Titel:
Unzulässige Abschiebungsanordnung im Dublin-Verfahren: keine Trennung von Mutter und Kleinkind
Normenketten:
VO (EU) Nr. 604/2013 Art. 20 Abs. 3
AufenthG § 11, § 75 Nr. 12
AsylG § 34a Abs. 1 S. 1, § 31 Abs. 1 S. 5
GG Art. 6
Leitsatz:
Ist die Überstellung eines minderjährigen Kindes in den zuständigen Dublin-Staat wegen der gerichtlich angeordneten aufschiebenden Wirkung der Klage ausgeschlossen, darf keine Abschiebungsanordnung gegenüber der Mutter ergehen. (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Dublin-Verfahren (Italien), Frau mit siebenjährigem Kind, erneute Abschiebungsanordnung nach verwaltungsgerichtlicher Aufhebung der ursprünglichen Abschiebungsanordnung, Rechtsmittel bezüglich verwaltungsgerichtlichem Urteil;, weiteres Klageverfahren des Sohnes / Bruders mit aufschiebender Wirkung anhängig;, Abschiebung nicht durchführbar;, Anordnung und Befristung des Einreise- / Aufenthaltsverbots daher ebenfalls rechtswidrig, Asylantrag, Dublin-Verfahren, Abschiebungsanordnung, Italien, Kleinkinder, inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis, minderjähriges Kind
Fundstelle:
BeckRS 2020, 23206
Tenor
I. Der Bescheid der Beklagten vom 23.7.2020 (Gesch.-Z.: 7163771-272) wird aufgehoben.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.
Tatbestand
1
Die Klägerinnen wenden sich gegen eine Abschiebungsanordnung sowie die Anordnung und Befristung eines Einreise- und Aufenthaltsverbots.
2
Nach ihren Angaben sind die Klägerinnen Staatsangehörige S. L.. Ihre am 11. Juli 2017 gestellten Asylanträge lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) mit Bescheid vom 15. August 2017 als unzulässig ab (1.). Das Vorliegen von Abschiebungsverboten gem. § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG wurde verneint (2.). Die Abschiebung der Klägerinnen nach Italien wurde angeordnet (3.). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde auf sechs Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (4.). Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass die Asylanträge der Klägerinnen gem. § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG unzulässig seien, weil gem. Art. 18 Abs. 1 Buchst. b i.V.m. Art. 3 Abs. 2 Dublin III-VO Italien für die Behandlung der Asylanträge zuständig sei. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Begründung des Bescheids vom 15. August 2017 Bezug genommen (§ 77 Abs. 2 AsylG).
3
Die seinerzeit in Freyung wohnhaften Klägerinnen erhoben gegen den Bescheid vom 15. August 2017 Klage zum Verwaltungsgericht Regensburg (RN 7 K 17.51851). Ferner stellten sie dort einen Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage, dem das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 5. Oktober 2017 entsprach (RN 7 S 17.51850).
4
Mit Bescheid vom 7. Dezember 2017 wies die Regierung von Schwaben die Klägerinnen dem Landkreis Au. zu.
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Am XX.XX.2018 wurde in Au. der Sohn bzw. Bruder der Klägerinnen,, geboren. Dessen gem. Art. 14a Abs. 2 Satz 3 AsylG als gestellt geltenden Asylantrag lehnte das Bundesamt mit Bescheid vom 12. Dezember 2019 in Anwendung von Art. 20 Abs. 3 Dublin III-VO als unzulässig ab und ordnete dessen Abschiebung nach Italien an. Mit Beschluss vom 7. Januar 2020 (Au 4 S 19.50818) ordnete das Verwaltungsgericht Augsburg antragsgemäß die aufschiebende Wirkung der Klage gegen diesen Bescheid (Au 4 K 19.50817) an. Mit Beschluss vom 20. Januar 2020 setzte das Verwaltungsgericht Augsburg das Hauptsacheverfahren gem. § 94 VwGO im Hinblick auf den noch beim Verwaltungsgericht Regensburg anhängigen Rechtsstreit der Klägerinnen aus. Dieses Hauptsacheverfahren gilt seit dem 21. Juli 2020 beim Verwaltungsgericht Augsburg als statistisch erledigt.
6
Mit Schreiben vom 25. März 2020 teilte das Bundesamt dem zwischenzeitlich Bevollmächtigten der Klägerinnen mit, dass der Vollzug der Abschiebungsanordnung gem. § 80 Abs. 4 VwGO i.V.m. Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO ausgesetzt werde, weil im Hinblick auf die Entwicklung der Corona-Krise derzeit Dublin-Überstellungen nicht zu vertreten seien.
