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VG Ansbach, Urteil v. 18.08.2020 – AN 9 K 19.02090
Titel:

Baugenehmigung für Zweifamilienhaus verstößt nicht gegen Rücksichtnahmegebot

Normenkette:
BauGB § 30, § 31
Leitsätze:
1. Im Regelfall sind unmittelbar angrenzende Grundstücke als benachbart anzusehen; allerdings können auch nicht unmittelbar anliegende Grundstücke als Nachbargrundstück einzuordnen sein, die beispielsweise durch einen Weg oder eine Straße getrennt sind, sofern diese Grundstücke in ihren öffentlich-rechtlichen Belangen berührt werden können. (Rn. 20) (redaktioneller Leitsatz)
2. Wird eine Befreiung von einer nachbarschützenden Festsetzung erteilt, so führt jeder Fehler bei der Anwendung des § 31 Abs. 2 BauGB zur Aufhebung der Baugenehmigung. Handelt es sich hingegen um eine fehlerhafte Befreiung von einer nicht nachbarschützenden Festsetzung, so richtet sich der Nachbarschutz lediglich nach dem im Tatbestandsmerkmal „unter Würdigung nachbarlicher Interessen“ enthaltenen Rücksichtnahmegebot. (Rn. 24) (redaktioneller Leitsatz)
3. Grundsätzlich sind lediglich Festsetzungen zur Art der baulichen Nutzung nachbarschützend. Anderweitige Festsetzungen, insbesondere zum Maß der baulichen Nutzung und zur überbaubaren Grundstücksfläche, haben dagegen grundsätzlich keine nachbarschützende Wirkung. Anderweitige Festsetzungen als Festsetzungen zur Art der baulichen Nutzung, insbesondere hinsichtlich des Maßes und der überbaubaren Grundstückflächen, sind ausnahmsweise dann nachbarschützend, wenn dies dem Willen der Gemeinde als Plangeber entspricht. (Rn. 25) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Nachbareigenschaft schon zweifelhaft keine nachbarschützende Festsetzung, Zweifamilienhaus, Bebauungsplan, Befreiung, Gebot der Rücksichtnahme, Gebietserhaltungsanspruch
Fundstelle:
BeckRS 2020, 22213

Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Kläger tragen die Kosten des Verfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen.
3. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Kläger können die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 110 v.H. des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

1
Die Klage richtet sich gegen eine dem Beigeladenen erteilte Baugenehmigung für die „Errichtung eines Zweifamilienhauses mit zwei Fertiggaragen (Haus 2)“ auf dem Grundstück FlNr. …, Gemarkung … Die Kläger sind Eigentümer des Grundstückes FlNr. …, Gemarkung … Das Reihenhaus der Kläger liegt südwestlich des streitgegenständlichen Grundstücks FlNr. …, Gemarkung … Beide Grundstücke liegen im Geltungsbereich des Bebauungsplans Nr. … Mit Antrag vom 25. Februar 2019 beantragte der Beigeladene die Baugenehmigung für den Neubau von zwei Zweifamilienhäusern und vier Garagen, Haus 2, Garage 3 und 4 auf dem Grundstück FlNr. …, Gemarkung … Weiterhin wurde eine Befreiung bezüglich der Festsetzungen Maß der baulichen Nutzung, überbaubare Grundstücksfläche, Baugrenze und Garagen beantragt. Zur Begründung für die beantragte Befreiung wird ausgeführt, dass die Baugrenze im Süden um 6,31 m und im Westen um 0,49 m überschritten werde. Durch die bestehende Nachbarbebauung, die sich ebenfalls teilweise außerhalb des Baufensters befinde, sei eine Grenzbebauung nicht möglich und nicht gewünscht. Es werde auf das Schreiben der Nachbarin von FlNr. …, Gemarkung …, verwiesen. Das relativ schmale Grundstück lasse eine gewünschte Verdichtung anders nicht zu. Durch die nun geplante Bebauung des Grundstücks sei die Garage auf der vorgesehenen Fläche nicht mehr möglich. Durch die Bebauung mit zwei Zweifamilienhäusern seien vier Stellplätze nachzuweisen, die mit vier Garagen auf dem Grundstück nun geplant seien.
