksal glaubhaft zur Überzeugung des Gerichts darzulegen. Er muss daher die in seine Sphäre fallenden Ereignisse, insbesondere seine persönlichen Erlebnisse, in einer Art und Weise schildern, die geeignet ist, seinen geltend gemachten Anspruch lückenlos zu tragen. Dazu bedarf es - unter Angabe genauer Einzelheiten - einer stimmigen Schilderung des Sachverhalts. Daran fehlt es in der Regel, wenn der Schutzsuchende im Lauf des Verfahrens unterschiedliche Angaben macht und sein Vorbringen nicht auflösbare Widersprüche enthält, wenn seine Darstellungen nach der Lebenserfahrung oder auf Grund der Kenntnis entsprechender vergleichbarer Geschehensabläufe nicht nachvollziehbar erscheinen, und auch dann, wenn er sein Vorbringen im Laufe des Verfahrens steigert, insbesondere wenn er Tatsachen, die er für sein Begehren als maßgeblich bezeichnet, ohne vernünftige Erklärung erst sehr spät in das Verfahren einführt (VGH BW, Urteil vom 27.08.2013 - Az. A 12 S 2023/11; HessVGH, Urteil vom 04.09.2014 - Az. 8 A 2434/11.A).
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Gemessen an diesen Grundsätzen droht der Klägerin im Falle einer hypothetischen Rückkehr nach Syrien nach Überzeugung der Einzelrichterin dort mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG.
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Zwar hat sie - auch nach eigenem Vortrag - im Herkunftsland bislang keine Verfolgung erlitten. Zur Überzeugung des Gerichts droht ihr bei einer - hypothetischen - Einreise nach Syrien jedoch auch ohne Vorverfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung durch den syrischen Staat. Gemäß § 28 Abs. 1a AsylG kann die begründete Furcht vor Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Ausländer das Herkunftsland verlassen hat.
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2.2 Die Gefährdung der Klägerin kann zwar nicht schon im Hinblick darauf bejaht werden, dass ihr im Falle einer Rückkehr nach Syrien bereits allein wegen ihrer illegalen Ausreise, Asylantragstellung sowie längerem Auslandsaufenthalt beachtlich wahrscheinlich die Festnahme und damit verbunden die Gefahr von Folter drohen würde. In Bezug hierauf hat der Bayerische Verwaltungsgerichtshof (BayVGH) wiederholt entschieden, dass einem syrischen Staatsangehörigen bei einer unterstellten Rückkehr nach Syrien über den Flughafen Damaskus oder eine andere staatliche Kontrollstelle kein Flüchtlingsschutz zusteht (ständige Rechtsprechung des BayVGH, vgl. nur Urteil vom 12.12.2016 - Az. 21 B 16.30338, 21 B 16.30364, 21 B 16.30371; Urteil vom. 12.04.2017, a.a.O.; Urteil vom 20.06.2018 - Az. 21 B 17.31605).
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Ebenso reicht der Umstand, dass die Klägerin aus einem oppositionellen Gebiet, nämlich …, stammt, für sich genommen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht aus. Die Frage, ob allein die Herkunft aus einem Gebiet der Opposition („Rebellenhochburg“) zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft führt, ist mittlerweile in der obergerichtlichen Rechtsprechung in Deutschland einheitlich negativ entschieden (BayVGH, Beschluss vom 30.01.2020 - Az. 20 B 19.32952 m.w.N.; OVG für das Land Schleswig-Holstein, Urteil vom 16.08.2019 - Az. 5 LB 36/19, VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 27.03.2019 - Az. A 4 S 335/19; OVG für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 03.09.2018 - Az. 14 A 838/18.A).
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2.3 Bei der Klägerin liegen jedoch besondere individuelle Umstände vor, weshalb ihr vom syrischen Staat eine oppositionelle Haltung unterstellt werden könnte und ihr deshalb Verfolgungsmaßnahmen drohen. Aufgrund dessen ist es im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung und auf Grundlage der Erkenntnislage zur Überzeugung des Gerichts beachtlich wahrscheinlich, dass der Klägerin bei einer Einreise über den Flughafen Damaskus oder eine andere staatliche Kontrollstelle menschenrechtswidrige Maßnahmen drohen, insbesondere Folter als schwerwiegende Verletzung eines grundlegenden Menschenrechts (§ 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG, Art. 15 Abs. 2, Art. 3 EMRK).
