Inhalt

VG Augsburg, Urteil v. 14.07.2020 – Au 6 K 18.31090
Titel:

Erfolglose Klage von kurdischem Asylbewerber

Normenketten:
AsylG § 3 Abs. 1, § 3a Abs. 1 Nr. 2, § 3c, § 3d, § 4, § 77 Abs. 2, § 83b
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7
EMRK Art. 3, Art. 15 Abs. 2
RL 2011/95/EU Art. 15
Leitsätze:
1. Eine unbehelligte Ausreise aus der Türkei ist im Allgemeinen ein Indiz gegen das Vorliegen eines Haftbefehls oder einer Ausreisesperre und damit gegen ein staatliches Verfolgungsinteresse. (Rn. 24) (redaktioneller Leitsatz)
2. Es liegen keine Anhaltspunkte für eine staatliche oder staatlich geduldete Gruppenverfolgung ethnischer Kurden vor (Anschluss an VGH München BeckRS 2020, 6605). (Rn. 25) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Türkischer Asylbewerber kurdischer Volks- und muslimischer Religionszugehörigkeit, Klage auf Flüchtlingsanerkennung und subsidiären Schutz sowie Abschiebungsverbot, Tätigkeit als Textilunternehmer, Bedrohungen durch Organisierte, Kriminalität (Drogendealer), Behauptet ungenügender Schutz durch Polizei, Beschwerdemöglichkeit gegen die Einstellung des Ermittlungsverfahrens in der Türkei., Abschiebungsverbot, Asyl, Asylanerkennung, Aufenthaltsverbot, Ausreise, Visum, Reisepass, Kurden, Gruppenverfolgung
Fundstelle:
BeckRS 2020, 23209

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens zu tragen.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch die Beklagte durch Sicherheitsleistung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

1
Der seinem vorgelegten Nüfus und am ... 2017 ausgestellten Reisepass zu Folge am ... 1994 in ... in der Türkei geborene Kläger ist türkischer Staatsangehöriger kurdischer Volkszugehörigkeit muslimischer Religionszugehörigkeit und hielt sich vor seiner Ausreise zuletzt in ... im Stadtteil ... auf (BAMF-Akte Bl. 93). Er reiste nach eigenen Angaben am 27. Januar 2018 auf dem Luftweg aus der Türkei aus und mit einem ihm von der Deutschen Botschaft in An. zu Besuchszwecken erteilten Visum am selben Tag nach Deutschland ein, wo er erst am 21. März 2018 Asyl beantragte.
2
In seiner auf Türkisch geführten Dublin-Anhörung vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) am 31. März 2018 gab der Kläger im Wesentlichen seinen Reiseweg an (BAMF-Akte Bl. 9 ff.), er habe Onkel und Tante in Deutschland.
3
In seiner auf Türkisch geführten Dublin-Anhörung vor der Zentralen Ausländerbehörde am 3. April 2018 gab der Kläger ergänzend an (BAMF-Akte Bl. 104 ff.), er habe im Jahr 2014 seinen Wehrdienst geleistet und in ... und ... als Bekleidungshersteller gearbeitet. Er habe keinen Schleuser für die Flucht bezahlt und erwarte von Deutschland Sicherheit, um hier eine Familie zu gründen (ebenda Bl. 107).
4
Einem Treffer in der V.-Datenbank ist zu entnehmen, dass der Kläger erstmals am 26. November 2015 mit einem damals ein Jahr gültigen Reisepass und zuletzt am 17. Januar 2018 mit einem erneut ein Jahr gültigen Reisepass ein Besuchsvisum für Deutschland erhalten hatte (ebenda Bl. 83 ff.).
