Titel:
Kein Abschiebungsverbot nach Algerien wegen angeblicher Blutrache
Normenketten:
AsylG § 3, § 3e, § 4, § 25
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1
Leitsätze:
1. Einem jungen und erwerbsfähigen Mann ist zuzumuten, zur Sicherung seines Existenzminimums den notwendigen Lebensunterhalt durch Erwerbstätigkeit zu verdienen und gegebenenfalls auf die Unterstützung durch Familienangehörige der in Algerien noch lebenden (Groß-)Familie zurückzugreifen. (Rn. 29) (redaktioneller Leitsatz)
2. Es besteht in Algerien für Männer keine beachtliche Verfolgungsgefahr hinsichtlich eines zu befürchteten Ehrenmordes wegen einer außerehelichen Beziehung zu einer Frau. (Rn. 25) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Algerien, Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, Bedrohung wegen außerehelicher Beziehung zur Frau aus anderem Berberstamm, keine beachtlich wahrscheinliche Gefahr eines Ehrenmordes oder der Blutrache bei einem Mann wegen einer außerehelichen Beziehung, Schutz vor strafbaren Handlungen in Algerien, inländische Aufenthaltsalternative, Sicherung des Existenzminimums, Bezugnahme auf Bundesamtsbescheid, keine andere Beurteilung durch Corona-Situation in Algerien, Abschiebungsandrohung, Asylverfahren, Blutrache, Corona-Pandemie, inländische Fluchtalternative, Flüchtlingseigenschaft, außereheliche Beziehung, Familienclan
Fundstelle:
BeckRS 2020, 21664
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Tatbestand
1
Der Kläger, algerischer Staatsangehöriger, reiste nach eigenen Angaben am 9. Januar 2020 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 24. Januar 2020 einen Asylantrag. Zur Begründung seines Asylantrages gab er im Wesentlichen an: Er sei von Kindesbeinen an mit einem Mädchen aus einem anderen Berberstamm befreundet gewesen. Die Berberstämme seien mit einer Heirat jeweils nicht einverstanden gewesen seien. Er sei mit dem Mädchen zusammengezogen. Die Verwandten des Mädchens hätten gedroht, den Kläger umzubringen. Dafür seien extra Jungs rekrutiert worden.
2
Mit Bescheid vom 5. Juni 2020 erkannte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft nicht zu (Nr. 1), lehnte den Antrag auf Asylanerkennung ab (Nr. 2) und erkannte den subsidiären Schutzstatus nicht zu (Nr. 3). Weiter stellte es fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 4). Der Kläger wurde aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe der Entscheidung, im Falle der Klageerhebung innerhalb von 30 Tagen nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens, zu verlassen. Die Abschiebung nach Algerien oder in einen anderen Staat wurde angedroht (Nr. 5). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde angeordnet und auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 6). Zur Begründung ist im Wesentlichen ausgeführt: Infolge der Bedrohung durch die Familie der Freundin würden keine flüchtlingsrelevanten Verfolgungsgründe verwirklicht. Darüber hinaus könne der Kläger auf landesinternen Schutz, z.B. durch die Polizei oder schlicht durch Umsiedlung in einen anderen Wohnort in Algerien, verwiesen werden. Der algerische Staat sei in der Lage und auch dazu bereit, gegen gewalttätige Übergriffe nichtstaatlicher Kräfte vorzugehen und entsprechend effektiven Schutz zu gewähren. Das Scharia-Recht gelte in Algerien nicht. Vorehelicher Geschlechtsverkehr sei nach algerischem Recht nicht strafbar. Dem Kläger sei es zumutbar, zunächst Schutz im eigenen Land zu suchen. Der Kläger könne sich an die Polizei wenden oder notfalls in einem anderen Landesteil Algeriens Schutz suchen. Eine Unterschreitung des wirtschaftlichen Existenzminimums bei einer Rückkehr nach Algerien sei nicht zu befürchten.
3
Am 23. Juni 2020 ließ der Kläger Klage gegen den streitgegenständlichen Bescheid erheben. Zur Klagebegründung ließ der Kläger im Wesentlichen ausführen: Der Kläger fürchte bei einer Rückkehr, aufgrund Blutrache getötet zu werden. Ihm drohe Verfolgung durch eine andere Stammesfamilie, deren Ehre er dadurch beschmutzt haben solle, dass er eine Tochter dieses Stammes habe ehelichen wollen.
