Inhalt

VG Augsburg, Urteil v. 16.07.2020 – Au 6 K 18.30861
Titel:

Erfolglose Asylklage eines türkischen Staatsangehörigen kurdischer Volkszugehörigkeit

Normenketten:
AsylG § 3 Abs. 1, Abs. 4, § 3a Abs. 2, § 4 Abs. 1, § 72 Abs. 1 Nr. 1
AufenthG § 11 Abs. 1, § 60 Abs. 5, Abs. 7
EMRK Art. 9
VwGO § 101 Abs. 2
Leitsätze:
1. Erlischt nach § 72 Abs. 1 Nr. 1 AsylG eine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft durch die Annahme eines Nationalpasses des angeblichen Verfolgerstaates, so sperrt der in dieser Norm enthaltene Rechtsgedanke erst recht die noch nicht erfolgte Zuerkennung von Flüchtlingsschutz. (Rn. 22) (redaktioneller Leitsatz)
2. Anhaltspunkte für eine staatliche oder staatlich geduldete  Gruppenverfolgung ethnischer Kurden in der Türkei liegen nicht vor. (Rn. 23) (redaktioneller Leitsatz)
3. Die Heranziehung zum Wehrdienst in der Türkei und die Bestrafung wegen dessen Verweigerung stellen keine politische Verfolgung dar (wie BVerwG Urt. v. 6.2.2019 - 1 A 3.18, BeckRS 2019, 5392). (Rn. 35) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Türkischer Asylbewerber kurdischer Volks- und muslimischer Religionszugehörigkeit, Klage auf Flüchtlingsanerkennung und subsidiären Schutz sowie Abschiebungsverbot, Wehrdienstflucht, Sympathie für HDP, Neuausstellung eines türkischen Reisepasses nach erfolglosem Asylverfahren zwecks Eheschließung im Bundesgebiet, Überholung der Ermessensentscheidung zur Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots durch Eheschließung, Verzicht auf mündliche Verhandlung, Türkei, kurdische Volkszugehörigkeit, Flüchtlingsschutz, Annahme eines Nationalpasses, Gruppenverfolgung, Wehrdienstentziehung, Bestrafung, Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots, Eheschließung
Fundstelle:
BeckRS 2020, 23120

Tenor

I. Unter Aufhebung von Ziffer 6 ihres Bescheids vom 24. April 2018, soweit sie der folgenden Verpflichtung entgegenstehen, wird die Beklagte verpflichtet, über die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung des Verwaltungsgerichts neu zu entscheiden.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Der Kläger hat von den Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens vier Fünftel zu tragen, die Beklagte ein Fünftel.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung durch den jeweiligen Vollstreckungsgläubiger durch Sicherheitsleistung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Vollstreckungsgläubiger zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

1
Der seinem - nach erfolglosem behördlichem Asylverfahren in Deutschland am ... 2018 ausgestellten - Reisepass zu Folge am ... 1994 in ... in der Tü. geborene Kläger ist türkischer Staatsangehöriger kurdischer Volkszugehörigkeit muslimischer Religionszugehörigkeit und hielt sich vor seiner Ausreise zuletzt in ... auf (BAMF-Akte Bl. 45). Er reiste nach eigenen Angaben am 9. Februar 2018 aus der Tü. aus und u.a. per Lkw am 14. Februar 2018 unerlaubt nach Deutschland ein, wo er Asyl beantragte.
2
In seiner auf Türkisch geführten Dublin-Anhörung vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) am 8. März 2018 gab der Kläger im Wesentlichen an (BAMF-Akte Bl. 30 ff.), er habe vier Tanten in Deutschland und bestätigte seinen Reiseweg.
3
In seiner auf Türkisch geführten Anhörung vor dem Bundesamt am 20. März 2018 gab der Kläger im Wesentlichen an (BAMF-Akte Bl. 44 ff.), er habe nur einen Personalausweis und diesen bei seinen Eltern in der Tü. gelassen (ebenda Bl. 45). Seine Eltern, weitere Geschwister, sowie die Großfamilie seien in der Tü. wohnhaft (ebenda Bl. 46). Er sei 9 Jahre zur Schule gegangen sei und habe als Koch und auf dem Bau gearbeitet (ebenda Bl. 46). Die Kosten der Ausreise in Höhe von 6.500 Euro habe er zu einem kleinen Teil aus seinen Ersparnissen und im Übrigen durch Hilfe der Familie bezahlt (ebenda Bl. 46).