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Mit Urteil vom 29. Mai 2020 hob das Verwaltungsgericht Regensburg Ziffern 3 und 4 des Bescheids vom 15. August 2017 auf. Im Übrigen wurde die Klage der Klägerinnen mit der Maßgabe abgewiesen, dass die Überstellung der Klägerinnen nach Italien nur erfolgen dürfe, wenn der Beklagten bzw. der vollziehenden Ausländerbehörde vor Beginn der Überstellung eine individuelle Zusicherung der italienischen Behörden vorliege, dass die Klägerinnen ab dem Tag der Abschiebung unverzüglich in einer - gemäß den in Italien üblichen Standards - familienangemessenen, dem Wohl von allein erziehenden Müttern mit ihren Kleinkindern entsprechenden Unterkunft untergebracht werden. Die Unterkunft sei in der Zusicherung konkret zu benennen.
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Auf seine Anfrage betreffend die Rechtskraft des Urteils vom 29. Mai 2020 wurde dem Bundesamt von der Geschäftsstelle des Verwaltungsgerichts Regensburg mit am 13. Juli 2020 unterschriebenem Formblatt mitgeteilt, dass die Entscheidung zuletzt am 16. Juni 2020 zugestellt und innerhalb der Rechtsmittelfrist kein Rechtsmittel eingelegt worden sei.
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Mit Bescheid vom 23. Juli 2020 traf das Bundesamt folgende Entscheidung:
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Der Bescheid vom 15. August 2017 in der mit Gerichtsbescheid des Verwaltungsgerichts Regensburg vom 29. Mai 2020 (RN 7 K 17.51851) modifizierten Fassung wird um folgende Ziffern ergänzt:
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3. Die Abschiebung nach Italien wird angeordnet.
12
4. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot wird gem. § 11 Abs. 1 AufenthG angeordnet und auf sechs Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet.
13
Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt: Die Abschiebungsanordnung beruhe auf § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG. Bezüglich der im Gerichtsbescheid des Verwaltungsgerichts Regensburg angeführten Gründe sei auszuführen, dass im Hinblick auf die Corona-Krise Dublin-Abschiebungen nach Italien wieder zu vertreten seien. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gründe des Bescheids vom 23. Juli 2020 Bezug genommen (§ 77 Abs. 2 AsylG).
14
Am 27. Juli 2020 ging beim Bundesamt eine Mitteilung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs ein, wonach die Klägerseite einen Antrag auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Regensburg vom 29. Mai 2020 gestellt habe (9 ZB 20.50011).
15
Die Klägerinnen ließen am 1. August 2020 Klage zum Verwaltungsgericht Augsburg erheben und beantragen,
16
den Bescheid vom 23. Juli 2020, zugestellt am 28. Juli 2020, aufzuheben.
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Zur Begründung wurde ausgeführt, dass das Urteil des Verwaltungsgerichts Regensburg vom 29. Mai 2020 entgegen den Ausführungen im Bescheid nicht rechtskräftig geworden sei, da innerhalb der am 16. Juli 2020 ablaufenden Rechtsmittelfrist beim Bayerischen Verwaltungsgerichtshof ein Antrag auf Zulassung der Berufung gestellt worden sei. Auch sei die Anordnung im Urteil des Verwaltungsgerichts Regensburg bezüglich der Einholung einer Zusicherung der italienischen Behörden vor einer Überstellung nicht beachtet worden. Im Übrigen bestünden belastbare Anhaltspunkte dafür, dass die Entwicklung der Corona-Krise Dublin-Überstellungen noch nicht zulasse. Schließlich sei in einem Bericht der Schweizerischen Flüchtlingshilfe dargelegt, dass das italienische Asylsystem insbesondere für vulnerable Personen gravierende Mängel aufweise.
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Die Beklagte übermittelte ihre Akten; in der Sache äußerte sie sich im vorliegenden Verfahren bisher nicht.
19
Mit Beschluss vom 10. August 2020 (Au 4 S 20.50126) ordnete das Verwaltungsgericht Augsburg die aufschiebende Wirkung der vorliegenden Klage an.
20
Die Klägerseite hat mit Schriftsatz vom 18. August 2020, die Beklagte mit allgemeiner Prozesserklärung auf mündliche Verhandlung verzichtet.
21
Mit Beschluss vom 1. September 2020 wurde der Rechtsstreit zur Entscheidung auf den Einzelrichter übertragen.
22
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten, einschließlich des Verfahrens des Sohnes bzw. Bruders der Klägerinnen (Au 4 K 19.50817; Au 4 S 19.50818), sowie auf die Behördenakten verwiesen.
Entscheidungsgründe
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Die Klage, über die gem. § 101 Abs. 2 VwGO ohne mündliche Verhandlung entschieden werden konnte, ist zulässig und begründet. Der Bescheid der Beklagten vom 23. Juli 2020 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerinnen in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
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1. Die nach § 34a Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 AsylG für eine Abschiebungsanordnung (Nr. 3 des Bescheids vom 23.7.2020) erforderlichen Voraussetzungen liegen nicht vor. Die Norm verlangt, dass der Ausländer in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG) abgeschoben werden soll; ferner, dass feststeht, dass die Abschiebung durchgeführt werden kann.