2
Mit Bescheid vom 27. September 2019 wurde für das Vorhaben „Errichtung eines Zweifamilienhauses mit zwei Fertiggaragen (Haus 2)“ auf dem Grundstück FlNr. …, …, Gemarkung …, die Baugenehmigung erteilt und Befreiung erteilt von den Festsetzungen des Bebauungsplans Nr. … wegen Nichteinhaltung der Baugrenzen durch das Zweifamilienhaus und der vorgesehenen Flächen für die Garagen und Stellplätze.
3
Zur Begründung wurde ausgeführt, dass die Voraussetzungen zur Erteilung der Befreiungen vorlägen. Das Projekt sei mit der Stadt vorbesprochen worden. Voraussetzung für die Abweichungen sei zum einen, dass die Zustimmung der hauptbetroffenen östlichen Nachbarn zur gewünschten Bebauung mit freistehenden Einzelhäusern vorliege, sowie als Zweites, dass die Größe der überbauten Fläche letztlich nicht über der Größe der Baufensterfläche des Bebauungsplans liege. Diese Vorgaben seien eingehalten. Die betroffenen Nachbarn hätten ihr Einvernehmen schriftlich erklärt, die überbaute Fläche liege im Rahmen des nach Bebauungsplan Zulässigem. Die überbaubare Fläche des Grundstücks sei damit ausgeschöpft.
4
Mit Schriftsatz vom 27. Oktober 2019, bei Gericht eingegangen am 28. Oktober 2019 ließen die Kläger durch ihre Prozessbevollmächtigte Klage erheben und beantragen,
Der Bescheid der Beklagten vom 27. September 2019, Az.: …, wird aufgehoben.
5
Zur Klagebegründung führte die Prozessbevollmächtigte mit Schriftsatz vom 18. Dezember 2019 aus, das Bauvorhaben befinde sich im Geltungsbereich des qualifizierten Bebauungsplans Nr. … Dieser sei mit Stadtratsbeschluss vom 20. September 1972 erlassen worden. Gründe, die gegen die Rechtmäßigkeit des Bebauungsplans sprechen könnten, seien vorliegend nicht ersichtlich.
6
Der Bebauungsplan Nr. … sehe auf den Grundstücken FlNr. … und FlNr. … sowie auf den unmittelbar im Osten angrenzenden Grundstück FlNr. …, jeweils Gemarkung … eine Grenzbebauung an der (ausgehend vom Vorhabensgrundstück) östlichen Grundstücksgrenze vor. Die Grenzbebauung gelte ebenfalls für das Grundstück FlNr. …, Gemarkung … Ausweislich der tatsächlichen Bebauung sei das Grundstück FlNr. …, Gemarkung …, entgegen den Festsetzungen des Bebauungsplans Nr. … bebaut worden, so befinde sich das Gebäude auf dem Grundstück FlNr. …, Gemarkung …, nicht innerhalb des Baufensters als Grenzbau zum Grundstück FlNr. …, Gemarkung … Der südliche Bereich des Grundstücks FlNr. …, Gemarkung …, sei unbebaut und werde augenscheinlich als Garten genutzt. In westlicher Richtung zum Vorhabensgrundstück befänden sich ebenfalls bauliche Anlagen, die entgegen den Festsetzungen des Bebauungsplans Nr. … errichtet worden seien. Ob hierfür Befreiungen erteilt worden seien, entziehe sich der Kenntnis der Prozessbevollmächtigten und sei auch nicht entscheidend.
7
Die Eigentümer des Grundstücks FlNr. …, Gemarkung …, hätten den Wunsch geäußert, dass der Eigentümer der Grundstücke FlNrn. … und …, jeweils Gemarkung … keine Grenzbebauung realisiere. Zu diesem Zweck hätten die Grundstückseigentümer eine schriftliche Zustimmung dahingehend erteilt, dass von einer Grenzbebauung zu ihrem Grundstück abgewichen werde. Das habe zur Folge, dass die festgesetzten Baugrenzen nicht eingehalten werden könnten.