Zu seinen Asylgründen gab der Kläger im Wesentlichen an, dass er den Wehrdienst ablehne. Er sei Kurde und habe nicht gegen sein eigenes kurdisches Volk kämpfen wollen. Er hätte entweder beim Militär gegen die Kurden oder bei der Partiya Karkerên Kurdistanê (PKK) gegen die Türken kämpfen müssen. Da alle Menschen seien, habe er nicht gegen sie kämpfen wollen (ebenda Bl. 47).
Er sei dagegen, Menschen zu töten; auf jeder Seite hätte er Menschen töten müssen, das wolle er nicht; zurzeit seien viele türkische Soldaten im Kampf und es gebe keine Überlebenssicherheit beim Militär (ebenda Bl. 47).
Da er sich vor dem Wehrdienst versteckt habe, habe er in der Tü. weder legal arbeiten, noch zum Arzt gehen können aus Angst, gemeldet zu werden. Wenn er krank geworden sei, hätten ihn seine Verwandten behandelt oder er habe sich selbst behandelt, notfalls wäre er unter der Identität seines Bruders, der in der Notaufnahme eines Krankenhauses arbeite, ins Krankenhaus gegangen (ebenda Bl. 47). Er habe sich aber nicht ein Leben lang in der Tü. verstecken können, irgendwann hätten sie ihn gefunden und er hätte zum Militär müssen (ebenda Bl. 47).
Außerdem könne er in der jetzigen Situation in der Tü. weder seine Kultur noch seine Religion noch seine Sprache ausleben; Kurden würden ausgegrenzt und gegen Türken aufgehetzt. Er könne auch seine Meinung in der Tü. nicht sagen. Seine eigene Familie sei auf Seiten der AKP und er sei anderer Meinung, dadurch gebe es Konflikte und er könne nicht einmal mit dem eigenen Vater darüber diskutieren. Deshalb wolle er dort nicht leben, sondern in einem Land, wo Religions- und Meinungsfreiheit herrschten (ebenda Bl. 47).
Auf Frage, ob ihm selbst in der Tü. etwas passiert sein, gab er an, er sei von der eigenen Familie wegen seiner Meinung ausgeschlossen worden. Sein Vater habe gewollt, dass er zum Wehrdienst gehe. Auf Nachfrage, warum dieser ihm dann die Ausreise finanziert habe, gab der Kläger an, der Vater habe gemerkt, dass er nicht zum Wehrdienst gehen werde. Außerdem habe ihn auch die Mutter überredet (ebenda Bl. 48).
Für den Fall der Rückkehr in die Tü. befürchte er, er würde gezwungen, zum Militär zu gehen, dort zu töten oder würde selbst getötet (ebenda Bl. 48). Auf Frage nach einer Anklage, einem Urteil oder einer Fahndung gegen ihn in der Tü. gab er an, er werde wegen des Wehrdienstes gesucht, aber es gebe nichts Schriftliches. Sie hätten bei seiner Familie nach ihm gesucht und er sei vor einem Jahr auch einmal zur Vernehmung gerufen worden, da er bei Veranstaltungen der HDP gewesen sei, sie hätten auch zweimal bei seinen Eltern nach ihm gefragt, aber er habe keinen Beleg und keine Zugangsdaten für e-Devlet (ebenda Bl. 48).
Mit der HDP sympathisiere er und habe ihre Veranstaltungen besucht; da er sich vor dem Militär versteckt habe, habe er keine Mitgliedschaft beantragen können (ebenda Bl. 48). Er habe auch Angst verhaftet zu werden, da er bei Demonstrationen der HDP gewesen sei, beim Newroz-Fest in, er sei dort jedes Jahr seit 4 Jahren gewesen, vorher bei ihnen in der Nähe. Ein ebenfalls beteiligter Freund von ihm sei verhaftet worden (ebenda Bl. 48).
4
Auf dem Kontrollbogen bestätigte der Kläger, es habe bei der in türkischer Sprache durchgeführten Anhörung keine Verständigungsschwierigkeiten gegeben, das rückübersetzte Protokoll entspreche seinen Angaben und diese seien vollständig und entsprächen der Wahrheit (BAMF-Akte Bl. 43).