4
Mit Schriftsatz vom 14. August 2020 ließ der Kläger im Wesentlichen weiter vorbringen: Die Streitigkeit zwischen den Familien bestehe bereits seit mehreren Jahren. Die Blutfehde überdauere mehrere Generationen. Das junge Paar sei ins Kreuzfeuer geraten. Der Cousin des Klägers, der den Streit habe schlichten wollen, sei von der anderen Familie schwer misshandelt worden und am 17. Juni 2020 gestorben. Die Nachricht habe der Kläger von seinem Bruder. Die übrige Familie habe ihn aus Angst verstoßen. Bei einer Rückkehr befürchte der Kläger getötet zu werden. Eine interne Fluchtalternative oder Hilfe durch staatliche Behörden böten sich dem Kläger nicht, da Mitglieder der anderen Familie sowohl als Militärangehörige, im Polizeidienst und auch bei anderen staatlichen Behörden wie dem Justizministerium tätig seien. Diese Tätigkeitsfelder habe die Familie schon seit der Revolutionszeit inne.
5
Die Beklagte beantragte mit Schriftsatz vom 1. Juli 2020,
6
Die Kammer übertrug den Rechtsstreit mit Beschluss vom 24. Juni 2020 dem Berichterstatter als Einzelrichter zur Entscheidung.
7
Mit Beschluss vom 23. Juli 2020 lehnte das Gericht den Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und auf Beiordnung der Prozessbevollmächtigten ab.
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In der mündlichen Verhandlung am 24. August 2020 beantragte die Klägerbevollmächtigte,
die Beklagte unter Aufhebung der Nrn. 1 und 3 bis 6 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 5. Juni 2020 zu verpflichten, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen;
hilfsweise dem Kläger den subsidiären Schutz zuzuerkennen;
hilfsweise festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegen.
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Das Gericht hörte den Kläger informatorisch an.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakte sowie die beigezogene Behördenakte Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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Die Klage, über die entschieden werden, obwohl nicht alle Beteiligten in der mündlichen Verhandlung erschienen sind (§ 102 Abs. 2 VwGO), ist zulässig, aber unbegründet.
12
Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 5. Juni 2020 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 AsylG. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung subsidiären Schutzes gemäß § 4 AsylG sowie für die Feststellung von Abschiebungsverboten nach des § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG liegen nicht vor. Die Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung sowie die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots sind ebenfalls nicht zu beanstanden (§ 113 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 5 Satz 1 VwGO). Das Gericht folgt im Ergebnis sowie in der wesentlichen Begründung dem angefochtenen Bescheid und sieht insoweit von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab (§ 77 Abs. 2 AsylG).
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Das Gericht kommt aufgrund der zum Gegenstand des gerichtlichen Verfahrens gemachten Erkenntnismittel - ebenso wie das Bundesamt im angefochtenen Bescheid - zu dem Ergebnis, dass dem Kläger bei einer Rückkehr nach Algerien keine politische Verfolgung oder sonst eine ernsthafte Gefahr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohte oder droht (vgl. auch BayVGH, B.v. 29.10.2018 - 15 ZB 18.32711 - juris; B.v.14.8.2018 - 15 ZB 18.31693 - juris).
14
Ein Ausländer darf gemäß § 3 ff. AsylG nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Verfolgungshandlungen müssen an diese Gründe anknüpfend mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen (siehe zum einheitlichen Wahrscheinlichkeitsmaßstab BVerwG, U.v. 1.6.2011 - 10 C 25/10 - BVerwGE 140, 22; U.v. 27.4.2010 - 10 C 5/09 - BVerwGE 136, 377). Eine beachtliche Verfolgungswahrscheinlichkeit liegt dann vor, wenn die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Maßgebend ist letztlich, ob es zumutbar erscheint, dass der Ausländer in sein Heimatland zurückkehrt (BVerwG, U.v. 3.11.1992 - 9 C 21/92 - BVerwGE 91, 150; U.v. 5.11.1991 - 9 C 118/90 - BVerwGE 89, 162). Über das Vorliegen einer mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit gegebenen Gefahr politischer Verfolgung entscheidet eine wertende Gesamtbetrachtung aller möglichen verfolgungsauslösenden Gesichtspunkte, wobei in die Gesamtschau alle Verfolgungsumstände einzubeziehen sind, unabhängig davon, ob diese schon im Verfolgerstaat bestanden oder erst in Deutschland entstanden und von dem Ausländer selbst geschaffen wurden oder ob ein Kausalzusammenhang zwischen dem nach der Flucht eingetretenen Verfolgungsgrund und entsprechend den schon in dem Heimatland bestehenden Umständen gegeben ist (BVerwG, U.v. 18.2.1992 - 9 C 59/91 - Buchholz 402.25, § 7 AsylVfG Nr. 1).