5
In seiner auf Türkisch geführten Anhörung vor dem Bundesamt am 23. März 2018 gab der Kläger im Wesentlichen an (BAMF-Akte Bl. 92 ff.), seine Eltern lebten noch an seiner Heimatsadresse; insgesamt seien sie elf Geschwister, zwei Brüder seien in Deutschland, vier Brüder und vier Schwestern in der Türkei sowie die Großfamilie (ebenda Bl. 94). Er habe bis zur fünften Klasse die Grundschule besucht und dann im Textilbereich und in der Landwirtschaft und auch als Schneider gearbeitet sowie sein eigenes Land in der Landwirtschaft bewirtschaftet; die Ausreise habe er mit eigenen Ersparnissen bezahlt und mithilfe seines in Deutschland lebenden Bruders; seinen Wehrdienst habe er auf sechs Monate verkürzen können, weil er Schmiergelder gezahlt und einen gesundheitlichen Bericht vorgelegt habe (ebenda Bl. 94).
Zu seinen Ausreisegründen gab er an, er habe bei sich im Textilbetrieb in ... einen Angestellten namens ... gehabt, der eines Tages bewusstlos zu Boden gegangen und ins Krankenhaus gebracht worden sei, wo man festgestellt habe, dass er eine große Dosis an Rauschmitteln zu sich genommen hätte. Deswegen sei die Polizei später zum Kläger gekommen und habe auch bei der Kleidung des Angestellten im Geschäft Rauschgift gefunden. Sie alle seien festgenommen und verhört worden; der Angestellte habe dann im Krankenhaus das Bewusstsein wiedererlangt und eine Aussage machen können und angegeben, er habe die Drogen am selben Tag gekauft, sei deswegen nervös gewesen und habe die große Dosis genommen. Er habe dann Namen von Leuten genannt, die ihn angeblich dazu gezwungen hätten, diese Drogen für sie zu verkaufen. Danach habe der Kläger dem Angestellten kündigen müssen und für ihn eine neue Person eingestellt (ebenda Bl. 94).
Nach einiger Zeit hätten die Leute angefangen, den Kläger zu belästigen und unter Druck zu setzen, dass er verantwortlich sei für die Kündigung eines ihrer Helfer und sie hätten ihn zwingen wollen, für sie Rauschmittel zu verkaufen, was er abgelehnt habe. Bei der Diskussion hätten ihn drei Leute verprügelt. Nach ein paar Tagen, am 2. Dezember 2015, habe er abends von der Arbeit heim gehen wollen und sei von einem Nachbarn angerufen worden, dass die Fenster geputzt und Alarm ausgelöst worden seien; er habe die Polizei informiert und der Kläger solle schnell zu seinem Geschäft kommen. Der Kläger habe die Kameraaufnahmen überprüft und am nächsten Tag zur Polizei gebracht und diesen alles erzählt, auch, dass er verprügelt worden sei. Gemeinsam hätten sie die Aufnahmen angeschaut und er habe die Polizei gebeten, diese Leute alle festzunehmen, auch der Angriff auf den Laden sei für alle sichtbar gewesen und die Leute hätten Dönermesser in ihren Händen gehabt und seien nicht maskiert gewesen (ebenda Bl. 95). Der Kläger habe die CD dort gelassen und seine Aussage gemacht und ihm sei mitgeteilt worden, dass die Akte nach ... ans Gericht geschickt worden sei (ebenda Bl. 95).
Auf Einladung seines Bruders sei der Kläger am 4. Dezember 2015 mit einem Visum nach Deutschland gereist und am 27. Februar 2016 zurückgekehrt in die Türkei, wo er seine Arbeit wie üblich aufgenommen habe. Zwei seiner Angestellten seien von diesen Personen mit dem Tod bedroht worden, wenn sie weiter für den Kläger arbeiten würden; sie hätten ihm auch mitteilen lassen, dass sie den Kläger umbrächten, wenn er das Geschäft nicht schlösse. Es sei wieder zu Handgreiflichkeiten mit dieser Gruppe gekommen. Sie wollten einen Ersatz für die Rauschgiftmenge haben, die bei seinem Angestellten festgestellt worden sei; der Kläger solle entweder das Geld dafür bezahlen oder für sie arbeiten. Er sei dann wieder zur Polizei gegangen und habe den Vorfall berichtet und erfahren, dass auch diese Beschwerde ohne jegliche Ermittlung nach ... ans Gericht geschickt worden sei (ebenda Bl. 95).