5
Das Bundesamt lehnte mit Bescheid vom 24. April 2018 den Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Nr. 1), auf Asylanerkennung (Nr. 2) und auf Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus (Nr. 3) sowie auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG ab (Nr. 4). Die Abschiebung in die Tü. wurde angedroht (Nr. 5). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 6).
Zur Begründung führte das Bundesamt aus, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und die Anerkennung als Asylberechtigter nicht vorlägen, weil der Kläger eine Verfolgung im Herkunftsstaat nicht habe glaubhaft machen können. Eine konkrete Verfolgung in Anknüpfung an ein flüchtlingsrelevantes Merkmal habe er nicht erlitten. Der Kläger hebe sich nicht derart aus der Masse der Sympathisanten, Unterstützer und einfachen Mitglieder durch eine spezielle Position oder Aufgabe derart hervor, dass eine Verfolgung durch den türkischen Staat alleine deswegen anzunehmen wäre. Soweit er als Sympathisant der HDP eine Verfolgung durch die Polizei befürchte, habe er dies weder durch Details oder Beweismittel untermauert, noch belegt, dass er Maßnahmen von verfolgungsrechtlich erheblicher Intensität ausgesetzt gewesen sei. Eine Vorladung der Polizei zu einer Befragung habe nicht die erforderliche Intensität einer Verfolgungshandlung (§ 3a Abs. 2 Nr. 2 AsylG). Der Kläger könne sich zudem in seinem Asylverfahren nicht darauf berufen, dass Freunde von ihm verhaftet worden wären. Die Wehrpflicht als solche und die Wehrpflichtpraxis der Tü. stellten grundsätzlich keine flüchtlingsschutzrelevante Verfolgung dar. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus lägen ebenfalls nicht vor. Auch Abschiebungsverbote seien nicht ersichtlich. Die derzeitigen humanitären Bedingungen in der Tü. würden nicht zu der Annahme führen, dass bei einer Abschiebung des Klägers eine Verletzung des Art. 3 EMRK vorliege. Die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots auf 30 Monate sei angemessen. Schutzwürdige Belange seien nicht vorgetragen worden.
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Gegen diesen ihm am 25. April 2018 zugestellten Bescheid ließ der Kläger am 3. Mai 2018 Klage erheben mit dem Antrag:
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1. Der Bescheid des Bundesamts vom 24. April 2018 wird mit Ausnahme von Ziffer 2 aufgehoben.
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2. Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
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3. Hilfsweise wird beantragt, dem Kläger subsidiären Schutz zu gewähren.
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4. Weiter wird hilfsweise beantragt festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegen.
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Weiter ließ er zur Begründung ausführen, er sei Sympathisant der HDP und Pazifist und lehne einen Dienst an der Waffe ab. In der Tü. gebe es keine Möglichkeit, den Wehrdienst zu verweigern. Das Gewissen des Klägers ermögliche ihm nicht, eine Waffe in die Hand zu nehmen, weder für das türkische Militär noch für die kurdische Armee. Zumindest Abschiebungsverbote lägen daher vor.
12
Am 17. Oktober 2018 heiratete der Kläger eine im Bundesgebiet geborene und hier lebende türkische Staatsangehörige, er legte der Ausländerbehörde hierzu einen vom türkischen Generalkonsulat in ... am ... 2018 neu ausgestellten Reisepass vor (ebenda VG-Akte Bl. 63 f.).
13
Die Beklagte hat keinen Antrag gestellt.
14
Die Regierung von ... als Vertreterin des öffentlichen Interesses hat auf jegliche Zustellungen mit Ausnahme der Endentscheidung verzichtet.
15
Die Beteiligten verzichteten mit Schreiben vom 15. Juli 2020 und mit allgemeiner Erklärung vom 27. Juni 2017 auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung.
16
Mit Beschluss vom 19. März 2020 wurde der Rechtsstreit dem Einzelrichter zur Entscheidung übertragen.
17
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichts- und die von der Beklagten vorgelegte Behördenakte sowie das Protokoll der mündlichen Verhandlung verwiesen.