25
Zwar hat das Verwaltungsgerichts Regensburg in seinem Urteil vom 29. Mai 2020 (RN 7 K 17.51851) die Zuständigkeit Italiens für die Durchführung der Asylverfahren der Klägerinnen im Grundsatz bejaht; die auf § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AsylG i.V.m. der Dublin III-VO beruhende Unzulässigkeitsentscheidung des Bescheids vom 15. August 2017 (dort Ziff. 1) wurde durch das Urteil nicht aufgehoben (vgl. auch UA, S. 6 f.). Die Klägerinnen haben jedoch bezüglich dieses Urteils einen Antrag auf Zulassung der Berufung beim Bayerischen Verwaltungsgerichtshof gestellt (9 ZB 20.50011; vgl. Bundesamtsakte, Bl. 319 ff.), über den noch nicht entschieden ist. Diesbezüglich fällt zwar auf, dass die an das Verwaltungsgericht Regensburg adressierte Antragsschrift der Klägerseite vom 16. Juli 2020 wohl zunächst beim Verwaltungsgericht Augsburg eingegangen ist (vgl. Bundesamtsakte, Bl. 321). Die Frage einer fristgerechten Stellung des Antrags auf Zulassung der Berufung ist jedoch vom Bayerischen Verwaltungsgerichtshof als Rechtsmittelgericht zu klären. Angesichts dieses noch anhängigen Rechtsmittelverfahrens bezüglich der Unzulässigkeitsentscheidung in Ziff. 1 des Bescheids vom 15. August 2017 steht jedenfalls derzeit (§ 77 Abs. 1 AsylG) nicht i.S.d. § 34a Abs. 1 Satz 1 a.E. AsylG fest, dass die Abschiebung auch durchgeführt werden kann.
26
Zwar ist die Beklagte nicht gehindert, eine Abschiebungsanordnung - wie im Ausgangsbescheid vom 15. August 2017 geschehen - mit der Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG zu verbinden, auch wenn gegen die Ablehnung des Asylantrags als unzulässig noch Klage erhoben werden kann und somit diesbezüglich noch keine Bestandskraft eingetreten ist. Die Zulässigkeit einer solchen Verbindung ist allerdings in § 31 Abs. 1 Satz 5 AsylG vorgesehen. Vorliegend hat die Beklagte jedoch eine von der Ablehnungsentscheidung getrennte Abschiebungsanordnung erlassen; hinsichtlich der Ablehnungsentscheidung ist noch ein Rechtsmittel anhängig, welches die Annahme hindert, dass die Abschiebung auch i.S.d. § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG durchgeführt werden kann. Dass es für den erneuten Erlass einer Abschiebungsanordnung eines rechtskräftigen Urteils hinsichtlich der Ablehnung des Asylantrags als unzulässig bedarf, sieht offensichtlich auch die Beklagte so. Sie hat sich im streitgegenständlichen Bescheid auf die - vermeintliche - Rechtskraft der Entscheidung des Verwaltungsgerichts Regensburg berufen und sich zuvor nach dem Eintritt der Rechtskraft erkundigt; in Reaktion hierauf wurde die Erstellung des streitgegenständlichen Bescheids veranlasst (vgl. Bundesamtsakte, Bl. 293 bis 296).
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Zudem steht vorliegend nicht i.S.d. § 34a Abs. 1 Satz 1 a.E. AsylG fest, dass die Abschiebung durchgeführt werden kann, weil hinsichtlich der Abschiebungsanordnung betreffend den Sohn bzw. Bruder der Klägerinnen,, die aufschiebende Wirkung von dessen Klage (Au 4 K 19.50817) mit Beschluss vom 7. Januar 2020 (Au 4 S 19.50818) angeordnet worden ist. Im Rahmen des § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG obliegt es dem Bundesamt auch zu prüfen, ob inlandsbezogene Hindernisse der Abschiebung entgegenstehen (vgl. Faßbender in Decker/Bader/Kothe, BeckOK Migrations- und Integrationsrecht, Stand 1.10.2019, § 34a AsylG, Rn. 14 m.w.N.). Die Abschiebung der Klägerinnen getrennt von ihrem erst knapp zweijährigen Sohn bzw. Bruder - welcher nach Aktenlage auch bei den Klägerinnen wohnt - würde gegen Art. 6 GG, Art. 8 EMRK verstoßen; dessen Abschiebung ist jedoch derzeit wegen der gerichtlich angeordneten aufschiebenden Wirkung seiner Klage ausgeschlossen.
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2. Da sich somit die Abschiebungsanordnung gem. § 34a AsylG als rechtswidrig erweist, gilt dies auch für die Anordnung und Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots (Nr. 4 des Bescheids vom 23.7.2020). Sind die Voraussetzungen des § 34a AsylG - wie hier - nicht gegeben, kann auch keine Aufgabe des Bundesamts nach § 75 Nr. 12 AufenthG für die Entscheidungen nach § 11 AufenthG bestehen.
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3. Der Klage war daher mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO zu entsprechen. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG). Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.