Die Personen seien bei den Bedrohungen nicht dabei gewesen, sondern hätten andere Personen dafür geschickt; da der Kläger weder das Verlangte habe tun wollen noch sonst seine Karriere dort zu Ende gewesen wäre, sei er zu fliehen gezwungen gewesen und nach ... gegangen (ebenda Bl. 95).
Ab und zu habe er bei der Polizei nachgefragt, was mit der Akte passiert sei. Der bei der Polizei für den Bezirk zuständige Beamte habe ihn gewarnt und gesagt, dass diese Personen mächtiger sein, als man annehmen würde. Am besten wäre es, wenn er sich einen anderen Ort suchen oder ins Ausland fliehen würde; seine Akte sei immer noch im ... in ... bei Gericht; es würden auch keine weiteren Ermittlungen durchgeführt (ebenda Bl. 95). Der Beamte hätte ihm auch gesagt, auch wenn er ihnen das geforderte Geld gebe, würden sie nicht aufhören, sondern weiter Geld von ihm verlangen. Er habe ihm auch gesagt, dass er nicht in der Lage sei, ihn zu schützen oder Schutz zu gewähren; sie hätten selbst Probleme mit diesen Leuten dort und seien mit der Bekämpfung der Terroristen der PKK sehr beschäftigt. Hinter diesen Männern stünden große Politiker, deswegen sei die Akte stillgelegt worden (ebenda Bl. 95).
Der Kläger habe dann angefangen, als Angestellter einer Textilfirma in ... zu arbeiten. Nach sechs oder sieben Monaten hätten die Leute ihn dort ausfindig gemacht und ihm gesagt, es gebe keinen Ausweg, sie würden ihn finden, wohin er gehe; sie hätten ihm befohlen, zu seiner Arbeitsstelle nach ... zurückzukehren und sich für sie zu betätigen. Die Anzeige würde ihnen nichts ausmachen, da sie im Apparat des Staates tief verwurzelt seien; ein Mann habe ihm sogar die CD mit den Aufnahmen, die er bei der Polizei gelassen habe, gezeigt. Der Kläger habe daraufhin erneut eine Anzeige bei der Polizei in ... gestellt (ebenda Bl. 95).
Er habe Kopien von der Aufnahme auf seinem USB-Stick gehabt und diesen der Polizei ausgehändigt, aber der Polizist habe ihm gesagt, dass die Anzeige umsonst sei und nichts bringen würde, gegen diese Leute würden bereits andere Anzeigen vorliegen, aber nichts unternommen. Vielmehr habe ihm der Polizist geraten, zu seinem Bruder nach Deutschland zu gehen, da er dort sicher sei und Schutz bekommen würde und es dort keine Mafia geben würde, sondern Gesetze und Regeln. Der Polizist habe ihm gesagt, das Einzige, was er machen könne, sei wieder eine Anzeige zu schreiben und die Akte ans Gericht nach ... zu schicken. Der Kläger habe in ... dann Angst gehabt, aus dem Haus zu gehen und keine sozialen Aktivitäten mehr gehabt, auch seine Freunde hätten ihn gewarnt und gesagt, es sei besser ins Ausland zu gehen, die Täter würden so lange Druck auf ihn ausüben, bis er psychisch krank werde oder Selbstmord begehe (ebenda Bl. 95 f.).
Der Kläger ergänzte noch, er wolle sich höchstens für eineinhalb Jahre in Deutschland aufhalten und dann zurück in die Türkei, wenn sich der Vorfall gelöst habe; auf Nachfrage einer Lösung meinte er, er habe Hoffnung, es werde vergessen, wenn nicht, müsse er wieder zurück nach Deutschland; er sei auch ausgereist, weil er nicht wollte, dass seine Familie in die Sache verstrickt werde (ebenda Bl. 96).