Entscheidungsgründe

18
Die zulässige Klage, über die wegen des allseitigen Verzichts der Beteiligten ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung entschieden werden konnte (§ 101 Abs. 2 VwGO), ist bis auf die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots nicht begründet. Der Kläger hat zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, auf die Gewährung subsidiären Schutzes oder auf ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 AufenthG (§ 113 Abs. 5 VwGO). Der angefochtene Bescheid des Bundesamtes vom 24. April 2018 ist daher bis auf die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO); lediglich im tenorierten Umfang ist er rechtswidrig und aufzuheben. Es wird daher Bezug genommen auf die Gründe des angefochtenen Bescheids (§ 77 Abs. 2 AsylG) und ergänzend ausgeführt:
19
1. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG.
20
Nach § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Ein Ausländer ist nach § 3 Abs. 1 AsylG Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560 - Genfer Flüchtlingskonvention), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb seines Herkunftslandes befindet.
21
Im Einzelnen sind definiert die Verfolgungshandlungen in § 3a AsylG, die Verfolgungsgründe in § 3b AsylG und die Akteure, von denen eine Verfolgung ausgehen kann bzw. die Schutz bieten können, in §§ 3c, 3d AsylG. Einem Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG, der nicht den Ausschlusstatbeständen nach § 3 Abs. 2 AsylG oder nach § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG unterfällt oder der den in § 3 Abs. 3 AsylG bezeichneten anderweitigen Schutzumfang genießt, wird die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt (§ 3 Abs. 4 AsylG). Als Verfolgung i.S.d. § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG gelten Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Art. 15 Abs. 2 EMRK keine Abweichung zulässig ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG), oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG). Zwischen den Verfolgungsgründen (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG i.V.m. § 3b AsylG) und den Verfolgungshandlungen - den als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen, § 3a AsylG - muss für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft eine Verknüpfung bestehen (§ 3a Abs. 3 AsylG).
22
a) Die Flüchtlingsanerkennung ist bereits im Umkehrschluss aus § 72 Abs. 1 Nr. 1 AsylG ausgeschlossen, weil der Kläger sich durch Annahme eines Nationalpasses erneut unter den Schutz des türkischen Staats, seines angeblichen Verfolgerstaats, gestellt hat. Erlischt nach dieser Norm eine Zuerkennung von Flüchtlingsschutz, so sperrt der in ihr enthaltene Rechtsgedanke erst recht die - hier - noch nicht erfolgte Zuerkennung von Flüchtlingsschutz.
Die übrigen Wertungen zum Flüchtlingsschutz tragen dieses Ergebnis sachlich zusätzlich:
23
b) Eine Gruppenverfolgung allein wegen einer Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Kurden haben Asylbewerber aus der Tü. nicht zu befürchten. Kurden gehören zu einer weit verbreiteten Bevölkerungsgruppe in der Tü.; Anhaltspunkte für eine staatliche oder staatlich geduldete Gruppenverfolgung ethnischer Kurden liegen nicht vor (vgl. SächsOVG, B.v. 9.4.2019 - 3 A 358/19 - Rn. 13; BayVGH, B.v. 10.2.2020 - 24 ZB 20.30271 - Rn. 6). Dies ist auch beim Kläger der Fall.
24
c) Eine individuelle Verfolgung wegen einer Zurechnung zur HDP hat der Kläger nicht zu befürchten. Insoweit wird Bezug genommen auf die zutreffende Begründung des angefochtenen Bescheids. Der Kläger war nur Sympathisant und nicht herausgehoben tätig; zudem erscheint es merkwürdig, dass er sich vor dem Wehrdienst versteckt, aber durch die angebliche Teilnahme an kurdischen Kundgebungen und dem Newroz-Fest der gezielten Beobachtung durch den türkischen Staat und der Gefahr einer Verhaftung - wie angeblich seine Freunde - und damit der zwangsweisen Zuführung zum Wehrdienst ausgesetzt haben will.
25
d) Der Kläger konnte auch mit seinem individuellen Vortrag sonst nicht glaubhaft machen, dass ihm in der Tü. eine flüchtlingsrelevante Verfolgung droht.
26
Hierbei ist der Bescheidsbegründung der Beklagten zu folgen, wonach der Kläger keine an ihn individuell gerichteten Bedrohungen oder gar Übergriffe geschildert hat, sondern lediglich Nachsuchen zur Ableistung seines Wehrdienstes, dem er sich entzogen hat (dazu sogleich).