8
Die erteilte Baugenehmigung sei rechtswidrig. Da der Festsetzung „Baugrenze“ ausnahmsweise eine drittschützende Wirkung zukomme, liege bereits deshalb ein Verstoß vor. Im Übrigen lägen die Voraussetzungen des § 31 Abs. 2 BauGB nicht vor. Selbst wenn davon auszugehen sein sollte, dass die Festsetzung „Baugrenze“ keine drittschützende Wirkung habe, so habe die Beklagte das ihr in § 31 Abs. 2 BauGB eingeräumte Ermessen rechtsfehlerhaft ausgeübt. Ob eine Festsetzung zum Maß der baulichen Nutzung drittschützende Wirkung entfalte, könne nicht allgemein beantwortet werden. Ob der Festsetzung Drittschutz beigemessen werden könne, hänge davon ab, ob den erfassten Bebauungsplanfestsetzungen eine Konzeption des Plangebers zu entnehmen sei, wonach mittels dieser Festsetzung die Planbetroffenen zu einer rechtlichen Schicksalsgemeinschaft mit wechselseitigen Pflichten und Rechten verbunden sein sollten. So verhalte es sich hier: Sinn und Zweck der Festsetzung zum Maß der baulichen Nutzung „Baugrenze“ bestehe nach der Planungskonzeption der Beklagten gerade darin, dass die Grundstücke im Geltungsbereich des Bebauungsplans allesamt mit einer Baugrenze belastet werden sollten. Diese Belastung führe allerdings in der Folge zu der für die Grundstückseigentümer positiven Wirkung, dass möglichst große Freiräume und Abstandsflächen geschaffen würden, die eine verdichtete Bebauung gerade in diesem Plangebiet unterbänden. Damit habe der Planungsgeber unzweifelhaft zum Ausdruck gebracht, dass sich jeder Grundstückseigentümer im Plangebiet der von ihm geschaffenen Schicksalsgemeinschaft unterzuordnen habe. Zudem gehe die Beklagte vorliegend selbst von einer drittschützenden Wirkung aus, da sie für die Erteilung der Befreiung die Zustimmung der Nachbarn eingeholt habe. Da es um die Befreiung von einer drittschützenden Festsetzung gehe, seien die Kläger bereits dann in ihren Rechten verletzt, wenn die Befreiung rechtswidrig sei, weil die Voraussetzungen des § 31 Abs. 2 BauGB nicht erfüllt seien. Weder sei der Tatbestand des § 31 Abs. 2 Nr. 1 BauGB erfüllt, noch der des § 31 Abs. 2 Nr. 2 BauGB. Zur städtebaulichen Vertretbarkeit sei anzumerken, dass diese ein gewisse Atypik voraussetze. Eine Befreiung wegen städtebaulicher Vertretbarkeit müsse sich also auf eine bodenrechtliche Sonderlage des jeweiligen Grundstücks stützen und könne daher nicht unter Berufung auf Gründe gewährt werden, die nahezu auf jedes Grundstück im Planbereich gleichermaßen zuträfen. Auch führe die Durchführung des Bebauungsplans nicht zu einer unbeabsichtigten Härte. Eine für ein bestimmtes Grundstück konkret - individuelle Festsetzung könne niemals eine unbeabsichtigte Härte enthalten. Eine unbeabsichtigte Härte liege nur vor, wenn die abstrakt-generelle Festsetzung auf einen atypischen Fall stoße.
9
Selbst wenn die drittschützende Wirkung der Festsetzung zur Baugrenze verneint werden sollte, sei die erteilte Befreiung weiterhin fehlerhaft und die erteilte Baugenehmigung rechtswidrig. Der Nachbarschutz richte sich in solchen Konstellationen nach den Grundsätzen des Tatbestandsmerkmals „unter Würdigung nachbarlicher Interessen“ und des darin verbürgten Rücksichtnahmegebots. Vorliegend handle es sich um ein Ermessensdefizit, da eine Abwägung der Belange der südlichen Nachbarn überhaupt nicht stattgefunden habe. Lediglich auf die Belange des Bauherrn und der östlichen Nachbarn sei Rücksicht genommen worden. Demnach sei gerade nicht das unter Würdigung nachbarlicher Interessen enthaltene Rücksichtnahmegebot bezüglich der Kläger beachtet. Da maßgebliche Tatsachen nicht berücksichtigt worden seien, sei die erteilte Befreiung rücksichtslos und damit für die Kläger unzumutbar.