Für den Fall der Rückkehr in die Türkei fürchte er, müsse er ständig seine Adresse ändern und dürfe keinen Kontakt zu seiner Familie halten; es gebe keinen sicheren Landesteil in der Türkei für ihn, finanziell sei er nicht in der Lage, dauernd seinen Wohnort und seinen Arbeitsplatz zu ändern, auch könnten ihn die Männer überall finden, sie seien ständig in dem Viertel im ... gewesen, wo sein Laden gelegen habe; wo sie herkämen, wisse er nicht (ebenda Bl. 96).
Auf Nachfrage verneinte er, diese seien nicht bei ihm zu Hause gewesen, weder in, noch in seiner Wohnung in, wo er mit seinem älteren Bruder in einer Wohnung zusammengelebt habe […]; Er sei im März oder April 2016 zurückgegangen nach ... und dann noch mal für eine Woche nach ... zurückgegangen zum Besuch (ebenda Bl. 97).
Auf Nachfrage nach den Personenbeschreibungen bei der Polizei erklärte der Kläger, die Gesichter seien auf den Aufnahmen deutlich zu sehen gewesen und jene Personen, die den Laden angegriffen hätten, seien nicht die vier oben genannten Personen gewesen, welche sein Angestellter genannt habe. In der einen Woche, als er zu Besuch in ... gewesen sei, habe er bei der Polizei nachgefragt und erfahren, dass die Akte immer noch auf Eis liege (ebenda Bl. 96).
Unterlagen zur Geschichte wie seine Anzeige habe er nicht, dafür müsste er in die Türkei zurückgehen, wolle aber seine Familie nicht in die Sache hineinziehen, sie wisse nichts von der Geschichte, nur sein Bruder hier in Deutschland wisse davon; seiner Familie habe er gesagt als Ausrede, ihm gefalle es in Deutschland (ebenda Bl. 97).
6
Auf dem Kontrollbogen bestätigte der Kläger, es habe bei der in türkischer Sprache durchgeführten Anhörung keine Verständigungsschwierigkeiten gegeben, das rückübersetzte Protokoll entspreche seinen Angaben und diese seien vollständig und entsprächen der Wahrheit (BAMF-Akte Bl. 101).
7
Das Bundesamt lehnte mit Bescheid vom 30. Mai 2018 den Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Nr. 1), auf Asylanerkennung (Nr. 2) und auf Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus (Nr. 3) sowie auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG ab (Nr. 4). Die Abschiebung in die Türkei wurde angedroht (Nr. 5). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 6).
Zur Begründung führte das Bundesamt aus, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und die Anerkennung als Asylberechtigter nicht vorlägen, weil der Kläger eine Verfolgung im Herkunftsstaat nicht habe glaubhaft machen können. Die geschilderten Probleme des Klägers knüpften selbst bei Wahrunterstellung nicht an ein Verfolgungsmerkmal an, sondern stellten kriminelles Unrecht dar. Der Kläger wolle zudem nach eigenem Bekunden bereits zu Beginn der dargestellten Ereignisse mit der Polizei kooperiert haben und der Polizei in dem ihm möglichen Maße Hinweise und Beweismaterial für eine erfolgreiche Ermittlungsarbeit zur Verfügung gestellt haben. Zu den Anzeigen bei der Polizei, der Abgabe von Beweismaterial und seiner Nachfragen zum Ermittlungsstand und zum Fortgang des entsprechenden Gerichtsverfahrens habe er jedoch keine Schriftstücke oder andere Nachweise vorgelegt und stütze seine Darstellung lediglich auf seinen mündlichen Sachvortrag in der Anhörung. Damit komme er seiner Beweislast nicht nach. Er sei auch geplant und legal aus der Türkei ausgereist, was auch durch die ordnungsgemäße Beantragung und Gewährung seines Visums und seine legale Ausreise auf dem Luftweg dokumentiert sei. Gründe, warum es dem Kläger nicht möglich gewesen sein soll, die beschriebenen Ereignisse neben seinem mündlichen Sachvortrag auch durch andere Dokumente zu verifizieren, hat