27
e) Eine Verfolgung i. S. des § 3 i.V.m. § 3a Abs. 2 AsylG in Gestalt einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Wehrdienstentziehung droht ihm im Fall seiner Rückführung in die Tü. nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit. Ungeachtet seiner individuellen Motive und des bereits oben genannten generellen Ausschlusses vom Flüchtlingsschutz wäre eine Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes auch keine Verfolgung:
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Nach § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG ist eine Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt dann als Verfolgungshandlung zu qualifizieren, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklausel des § 3 Abs. 2 AsylG fallen, sich also als Verbrechen gegen den Frieden, als ein Kriegsverbrechen oder als ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellen würden.
29
Zwar unterliegt ein Mann grundsätzlich der gesetzlichen Wehrpflicht, die in der Tü. ab dem 20. Lebensjahr beginnt. Der Wehrdienst wird in den Streitkräften oder der Jandarma abgeleistet. Söhne und Brüder gefallener Soldaten können vom Wehrdienst befreit werden; im Ausland lebende Türken können sich gegen ein Entgelt freikaufen, das zunächst mit Änderung des Wehrgesetzes im Januar 2016 von 6.500 Euro auf 1.000 Euro gesenkt und 2018 auf 2.000 Euro erhöht wurde (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Tü. vom 14.6.2019, S. 17 - im Folgenden: Lagebericht). Das am 25. Juni 2019 in Kraft getretene neue Wehrgesetz verkürzte die Dauer der Wehrpflicht zudem von zwölf auf sechs Monate, wobei männliche türkische Staatsbürger nur noch eine einmonatige militärische Ausbildung absolvieren müssen und sich von den restlichen fünf Monaten ihres Wehrdienstes unter Zahlung von 31.000 TL (ca. 4.725 Euro) freikaufen können. Dies gilt auch für bereits Wehrdienst leistende Männer. Nach sechs Monaten kann freiwillig gegen Entgelt weiter gedient werden (BFA, Länderinformationsblatt Tü. vom 29.11.2019, S. 36).
30
Wer wehrpflichtig ist, aber sich der Musterung entzieht, gilt als „Musterungsflüchtiger“, was eine Ordnungswidrigkeit darstellt und mit Geldstrafen geahndet wird. Die Verjährung richtet sich nach dem Ordnungswidrigkeitenrecht und greift proportional zur Höhe der Geldbuße nach drei, vier oder fünf Jahren Verjährungsfrist. Wer sich nach erfolgter Musterung und Einberufung dem Wehrdienst entzieht, gilt als „Wehrdienstflüchtiger“, was eine Straftat darstellt und mit Geldstrafen geahndet wird, die in der Höhe von der Dauer der Wehrdienstentziehung sowie davon sind, ob der Wehrdienstflüchtige sich stellt oder gefasst wird. Die Verjährung richtet sich nach Art. 66 tStGB und greift, wenn der Wehrdienstflüchtige sich stellt oder gefasst wird (zum Ganzen Deutsche Botschaft Ankara, Auskunft vom 1.6.2017 an das BAMF, S. 2). Das aktuelle Wehrpflichtgesetz vom 25. Juni 2019 sieht für Wehrdienstflüchtige eine Verwaltungsgeldstrafe/Geldbuße vor. Meldet sich der flüchtige freiwillig, muss er für jeden Tag der Wehrdienstentziehung 5 TL Zahlen; im Falle der Ergreifung das Doppelte nach Art. 17 Abs. 7 des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten Nummer 5326. Anders als zuvor sieht das aktuelle Wehrdienstgesetz Nummer 7179 nur eine Geldstrafe (statt früher wohl einer Haftstrafe) vor (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 8.1.2020 an das VG Augsburg zu Frage 3h).