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Aufgrund seiner prozessualen Mitwirkungspflicht hat ein Kläger (oder eine Klägerin) seine (ihre) Gründe für seine politische Verfolgung schlüssig und vollständig vorzutragen (§ 25 Abs. 1 und 2 AsylG, § 86 Abs. 1 Satz 1 2. Halbsatz VwGO). Er muss unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt schildern, aus dem sich - als wahr unterstellt - bei verständiger Würdigung die behauptete Verfolgung ergibt. Bei den in die eigene Sphäre des Klägers fallenden Ereignissen, insbesondere seinen persönlichen Erlebnissen, muss er eine Schilderung abgeben, die geeignet ist, den Abschiebungsschutz lückenlos zu tragen. Unauflösbare Widersprüche und erhebliche Steigerungen des Vorbringens sind hiermit nicht vereinbar und können dazu führen, dass dem Vortrag im Ganzen nicht geglaubt werden kann. Bleibt ein Kläger hinsichtlich seiner eigenen Erlebnisse konkrete Angaben schuldig, so ist das Gericht nicht verpflichtet, insofern eigene Nachforschungen durch weitere Fragen anzustellen. Das Gericht hat sich für seine Entscheidung die volle Überzeugung von der Wahrheit, nicht bloß von der Wahrscheinlichkeit zu verschaffen (vgl. hierzu BVerwG, U.v. 16.4.1985 - 9 C 106.84 - BVerwGE 71, 180).
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Dem Kläger ist es nicht gelungen, die für seine Ansprüche relevanten Gründe in der dargelegten Art und Weise geltend zu machen. Unter Zugrundelegung der Angaben des Klägers ist das Gericht nicht davon überzeugt, dass eine begründete Gefahr (politischer) Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit bestand bzw. besteht oder sonst eine ernsthafte Gefahr drohte oder droht.
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Das Bundesamt hat im streitgegenständlichen Bescheid schon zutreffend ausgeführt, dass die behauptete Bedrohung nicht flüchtlingsrelevant sei. Infolge der Bedrohung der Familie der Freundin würden keine flüchtlingsrelevanten Verfolgungsgründe verwirklicht. Darüber hinaus könne der Kläger auf landesinternen Schutz, z.B. durch die Polizei oder schlichte Umsiedlung in einen anderen Wohnort in Algerien, verwiesen werden. Der algerische Staat sei in der Lage und auch dazu bereit, gegen gewalttätige Übergriffe nicht staatlicher Kräfte vorzugehen und entsprechend effektivem Schutz zu gewähren. Das Scharia-Recht gelte in Algerien nicht. Vorehelicher Geschlechtsverkehr sei nach algerischem Recht nicht strafbar. Dem Kläger sei es zumutbar, zunächst Schutz im eigenen Land zu suchen. Der Kläger könne sich an die Polizei wenden oder notfalls in einem anderen Landesteil Algeriens Schutz suchen. In Algerien gebe es kein wie in Deutschland vergleichbares Meldewesen. Es existiere keine gesetzliche Meldepflicht. Örtliche Wahlregister seien nicht aktuell und setzten eine aktive Registrierung als Wähler voraus. Der Kläger könnte z.B. in der Anonymität einer der großen Städte untertauchen. Insofern sei nicht ersichtlich, dass der Kläger von der anderen Familie oder von den angeheuerten Jungs gefunden werden könnte. Dem Kläger sei es gelungen, sich auch schon vor seiner Ausreise erfolgreich zu verstecken. Zudem habe eine tatsächliche Konfrontation mit dem Kläger und Mitgliedern der anderen Familie oder mit den Jungs nicht stattgefunden. Dass der unbewiesene voreheliche Geschlechtsverkehr zu Vergeltungsaktionen führe, erscheine übertrieben. Offenbar habe die Familie des Klägers sogar noch Chancen für eine Verlobung gesehen. Eine Unterschreitung des wirtschaftlichen Existenzminimums bei einer Rückkehr nach Algerien sei nicht zu befürchten. Insbesondere erscheine es zumutbar, den Lebensunterhalt durch einfache und gegebenenfalls befristete Tätigkeiten zu sichern.