10
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
11
Zur Begründung wird ausgeführt, das bestehende Gebäude auf dem östlichen Nachbargrundstück FlNr. … liege nur teilweise außerhalb des durch die Baugrenze gezogenen Baufensters.
12
Die Kläger machten eine drittschützende Wirkung der Baugrenzen des Bebauungsplans geltend und verwiesen insoweit auf die aktuelle Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts. Die Beklagte könne nicht erkennen, dass die Planbetroffenen mit den Festsetzungen zu den Baugrenzen „in ein wechselseitiges nachbarliches Austauschverhältnis“ eingebunden werden sollten. Weder aus der Satzung, noch aus der Begründung ergebe sich ein Anhaltspunkt für eine nachbarschutzvermittelnde Festsetzung. Gegen einen Drittschutz spreche neben der Größe des Baugebiets auch der Umstand, dass die Festlegung der Baugrenzen kein System im Sinne eines Aufeinanderbezogenseins erkennen ließe. Dies gelte jedenfalls insoweit, als die Gebiete oder Teilbaugebiete durch Wege oder Straßen voneinander getrennt seien. Das fehlende Aufeinanderbezogensein resultiere auch daraus, dass der Bebauungsplan sich als Mischung einer Überplanung im Bestand und einer Neuausweisung von Bauflächen darstelle.
13
Es sei richtig, dass die Bauordnungsbehörde den Beigeladenen aufgegeben habe, die Zustimmung des Eigentümers des östlichen Nachbargrundstücks zum Vorhaben einzuholen. Dies bedeute jedoch nicht, dass damit die Beklagte selbst von einer drittschützenden Wirkung aller Baugrenzen im Baugebiet ausgehe. Die Zustimmung des östlichen Grundstücksnachbarn sei vielmehr allein deshalb notwendig, weil mit dem Vorhaben des Beigeladenen dem östlichen Nachbarn die Möglichkeit genommen werde, innerhalb der Baugrenze ein grenzständiges Gebäude zu errichten.
14
Mit Schriftsatz vom 27. Februar 2020 teilte der Beigeladene mit, dass der Bebauungsplan leider nicht die Eigentumsverhältnisse der Eigentümer der Flurstücke … und …, jeweils Gemarkung …, berücksichtige. Im Idealfall hätten die Grundstücke … und * zusammengelegt und in der Mitte von West nach Ost geteilt werden müssen. Die östlichen Nachbarn hätten weder einer Grenzbebauung noch einem Grundstückstausch zugestimmt. Für die Bebauung in der jetzigen Form sei die Beseitigung vieler Hürden notwendig gewesen. Der Baukörper unterschreite die vorgesehenen Baufenster des Bebauungsplans. Die Klage sei schwer nachvollziehbar. Der südliche Baukörper ohne Balkon sei mehr als 11 m vom öffentlich genutzten Weg entfernt. Der öffentliche Weg verfüge über eine Breite von 2,5 m und trenne die Flurstücke zu den Reihenhäusern. Die südlich gelagerten Reihenhäuser mit etwa 3 m vorgelagerten Garten und Hauseingang seien somit etwa 16,5 m von dem südlichen Hauskörper auf dem Flurstück …, Gemarkung …, entfernt. Die Terrasse mit Gartenanteil der Kläger liege hinter dem Flurstück …, Gemarkung …, und werde somit nicht beeinträchtigt. Das Grundstück der Kläger liege seitlich vom streitgegenständlichen Grundstück. Wenn die Kläger vom Erdgeschossfenster in Richtung Norden blickten, dann sei im Wesentlichen die südliche Hecke vom Nachbarn vom Flurstück …, Gemarkung …, sichtbar. Wenn auf dem streitgegenständlichen Grundstück die Grenzbebauung realisiert worden wäre, dann wäre die Beeinträchtigung bei Blick aus dem Fenster vom Flurstück …, Gemarkung …, aus in Richtung Norden weit gravierender. Die Kläger seien wegen der seitlichen Lage ihres Grundstücks nicht direkt betroffen, da dieses Grundstück wesentlich an das Flurstück …, Gemarkung …, mit den dazwischen gelagerten öffentlichen Weg anschließe. Der Hauskörper von Flurstück …, habe eine geringere Entfernung zu den Flurstücken der Reihenhäuser. Der Bebauungsplan sei aufgrund der Eigentumsverhältnisse und unter Inanspruchnahme des vorhandenen Baurechts nicht realisierbar. Der Antrag auf Befreiung sei aus mehreren Gründen erforderlich gewesen. Das Bestandshaus sei baufällig gewesen und abgerissen worden. Es habe keine dem Beigeladenen bekannte Möglichkeit unter Berücksichtigung der Vorgaben und der nicht änderbaren Eigentumsverhältnisse gegeben, das streitgegenständliche Grundstück als Baugrundstück zu nutzen.