der Kläger nicht vorgetragen. Eine erhöhte Beweislast für die Richtigkeit seiner Darstellung gehe in diesem Falle deshalb auf den Kläger über. Der Kläger könne entsprechende Schriftstücke bei der türkischen Polizei oder bei türkischen Gerichten mit Aufwand erlangen. Die türkische Polizei und die türkischen Gerichte seien willens und in der Lage, staatlichen Schutz zu gewähren. Überdies hätte der Kläger - selbst bei Wahrunterstellung der Untätigkeit allgemeiner Polizeidienststellen - sich eigeninitiativ direkt an die Spezialeinheit „K. v. O. S. M. D. B.“ (Schmuggel und organisierte Kriminalität) wenden können, welche insbesondere zuständig für Drogenkriminalität und Drogenschmuggel sei, um Schutz vor seinen Peinigern aus der Drogen-Szene zu ersuchen. Der Kläger muss sich vorhalten lassen, eine entsprechende Recherche zu den staatlichen Stellen, welche ihm den benötigten Schutz hätten bieten können, unterlassen zu haben. Es sei den staatlichen türkischen Schutzakteuren nicht möglich gewesen, geeignete Schritte einzuleiten, um einer nichtstaatlichen Verfolgung oder einem ernsthaften Schaden des Klägers entgegenzuwirken. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus lägen ebenfalls nicht vor. Auch Abschiebungsverbote seien nicht ersichtlich. Die derzeitigen humanitären Bedingungen in der Türkei würden nicht zu der Annahme führen, dass bei einer Abschiebung des Klägers eine Verletzung des Art. 3 EMRK vorliege. Die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots sei angemessen. Schutzwürdige Belange seien nicht vorgetragen worden.
8
Gegen diesen ihm am 4. Juni 2018 zugestellten Bescheid ließ der Kläger am 13. Juni 2018 Klage erheben mit dem Antrag:
9
Unter entsprechender Aufhebung des Bescheids des Bundesamts vom 30. Mai 2018 wird die Beklagte verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, hilfsweise subsidiären Schutz zuzuerkennen, weiterhin hilfsweise festzustellen, dass ein nationales Abschiebungshindernis nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegt.
10
Weiter begehrte er Prozesskostenhilfe, welche der Einzelrichter mit Beschluss vom 6. Mai 2020 ablehnte, und ließ vorbringen, er sei in Lebensgefahr. Er ließ eine CD mit einer Videodatei vorlegen, auf der erkennbar ist, wie Männer nachts ein Haus betreten, wieder herauskommen, mit einem Kleinbus wegfahren und später Polizei erscheint. Weiter ließ er eine Kopie eines auf den 2. Dezember 2015 datierten Polizeiberichts, dessen auszugsweiser Übersetzung eine Zeugenaussage des Klägers als Geschädigtem über die Beschädigung seiner Betriebsräume und der Verweis auf ein Überwachungsvideo eines Nachbargebäudes hierzu zu entnehmen ist (VG-Akte Bl. 36 f.). Das Protokoll des Bundesamts sei insofern unzutreffend, als er zwar von einem Nachbarn angerufen und informiert worden sei, aber nicht, dass die Fenster geputzt, sondern dass die Fenster eingeschlagen seien. Die Polizei habe dann Spuren gesichert.
Das Schreiben habe er von seinem Bruder zugesandt erhalten. Die Staatsanwaltschaft habe die Ermittlungen eingestellt, festgestellt, dass im Justizinformationssystem keine Anzeige aus ... vorhanden sei und keine verwertbaren belastbaren Beweise außer der Aussage des Klägers vorlägen; hiergegen sei der Rechtsbehelf der Beschwerde gegeben.
Einer erneuten Übersetzung des Schriftstücks sei zu entnehmen, dass es eine Verfahrenseinstellung durch die Staatsanwaltschaft vom 29.11.2018 sei mangels belastbarer Beweise, einer verwertbaren Videoaufzeichnung oder belastbarer Zeugenaussagen. Über eine Anzeige in ... sei im Datenbanksystem nichts hinterlegt (VG-Akte Bl. 70). Das Rechtsmittel der Beschwerde hiergegen sei statthaft.