31
In der Tü. gibt es kein Recht zur Verweigerung des Wehrdienstes oder einen Anspruch auf Ableistung eines Ersatzdienstes. Musterungsverweigerer, Wehrdienstverweigerer und Fahnenflüchtige werden strafrechtlich verfolgt. Wehrdienstpflichtige werden im zentralen elektronischen Fahndungsregister (GBT) erfasst; Sicherheitsbeamte an der Grenze und im Inland können an Hand der Identitätsnummer des Betroffenen einen Eintrag im GBT prüfen (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an das VG Augsburg vom 6.3.2019 zu Frage 7). Wehrdienstentziehung wird in der Tü. zunächst mit einer Geldbuße geahndet unter Berücksichtigung der Zeitspanne des Wehrdienstentzugs sowie ob sich der Betroffene selbst bei den Wehrbehörden gemeldet hat oder festgenommen wurde (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an das VG Augsburg vom 6.3.2019 zu Frage 6). Wird ein erlassener Bußgeldbescheid bestandskräftig und meldet sich der Betroffenen danach nicht bei der Wehrbehörde zum Dienstantritt, können auch Freiheitsstrafen zwischen 2 und 36 Monaten verhängt werden; in der Regel wird von der Mindeststrafe Gebrauch gemacht und können kurzzeitige Gefängnisstrafen nach Art. 50 tStGB u.a. auch in Geldstrafen umgewandelt werden (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an das VG Augsburg vom 6.3.2019 zu Frage 6). Seit Änderung von Art. 63 tMilStGB ist bei unentschuldigtem Nichtantritt oder Fernbleiben vom Wehrdienst statt einer Freiheitsstrafe zunächst eine Geldstrafe zu verhängen. Subsidiär bleiben aber Haftstrafen bis zu sechs Monaten möglich, insbesondere nach Art. 67 tStGB bei Flucht ins Ausland. Die Verjährungsfrist richtet sich nach Art. 66e tStGB und beträgt zwischen fünf und acht Jahren, falls die Tat mit Freiheitsstrafe bedroht ist. Suchvermerke für Wehrdienstflüchtlinge werden seit Ende 2004 nicht mehr im Personenstandsregister eingetragen (vgl. Lagebericht ebenda S. 18; BFA, Länderinformationsblatt Tü. vom 29.11.2019, S. 40). Die Vollstreckung solcher Haftstrafen wurde wegen Platzmangels in den Haftanstalten regelmäßig aufgeschoben, so dass fast niemand eine solche Haftstrafe verbüßen musste; auch nach einer Gesetzesänderung, dass Haftstrafen über drei Monaten verbüßt werden müssten, wird der Haftantritt aus demselben Gründen aufgeschoben (vgl. Kamil Taylan, Gutachten an das VG Magdeburg vom 5.11.2017, S. 10). Die Haftbedingungen in Militärhaftanstalten unterscheiden sich nach Kenntnis des Auswärtigen Amts grundsätzlich nicht von jenen in anderen Haftanstalten; das türkische Wehrrecht sieht eine Haft in einer Militärhaftanstalt jedoch erst vor, wenn ein Wehrpflichtiger während des Ableistens des Wehrdienstes wegen einer Straftat verurteilt wird (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an das VG Augsburg vom 6.3.2019 zu Frage 7). Wehrdienstflüchtige werden auch nicht per Hausdurchsuchung am Wohnort sondern per GBT gesucht (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an das VG Augsburg vom 6.3.2019 zu Frage 6) und dürften daher beim Grenzübertritt auffallen sowie - im Falle eines Haftbefehls - in Untersuchungshaft genommen werden (vgl. Kamil Taylan, Gutachten an das VG Magdeburg vom 5.11.2017, S. 12).
32
Soweit bis zum Jahr 2009 Personen die türkische Staatsangehörigkeit aberkannt wurde, die sich dem Wehrdienst entzogen hatten, können sie mittlerweile durch Novellierung des türkischen Staatsangehörigkeitsgesetzes unabhängig von ihrem Wohnsitz wieder die Staatsangehörigkeit erhalten (vgl. Lagebericht ebenda S. 18) und unterliegen dann weiterhin der Wehrpflicht (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an das VG Augsburg vom 6.3.2019 zu Frage 6).
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Zwar hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte für das türkische System, das keinen Ersatzdienst und kein Verfahren vorsieht, in dem dargelegt werden kann, ob die Voraussetzungen einer Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen vorliegen, eine Verletzung der von Art. 9 EMRK garantierten Gewissensfreiheit angenommen, weil es keinen gerechten Ausgleich zwischen dem allgemeinen Interesse der Gesellschaft und jenem von Wehrdienstverweigern trifft (vgl. BVerwG, B.v. 16.1.2018 - 1 VR 12/17 - juris Rn. 87; BVerwG, U.v. 6.2.2019 - 1 A 3.18 - juris Rn. 110 jeweils unter Verweis auf EGMR, U.v. 12.6.2012 - 42730/05). Allerdings bezog sich diese Bewertung eines angemessenen Ausgleichs auf die Strafpraxis vor der Reform der Wehrstrafverfolgung mit einer deutlichen Milderung der vormals strengeren Strafen (vgl. oben), so dass die frühere Einschätzung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte wegen der damals harten Mehrfachbestrafung auf das heute deutlich abgemilderte Sanktionensystem (vgl. oben: Geldbuße, Geldstrafe, Haftstrafe, die regelmäßig nicht vollstreckt, sondern umgewandelt oder aufgeschoben wird) so nicht mehr übertragbar ist (das übersieht BVerwG, U.v. 6.2.2019 - 1 A 3.18 - juris Rn. 110, ohne nähere Würdigung der aktuellen Auskunftslage zum Sanktionensystem und unter Verweis auf EGMR, U.v. 12.6.2012 - 42730/05).