15
Der Beigeladene beantragt,
die Klage abzuweisen.
16
Im Übrigen wird Bezug genommen auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen Behördenakten. Hinsichtlich des Verlaufs der mündlichen Verhandlung wird auf die Sitzungsniederschrift verwiesen.

Entscheidungsgründe

A.
17
Streitgegenstand der vorliegenden Klage ist die dem Beigeladenen mit Bescheid vom 27. September 2019 erteilte Baugenehmigung.
B.
18
Die Klage ist jedenfalls unbegründet. Die streitgegenständliche Baugenehmigung verletzt die Kläger nicht in ihren Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
19
Ein Rechtsanspruch auf Aufhebung einer Baugenehmigung besteht für den Nachbarn nicht schon dann, wenn die Baugenehmigung objektiv rechtswidrig ist. Vielmehr setzt die Aufhebung einer Baugenehmigung weiter voraus, dass der Nachbar durch sie auch in seinen Rechten verletzt ist, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Dies ist nur dann der Fall, wenn die zur Rechtswidrigkeit der Baugenehmigung führende Norm zumindest auch dem Schutz des Nachbarn dient, also drittschützende Wirkung hat (vgl. BVerwG, U.v. 6.10.1989 - 4 C 40.87 - juris).
I.
20
Im Hinblick auf die Nachbareigenschaft der Kläger erscheint bereits die Zulässigkeit der Klage fraglich. Grundsätzlich sind alle Grundstücke als benachbart anzusehen, die durch das Vorhaben in ihren öffentlich-rechtlich geschützten Belangen berührt werden können (vgl. Dirnberger in Simon/Busse, BayBO, Art. 66 Rn. 60). Im Regelfall sind vor allem die unmittelbar angrenzenden Grundstücke als benachbart anzusehen, allerdings können durchaus auch nicht unmittelbar anliegenden Grundstücke als Nachbargrundstück einzuordnen sein, die beispielsweise durch einen Weg oder eine Straße getrennt sind, sofern diese Grundstücke in ihren öffentlich-rechtlichen Belangen berührt werden können. Vorliegend grenzt das klägerischer Grundstück nicht direkt an das Grundstück des streitgegenständlichen Vorhabens an. Beide Grundstücke sind durch einen öffentlichen Weg von ca. 2,50 m Breite getrennt, das klägerische Grundstück liegt auch nicht direkt auf der gegenüberliegenden Seite dieses Weges, sondern versetzt in östliche Richtung. Aufgrund der Tatsache, dass es sich bei dem streitgegenständlichen Vorhaben nur um ein Wohnhaus handelt, das somit kein besonderes Ausmaß an störender Wirkung mit sich bringt, ist schon die Nachbareigenschaft zweifelhaft (vgl. hierzu auch Dirnberger in Simon/Busse, BayBO, Art. 66 Rn. 67 f.).
II.
21
Selbst wenn man den Klägern eine Nachbareigenschaft zugestehen sollte, ist jedenfalls keine Verletzung einer nachbarschützenden Vorschrift erkennbar.
22
Das Vorhaben beurteilt sich im Hinblick auf seine Lage im Geltungsbereich eines qualifizierten Bebauungsplans nach § 30 Abs. 1 BauGB i.V.m. den Festsetzungen des Bebauungsplans …, der insbesondere Festsetzungen zur Art der baulichen Nutzung, zum Maß der baulichen Nutzung und zu den überbaubaren Grundstücksflächen trifft.
23
Mit der streitgegenständlichen Baugenehmigung wurden zu Recht Befreiungen wegen Überschreitung der Baugrenzen und wegen Nichteinhaltung der Festsetzung zu den vorgesehenen Flächen für Garagen und Stellplätze erteilt.