34
Die Klägerin hat bereits bei ihrer Anhörung vor dem Bundesamt angegeben, seit 1998 in … Richterin für Zivilsachen gewesen zu sein, und erst kurze Zeit vor ihrer Ausreise an das Berufungsgericht befördert worden zu sein. Als Beleg für ihre Tätigkeit als Richterin legte sie in der mündlichen Verhandlung das Original einer entsprechenden Bescheinigung des syrischen Justizministeriums sowie ihren Dienstausweis aus dem Jahr 2008 vor. Zwar konnten diese Dokumente durch die Einzelrichterin nicht auf ihre Echtheit hin überprüft werden, ebenso wie nicht abschließend geklärt werden konnte, ob die Darlegungen der Klägerin etwa zum Einstellungsverfahren für die syrische Justiz den Tatsachen entsprechen. Sämtliche Erläuterungen der Klägerin zu ihrem Einstellungsverfahren, ihrem beruflichen Werdegang und dem Ablauf von zivilrechtlichen Gerichtsverfahren in Syrien waren jedoch schlüssig, detailliert und ohne Widersprüche. Hierdurch und auch aufgrund des Eindrucks der Klägerin während ihres Vortrags in der mündlichen Verhandlung gelangte die Einzelrichterin insgesamt zu der Überzeugung, dass die Schilderungen der Klägerin auf Tatsachen beruhen und sie tatsächlich seit 1998 als Zivilrichterin tätig war, davon seit 2016 am Berufungsgericht in … Aufgrund dessen droht ihr im Falle einer unterstellten Rückkehr nach Syrien zur Überzeugung der Einzelrichterin beachtlich wahrscheinlich eine Verfolgung wegen einer ihr unterstellten politischen Überzeugung, weil sie ihren Arbeitsplatz als Richterin am Berufungsgericht … unerlaubt für mehr als 90 Tage verließ und illegal ausreiste bzw. illegal über die erlaubten 90 Tage hinaus im Ausland verblieb, um dort Schutz zu suchen.
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Syrischen Staatsbediensteten ist das Verlassen des Landes ohne eine entsprechende Erlaubnis ihrer Beschäftigungsstelle grundsätzlich untersagt. Wer das Land unerlaubt verlassen hat, muss bei seiner Rückkehr mit einer Untersuchung rechnen, mit der die Gründe hierfür aufgeklärt werden sollen. Abhängig vom Ergebnis wird dann der Berichtslage zufolge versucht, eine Lösung zu finden, um eine Rückkehr an den Arbeitsplatz zu erleichtern; die Ursache dieser Kompromissbereitschaft wird darin gesehen, dass dem Regime daran gelegen sei, sich seine Unterstützer zu erhalten (vgl. Danish Immigration Service, Syria - Recruitment Practices in Governmentcontrolled Areas and in Areas under Opposition Control, Involvement of Public Servants and Civilians in the Armed Conflict and Issues Relating to Exiting Syria, August 2017, insbesondere S. 20, 58).
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Zwar ist es durchaus möglich, eine Ausreiseerlaubnis zu erhalten. So war auch die Klägerin mit Beschluss des syrischen Justizministeriums vom … für 90 Tage vom Dienst freigestellt, wobei ihrem Arbeitgeber bekannt war, dass sie in dieser Zeit in die Bundesrepublik reisen würde, da die Klägerin angegeben hatte, dass sie ihren kranken Sohn in Deutschland besuchen wolle. Allerdings kehrte sie nach den ihr gewährten 90 Tagen nicht wieder nach Syrien und an ihren Arbeitsplatz zurück, sondern blieb für mittlerweile über drei Jahre in Deutschland und beantragte hier Asyl. Die Klägerin hat also - wie sie plausibel und glaubhaft in der mündlichen Verhandlung schilderte - die syrischen Behörden über den Zweck ihrer Ausreise und ihre bereits zu diesem Zeitpunkt bestehende Absicht, vorerst nicht nach Syrien zurückzukehren, getäuscht und müsste im Falle ihrer Rückkehr schon aus diesem Grund mit hoher Wahrscheinlichkeit mit einer Untersuchung rechnen. Eine solche Untersuchung wäre auch schon deshalb sehr wahrscheinlich, weil davon auszugehen ist, dass sich die Klägerin im Falle einer Rückkehr nach Syrien über den Flughafen Damaskus oder eine andere staatliche Kontrollstelle einer Einreisekontrolle unterziehen müsste (so auch BayVGH, Urteil vom 12.04.2019 - Az. 21 B 18.32459), wobei ihr jahrelanges unerlaubtes Fernbleiben von ihrer Arbeitsstelle in … mit Sicherheit aufgedeckt werden würde.