34
Es ist daher gerade nicht ersichtlich, dass die Verhängung einer Geldbuße oder Geldstrafe oder im Wiederholungsfall einer Haftstrafe, die regelmäßig nicht vollstreckt, sondern umgewandelt oder aufgeschoben wird, keinen angemessenen Ausgleich zwischen der Durchsetzung des staatlichen Dienstanspruchs einerseits und der privaten Gewissensentscheidung des Betroffenen andererseits darstellte. Anhaltspunkte für eine im vorliegenden Fall abweichende Bewertung sind weder ersichtlich noch geltend gemacht.
35
Soweit im vorliegenden Fall eine Strafverfolgung wegen Wehrdienstentziehung möglich ist, droht jedoch keine hinreichend wahrscheinliche Beteiligung an Kriegsverbrechen (vgl. BVerwG, U.v. 6.2.2019 - 1 A 3.18 - juris Rn. 98); besondere Umstände, aus denen sich ergibt, dass Strafmaßnahmen nicht nur der Ahndung eines Verstoßes gegen eine allgemeine staatsbürgerliche Pflicht gelten, sind nicht ersichtlich (als Maßstab bei EuGH, U.v. 20.11.2013 - C-472/13; BVerwG, U.v. 6.2.2019 - 1 A 3.18 - Rn. 98; BVerwG, U.v. 4.7.2019 - 1 C 31/18 - juris Rn. 15). Insbesondere gibt es keine belastbaren Erkenntnisse, dass die Heranziehung zum Militärdienst an gruppenbezogenen Merkmalen bzw. persönlichen Merkmalen i.S.v. § 3b AsylG oder an der Volkszugehörigkeit (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an das VG Augsburg vom 6.3.2019 zu Frage 7) orientiert ist, mithin ein „Politmalus“ oder „Religionsmalus“ erfolgt. Im Gegenteil können z.B. homosexuelle Wehrpflichtige auf Antrag und nach ärztlicher Begutachtung grundsätzlich als für den Wehrdienst untauglich eingestuft werden (vgl. Lagebericht ebenda S. 18 f.; BFA, Länderinformationsblatt Tü. vom 29.11.2019, S. 37 f.). Die Heranziehung zum Wehrdienst und die Bestrafung wegen seiner Verweigerung in der Tü. stellen daher keine politische Verfolgung dar (wie hier BVerwG, U.v. 6.2.2019 - 1 A 3.18 - juris Rn. 98; VG München, B.v. 5.4.2018 - M 1 S 17.46575 - juris Rn. 13 m.w.N.).
36
2. Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Gewährung subsidiären Schutzes i.S. des § 4 Abs. 1 AsylG. Er hat keine stichhaltigen Gründe für die Annahme vorgebracht, dass ihm bei einer Rückkehr in die Tü. ein ernsthafter Schaden i.S. des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nrn. 1 bis 3 AsylG droht. Auf die zutreffende Begründung im angefochtenen Bescheid wird verwiesen § 77 Abs. 2 AsylG).
37
3. Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG liegen ebenfalls nicht vor. Auf den Bescheid des Bundesamts wird Bezug genommen (§ 77 Abs. 2 AsylG).
38
4. Allerdings erweist sich die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes nach § 11 Abs. 1 AufenthG nicht mehr als rechtmäßig, da der Kläger zwischenzeitlich eine in Deutschland aufenthaltsberechtigte Ehefrau gefunden hat und somit fristreduzierende Belange vorliegen, welche die Beklagte noch nicht gewürdigt hat. Daher war der Klage im tenorierten Umfang stattzugeben und sie im Übrigen mit der Kostenfolge des § 155 Abs. 1 VwGO abzuweisen. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG). Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.