24
1. Wird eine Befreiung von einer nachbarschützenden Festsetzung erteilt, so führt jeder Fehler bei der Anwendung des § 31 Abs. 2 BauGB zur Aufhebung der Baugenehmigung. Handelt es sich hingegen um eine fehlerhafte Befreiung von einer nicht nachbarschützenden Festsetzung, so richtet sich der Nachbarschutz lediglich nach dem im Tatbestandsmerkmal „unter Würdigung nachbarlicher Interessen“ enthaltenen Rücksichtnahmegebot (siehe hierzu BayVGH, B.v. 5.9.2016 15 CS 16.1536 - juris). Ein Abwehranspruch des Nachbarn ist in diesem Fall nur gegeben, wenn die Behörde bei ihrer Ermessensentscheidung über die Befreiung nicht die gebotene Rücksicht auf die nachbarlichen Interessen genommen hat, (vgl. BVerwG, B.v. 8.7.1998 4 B 64.98 - juris).
25
Grundsätzlich sind lediglich Festsetzungen zur Art der baulichen Nutzung nachbarschützend - der Nachbar kann gebietsfremde Vorhaben im Wege des sog. Gebietserhaltungsanspruchs abwehren. Anderweitige Festsetzungen, insbesondere zum Maß der baulichen Nutzung und zur überbaubaren Grundstücksfläche, haben dagegen grundsätzlich keine nachbarschützende Wirkung, da derartige Festsetzungen in der Regel den Gebietscharakter nicht berühren (BVerwG, U.v. 23.6.1995, 4 B 52.95 - juris). Derartige Festsetzungen dienen im Regelfall nur dem öffentlichen Interesse und der städtebaulichen Ordnung. Nachbarschutz besteht daher im Hinblick auf solche Festsetzungen oder Befreiungen von derartigen Festsetzungen im Regelfall nur durch das Gebot der Rücksichtnahme (BVerwG, B.v. 8.7.1998, 4 B 64.98 - juris). Anderweitige Festsetzungen als Festsetzungen zur Art der baulichen Nutzung, insbesondere hinsichtlich des Maßes und der überbaubaren Grundstückflächen, sind ausnahmsweise dann nachbarschützend, wenn dies dem Willen der Gemeinde als Plangeber entspricht (st. Rspr., z.B. BVerwG, U.v. 9.8.2018, 4 C 7/17 - juris). Bei der Ermittlung des planerischen Willens der Gemeinde kommt es maßgeblich darauf an, ob im Text oder in der Begründung des Bebauungsplans Ausführungen dazu enthalten sind, dass die Festsetzungen zum Maß der baulichen Nutzung und der überbaubaren Grundstücksflächen ausnahmsweise nachbarschützend sind (st. Rspr., so z.B. BayVGH, B.v. 21.9.2016 - 9 ZB 14.2715 - juris; B.v. 27.6.2018 - 9 ZB 16.1012 - juris) oder ob sich aus den zeichnerischen Festsetzungen Anhaltspunkte für einen Nachbarschutz ergeben (siehe hierzu BVerwG, U.v. 9.8.2018. 4 C 7/17 - juris; VG Ansbach, U.v. 26.6.2019 - AN 9 K 18.01371 - juris). Ein Nachbarschutz ist dabei anzunehmen, wenn die Festsetzung (zumindest auch) einem nachbarlichen Interessenausgleich im Sinne eines Austauschverhältnisses dienen soll (vgl. BayVGH, B.v. 24.7.2020 - 15 CS 20.1332).