11
Die Beklagte hat keinen Antrag gestellt. Sie tritt der Klage inhaltlich entgegen und macht geltend, das vorgelegte Schriftstück sei kein Polizeibericht vom 29. November 2018, sondern wohl eine Verfahrenseinstellung durch einen türkischen Staatsanwalt, in der nur ein Verdächtiger (...) genannt sei und nicht mehrere Angreifer, wie der Kläger behauptet habe. Auch sei unklar, wie der Bruder des Klägers dieses Schriftstück habe beschaffen können, wenn der Kläger noch in seiner Anhörung selbst behauptet habe, zur Beschaffung von Nachweisen in die Türkei zurückkehren zu müssen. Der türkische Staat sei jedenfalls durch seine Sondereinheit zur Bekämpfung organisierter Kriminalität und von Drogenkriminalität schutzwillig und schutzfähig.
12
Die Regierung von ... als Vertreterin des öffentlichen Interesses hat auf jegliche Zustellungen mit Ausnahme der Endentscheidung verzichtet.
13
Der Kläger wurde im November 2019 zu seinem Bruder nach ... umverteilt.
14
Mit Beschluss vom 19. März 2020 wurde der Rechtsstreit dem Einzelrichter zur Entscheidung übertragen. Mit der Ladung übersandte das Gericht eine aktuelle Erkenntnismittelliste.
15
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichts- und die von der Beklagten vorgelegte Behördenakte sowie das Protokoll der mündlichen Verhandlung verwiesen.

Entscheidungsgründe

16
Die zulässige Klage ist nicht begründet. Der Kläger hat zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, auf die Gewährung subsidiären Schutzes oder auf ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 AufenthG (§ 113 Abs. 5 VwGO). Der angefochtene Bescheid des Bundesamtes vom 30. Mai 2018 ist daher rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Es wird insoweit in vollem Umfang Bezug genommen auf die Gründe des angefochtenen Bescheids (§ 77 Abs. 2 AsylG) und ergänzend ausgeführt:
17
1. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG.
18
Nach § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Ein Ausländer ist nach § 3 Abs. 1 AsylG Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560 - Genfer Flüchtlingskonvention), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb seines Herkunftslandes befindet.
19
Im Einzelnen sind definiert die Verfolgungshandlungen in § 3a AsylG, die Verfolgungsgründe in § 3b AsylG und die Akteure, von denen eine Verfolgung ausgehen kann bzw. die Schutz bieten können, in §§ 3c, 3d AsylG. Einem Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG, der nicht den Ausschlusstatbeständen nach § 3 Abs. 2 AsylG oder nach § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG unterfällt oder der den in § 3 Abs. 3 AsylG bezeichneten anderweitigen Schutzumfang genießt, wird die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt (§ 3 Abs. 4 AsylG). Als Verfolgung i.S.d. § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG gelten Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Art. 15 Abs. 2 EMRK keine Abweichung zulässig ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG), oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG). Zwischen den Verfolgungsgründen (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG i.V.m. § 3b AsylG) und den Verfolgungshandlungen - den als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen, § 3a AsylG - muss für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft eine Verknüpfung bestehen (§ 3a Abs. 3 AsylG).
20
Eine Verfolgung i.S.d. § 3 AsylG kann nach § 3c Nr. 3 AsylG auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen, sofern der Staat oder ihn beherrschende Parteien oder Organisationen einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor der Verfolgung zu bieten.
21
Für die Beurteilung der Frage, ob die Furcht des Betroffenen vor Verfolgung begründet i.S.v. § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG ist, gilt einheitlich der Prognosemaßstab der tatsächlichen Gefahr („real risk“), der demjenigen der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, U.v. 4.7.2019 - 1 C 31/18 - juris Rn. 16) entspricht.
22
Der Wahrscheinlichkeitsmaßstab setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegensprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (vgl. BVerwG, U.v. 4.7.2019 - 1 C 31/18 - juris Rn. 16).