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Für den - hypothetischen - Fall einer solchen Untersuchung erscheint es in Anbetracht der konkreten Umstände des vorliegenden Einzelfalles beachtlich wahrscheinlich, dass der Klägerin in Anknüpfung an ihr illegales Verbleiben in Deutschland und die damit verbundene Illoyalität gegenüber dem syrischen Regime eine oppositionelle Haltung unterstellt werden würde. Als maßgeblichen Grund hierfür sieht die Einzelrichterin an, dass die Klägerin als Richterin am Berufungsgericht … eine - auch nach außen hin - deutlich hervorgehobene Position im syrischen Verwaltungsapparat innehatte. Die Vergabe und das Innehalten eines solchen Amtes ist in diktatorischen Herrschaftssystemen wie dem syrischen schon der Lebenserfahrung nach und auch nach den überzeugenden Ausführungen der Klägerin in der mündlichen Verhandlung mit der Erwartung loyalen Verhaltens der Führung gegenüber verbunden. Dies gilt im Falle der Klägerin umso mehr, als diese über viele Jahre hinweg für die syrische Justiz arbeitete und erst kurze Zeit vor ihrer Ausreise an das Berufungsgericht befördert worden war, was mit Sicherheit als Zeichen eines besonderen Vertrauens der syrischen Regierung in sie gewertet werden kann. Die bewusste Täuschung ihres Arbeitgebers in Verbindung mit dem jahrelangen illegalen Fortbleiben der Klägerin von ihrem Arbeitsplatz, noch dazu in Zeiten der Krise, in der jeder höhere Beamte besonders wichtig für die Aufrechterhaltung der Macht der Regierung sein dürfte, würde demgemäß nach Ansicht der Einzelrichterin vom syrischen Regime beachtlich wahrscheinlich als schwerwiegender Bruch dieser Loyalität und damit einhergehend als Ausdruck der Gegnerschaft aufgefasst werden. Es liegt daher nahe, dass die - noch dazu aus einem ehemalig oppositionellen Gebiet stammende - Klägerin im Falle einer Rückkehr nach Syrien als Regimegegnerin behandelt und damit beachtlich wahrscheinlich der Gefahr politischer Verfolgung ausgesetzt wäre (vgl. hierzu für den Fall eines Schuldirektors OVG Koblenz, Urteil vom 12.04.2018 - Az. 1 A 10988/16.OVG).
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2.4 Auch spricht der Umstand, dass die in Syrien verbliebenen Geschwister der Klägerin bisher wegen ihrer Ausreise keinerlei Probleme mit den syrischen Behörden hatten, nach Ansicht der Einzelrichterin nicht gegen eine beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung der Klägerin bei ihrer hypothetischen Rückkehr nach Syrien. Denn zum einen dürfte den syrischen Behörden, insbesondere dem Justizministerium, wohl jedenfalls nicht mit Sicherheit bekannt sein, dass die Klägerin tatsächlich nach Deutschland gereist ist und weiterhin hier lebt. Denn nach der überzeugenden Aussage der Klägerin hatte sie seit ihrer Ausreise keinerlei Kontakt zu ihrer ehemaligen Dienststelle oder ehemaligen Kollegen in Syrien. Auch musste sie bisher ihren Reisepass noch nicht verlängern lassen, stand also auch noch nicht in Kontakt mit der syrischen Botschaft. So wäre es aus Sicht der syrischen Behörden etwa ebenso denkbar, dass die Klägerin in dem nach wie vor vom Bürgerkrieg beherrschten Syrien verstorben oder entführt worden sein könnte. Dass dies gerade nicht der Fall ist, würde sich erst im Falle ihrer Rückkehr nach Syrien zeigen. Und selbst wenn die syrischen Behörden bereits jetzt davon ausgehen sollten, dass die Klägerin tatsächlich wie beabsichtigt nach Deutschland gereist und schlicht nicht zurückgekommen ist, so wäre doch nicht zwingend zu erwarten, dass aus diesem Grund auch ihre Geschwister unter Druck gesetzt oder bestraft werden würden.
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3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83 b AsylG nicht erhoben. Die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff ZPO.