26
Das BVerwG hat in der sog. „Wannsee-Entscheidung“ mit Urteil vom 9. August 2019 (Az. 4 C 7/17) ausgeführt, dass Festsetzungen zum Maß der baulichen Nutzung - wobei die Ausführungen auf Festsetzungen zur überbaubaren Grundstücksfläche zu übertragen sein dürften - bei älteren Bebauungsplänen (d.h. solchen, die vor 1960 entstanden sind) nachträglich nachbarschützend „aufgeladen“ werden können, wenn der Plangeber die Planbetroffenen mit diesen Festsetzungen in ein wechselseitiges nachbarliches Austauschverhältnis einbinden wollte. Die Möglichkeit dieser subjektiv-rechtlichen „Aufladung“ ist allerdings auf diese Bebauungspläne begrenzt, die aus einer Zeit vor 1960 stammen. Bei „jüngeren“ Bebauungsplänen bestand für den kommunalen Plangeber angesichts der zum damaligen Zeitpunkt bereits ausgebildeten Dogmatik zum Drittschutz durch Bauleitplanung ja gerade die Möglichkeit, die entsprechenden Regelungen nachbarschützend auszugestalten. Die Unterstellung einer vom Plangeber nicht positiven Drittschutzwirkung erschiene insofern problematisch (vgl. hierzu BayVGH, B.v. 24.7.2020 - 15 CS 20.1332).
27
Unabhängig von der Möglichkeit der nachträglichen Aufladung setzt eine nachbarschützende Wirkung einer Festsetzung aber immer voraus, dass dem Plan ein wechselseitiges Austauschverhältnis zu entnehmen ist.
28
2. Nach diesen Grundsätzen sind die einschlägigen Festsetzungen zu den überbaubaren Grundstücksflächen jedenfalls im Hinblick auf das Baugrundstück im Verhältnis zum Grundstück der Kläger nicht nachbarschützend. Die Kläger können sich daher über das Gebot der Rücksichtnahme hinaus nicht darauf berufen, dass dem Beigeladenen hinsichtlich der Überschreitung der Baugrenzen Befreiung erteilt wurde. In den textlichen Festsetzungen unter Einbeziehung der Begründung des Bebauungsplans findet sich keinerlei Anhaltspunkt dafür, dass diese Festsetzungen nicht nur städtebaulichen Charakter haben sollen, sondern auch Nachbarschutz vermittelt werden soll. Auch aus den zeichnerischen Festsetzungen sind keine Anhaltspunkte für einen Nachbarschutz erkennbar.
29
Dies gilt in gleicher Weise für die Festsetzung zu den Flächen für Garagen und Stellplätze. Eine diesbezügliche nachbarschützende Wirkung ist dem Bebauungsplan gerade nicht zu entnehmen.
30
3. Da es sich um Befreiungen von nicht nachbarschützenden Festsetzungen handelt, bleibt als Anknüpfungspunkt für den Nachbarschutz, wie oben dargestellt, lediglich das Gebot der Rücksichtnahme, welches im in § 31 Abs. 2 BauGB enthaltenen Tatbestandsmerkmal „unter Würdigung nachbarlicher Interessen“ seinen Niederschlag gefunden hat.
31
Eine Verletzung des Rücksichtnahmegebotes liegt nach Auffassung der Kammer unter Abwägung aller Gesichtspunkte nicht vor. Unzumutbare Belästigungen oder Störungen sind durch das Bauvorhaben gerade nicht zu erwarten. Diesbezüglich ist insbesondere die Lage des streitgegenständlichen Vorhabens zu berücksichtigen. Zwischen der streitgegenständlichen Bebauung und dem Haus der Kläger liegt ein Wohnweg; die Gebäude haben einen Abstand von ca. 15 Metern. Wie bereits bezüglich der Frage der Nachbareigenschaft ausgeführt, liegen die Grundstücke sich noch nicht einmal gegenüber, sondern es ist ein seitlicher Versatz gegeben. Bezüglich der Kläger ist weiter zu berücksichtigen, dass der grundsätzlich schutzwürdigere rückwärtige Grundstücksbereich sich in südlicher Richtung befindet und somit keinesfalls durch das Vorhaben des Beigeladenen beeinträchtigt werden kann, zudem liegt das Baugrundstück nördlich des Grundstücks der Kläger, sodass eine Beschattung insoweit jedenfalls zulasten der Kläger praktisch ausscheidet.
C.
32
Nach alledem war die Klage abzuweisen.
33
Die Kostenfolge ergibt sich aus §§ 154 Abs. 1, 162 Abs. 3 VwGO. Der Beigeladene hat einen Antrag gestellt, so dass es im Hinblick auf das Kostenrisiko der Billigkeit entspricht, seine außergerichtlichen Kosten den Klägern aufzuerlegen.
34
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.