23
a) Daran fehlt es vorliegend. Der Kläger ist - wie die Beklagte nachvollziehbar ausgeführt hat - nicht wegen eines individuellen Verfolgungsmerkmals in der Türkei unter Druck geraten, sondern - unter vorläufiger Wahrunterstellung seiner Angaben - wegen ihm durch private Dritte angetanem bzw. angedrohtem kriminellen Unrecht. Damit liegt keine flüchtlingsrelevante Verfolgung vor, weder seitens Privater noch seitens des türkischen Staats.
24
Gegen ein staatliches Verfolgungsinteresse spricht zudem die unbehelligte Ausreise mit eigenem Reisepass. Da in der Türkei strenge Ausreisekontrollen stattfinden, wird türkischen Staatsangehörigen, gegen welche ein vom türkischen Innenministerium oder von einer Staatsanwaltschaft verhängtes Ausreiseverbot vorliegt und die auf einer entsprechenden Liste stehen, bereits die Erteilung eines Reisepasses versagt oder sie werden bei Besitz eines Reisepasses an der Ausreise gehindert (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an das BAMF vom 11.6.2018, S. 1 f.; näher dazu unten). Ein Personalausweis hingegen wird ausgestellt (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 8.8.2020 an das VG Augsburg zu Frage 14). Ob eine Ausstellung eines Reisepasses und eine unbehelligte Ausreise auch durch Bestechung erlangt werden können, kann nicht ausgeschlossen werden (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 8.8.2020 an das VG Augsburg zu Frage 15 und 16); im Allgemeinen aber ist eine unbehelligte Ausreise ein Indiz gegen das Vorliegen eines Haftbefehls oder einer Ausreisesperre (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft vom 10.4.2019 an das VG Regensburg, S. 2 f. zu Frage 7) und damit gegen ein staatliches Verfolgungsinteresse.
25
b) Eine Gruppenverfolgung allein wegen einer Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Kurden haben Asylbewerber aus der Türkei nicht zu befürchten. Kurden gehören zu einer weit verbreiteten Bevölkerungsgruppe in der Türkei; Anhaltspunkte für eine staatliche oder staatlich geduldete Gruppenverfolgung ethnischer Kurden liegen nicht vor (vgl. SächsOVG, B.v. 9.4.2019 - 3 A 358/19 - Rn. 13; BayVGH, B.v. 10.2.2020 - 24 ZB 20.30271 - Rn. 6).
26
2. Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Gewährung subsidiären Schutzes i.S. des § 4 Abs. 1 AsylG. Er hat keine stichhaltigen Gründe für die Annahme vorgebracht, dass ihm bei einer Rückkehr in die Türkei ein ernsthafter Schaden i.S. des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nrn. 1 bis 3 AsylG droht.
27
Ein Ausländer ist subsidiär Schutzberechtigter nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 AsylG i.V.m. Art. 15 RL 2011/95/EU die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe, Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts.
28
Die Aufenthaltsbeendigung eines Ausländers durch einen Konventionsstaat kann Art. 3 EMRK verletzen, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme vorliegen und bewiesen sind, dass der Ausländer im Zielstaat einer Abschiebung tatsächlich Gefahr läuft, Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung ausgesetzt zu werden. Dann ergibt sich aus Art. 3 EMRK die Verpflichtung für den Konventionsstaat, den Betroffenen nicht in dieses Land abzuschieben (vgl. EGMR, U.v. 13.12.2016 - 41738/10 - NVwZ 2017, 1187 ff. Rn. 173 m.w.N.).
29
a) Der Kläger hat eine ernsthafte Bedrohung, so sie eine Gefährdungslage i.S. des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AsylG in Gestalt der Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe begründen würde, nicht glaubhaft gemacht.
30
Die Todesstrafe ist in der Türkei abgeschafft (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei vom 14.6.2019, S. 21, 236 - im Folgenden: Lagebericht). Für extralegale Hinrichtungen liegen derzeit keine Anhaltspunkte vor. Gegen etwaige Tötungen durch private Dritte ist der türkische Staat - wie jeder Staat nicht lückenlos - schutzfähig, aber doch grundsätzlich schutzwillig. Der Kläger hätte sich insoweit, ggf. mit anwaltlicher Hilfe, des Schutzes des türkischen Staats und insbesondere der Spezialabteilung gegen organisierte Kriminalität und Drogenkriminalität versichern können, worauf die Beklagte nachvollziehbar hinweist.
31
b) Der Kläger hat eine ernsthafte Bedrohung, so sie eine Gefährdungslage i.S. des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG wegen Folter, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung begründen würde, nicht glaubhaft gemacht. Hierzu gilt das soeben Gesagte entsprechend.
32
Der türkische Staat ist grundsätzlich schutzfähig und schutzwillig. Der Kläger hat hier nicht alle zur Verfügung stehenden Mittel und Wege für staatlichen Schutz im Herkunftsstaat ausgeschöpft, bevor er im Ausland Schutz gesucht hat: So hätte sich der Kläger, wenn er der örtlichen Polizei nicht vertraute wegen seines Verdachts ihrer Verstrickung mit der Drogenmafia, zumindest über einen türkischen Anwalt Kontakt zur höheren Polizeiebene oder zur Spezialeinheit „K. v. O. S. M. D.i B.“ (Schmuggel und organisierte Kriminalität), welche insbesondere für die Bekämpfung von Drogenkriminalität und Drogenschmuggel zuständig ist, aufnehmen können. Auch wenn bereits Rauschgiftfahnder am Tatort gewesen sein sollten (vgl. Protokoll vom 14.7.2020 S. 4), wäre die Verständigung der Spezialeinheit nicht ausgeschlossen gewesen. Ebenso hätte er versuchen können, durch Melde- und Auskunftssperre zusätzlichen Schutz zu erlangen, auch vor Eintragungen in das Sozialversicherungssystem und in e-Devlet. Ebenso hätte er gegen die Verfahrenseinstellung durch die Staatsanwaltschaft Beschwerde einlegen und - mit einem in der Türkei Bevollmächtigten - auch die Beschwerdefrist wahren sowie ggf. auf weitere Beweise hinweisen können. Dass er von dieser Möglichkeit nicht gewusst habe, wie er in der mündlichen Verhandlung angab (vgl. Protokoll vom 14.7.2020 S. 3 f., 5 f.), ändert daran nichts, denn auch im ihm fremden Deutschland hat er sich anwaltlicher Hilfe bedient.
33
d) Soweit der Kläger lokal oder regional begrenzte Gefahren erlitten hat oder befürchtet, kann er, da er nicht landesweit in dieser Gefahr ist (vgl. oben), diesen durch Umzug in andere Landesteile zumutbar ausweichen (§ 3e i.V.m. § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG), wie er es auch durch Umzüge zwischen ... und ... getan hat. Dass er in ... in seinem Betrieb (aber nicht an seiner Wohnung) gesucht, gefunden und aufgesucht wurde, ebenso in ... in der Nähe seiner Familie, schließt einen Wechsel in andere Regionen, zu denen der Kläger keinen solchen Ortsbezug gehabt hat, oder ggf. unter Vorkehrungen der o.g. Spezialeinheit (Auskunftssperre etc., vgl. oben) nicht aus.
34
3. Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG liegen ebenfalls nicht vor. Auf den Bescheid des Bundesamts wird Bezug genommen (§ 77 Abs. 2 AsylG). Der erwachsene, gesunde und erwerbsfähige sowie langjährig erwerbstätige Kläger würde im Fall seiner Abschiebung in die Türkei keiner besonderen Ausnahmesituation ausgesetzt sein, die mit hoher Wahrscheinlichkeit dazu führen würde, dass seine elementarsten Bedürfnisse im Sinne eines absoluten Existenzminimums nicht gesichert wären.
35
4. Nachdem sich auch die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes nach § 11 Abs. 1 AufenthG als rechtmäßig erweist, war die Klage mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG). Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.