18
Die Ausführungen im streitgegenständlichen Bescheid decken sich mit der bestehenden Erkenntnislage, insbesondere mit dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes (Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Demokratischen Volksrepublik Algerien v. 11.7.2020, Stand: Juni 2020; vgl. ebenso BFA, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Algerien v. 26.6.2020; Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Länderreport 11, Algerien, Marokko, Tunesien, Menschenrechtslage, im Focus: vulnerable Personen, Stand: 6/2019; Länderreport 3, Algerien, November 2018) und mit der Rechtsprechung der Kammer (vgl. etwa VG Würzburg, B.v. 13.8.2020 - W 8 S 20.30940; B.v. 6.8.2020 - W 8 S 20.30912 - juris; B.v. 17.7.2020 - W 8 S 20.30824 - juris; jeweils m.w.N.) .
19
Ergänzend ist anzumerken, dass der Kläger in der mündlichen Verhandlung am 24. August 2020 zur Überzeugung des Gerichts nicht den Eindruck hinterlassen hat, eine widerspruchsfreie und in sich stimmige Verfolgungsgeschichte zu erzählen.
20
So war schon auffällig, dass der Kläger in der mündlichen Verhandlung wiederholt betonte, er habe nicht mit seiner Freundin zusammengewohnt. Er habe nur die eine Wohnung angemietet, in der sie sich erstmals und einmalig und auch nur für etwa vier Stunden getroffen hätten; länger zusammenwohnen, etwa zwei Tage oder eine Woche, sei unmöglich. Demgegenüber hatte der Kläger bei seiner Bundesamtsanhörung (S. 6 des Anhörungsprotokolls, Bl. 78 der Bundesamtsakte) ausdrücklich angegeben, dass er ein Haus gemietet habe und mit dem Mädchen dort zusammengewohnt habe.
21
Der pauschale Einwand des Klägers, es habe Übersetzungsfehler bei der Bundesamtsanhörung gegeben, der Dolmetscher habe nicht sauber übersetzt, vermag nicht zu überzeugen. Der Kläger hat bei seiner Anhörung (S. 10 des Anhörungsprotokolls, Bl. 82 der Bundesamtsakte) ausdrücklich angegeben, dass es keine Verständigungsschwierigkeiten gegeben habe. Dem Kläger wurde, wie er auch bestätigt hat, die Niederschrift beim Bundesamt zurückübersetzt.
22
Weiter widersprüchlich sind die Angaben zu der Richterin, bei der seine Freundin in Algerien untergekommen sei. Denn bei der Bundesamtsanhörung (S. 7 und 10 des Anhörungsprotokolls, Bl. 79 und 82 der Bundesamtsakte) erklärte der Kläger ausdrücklich, seine Freundin sei zu einer Richterin geflohen, einer Bekannten ihrer Familie. Die Richterin gehöre nicht zu dem Stamm, sie sei nur eine Bekannte. Demgegenüber gab der Kläger in der mündlichen Verhandlung an, seine Freundin sei zu einer Tante geflohen und habe dort gewohnt. Die Tante kümmere sich darum, dass ihr nichts passiere. Auf Vorhalt des Gerichts erklärte der Kläger zunächst, irgendeine in der Familie sei Scharia-Richterin; er wisse nicht, ob es diese Tante sei. Er habe schon beim Bundesamt die Tante erwähnt. Dies sei falsch übersetzt worden. Weiter gab der Kläger aber in der mündlichen Verhandlung kurz darauf an, die Tante sei eine Richterin. Auf Vorhalt des Gerichts, dass er kurz davor gesagt habe, er wisse nicht, ob die Tante die Richterin sei, antwortet der Kläger wieder abweichend bzw. ausweichend, er wisse, dass die eine Tante die Richterin sei, aber er wisse nicht, ob es diese Tante oder diese Tante gewesen sei. Dieses Vorbringen lässt sich nicht mit der früheren Aussage in Einklang bringen, dass dies Richterin nicht zum Stamm gehöre, sondern nur eine Bekannte sei.
23
Des Weiteren ist zu den behaupteten Übersetzungsfehlern anzumerken, dass der Kläger erstmals in der mündlichen Verhandlung darauf hingewiesen hat und sie trotz Fristsetzung nach § 87b Abs. 3 VwGO nicht schon vorher erwähnt und bei Gericht vorgebracht hat.
24
Das Gleiche gilt für das in der mündlichen Verhandlung vom Kläger präsentierten Dokument, welches er angeblich vor dem 14. August 2020, so am 6. oder 7. August, erhalten habe. Abgesehen davon dokumentiert die in dem Dokument wiedergegebene Klage nicht eine Bedrohung des Klägers, sondern bezieht sich auf eine Klage seines Familienclans gegen einen Anderen, um zu bewirken, dass die Täter, die seinen Cousin schwer verletzt hätten, so dass er gestorben sei, vor Gericht gestellt würden. Abgesehen davon belegt dieses Dokument, dass sehr wohl in Algerien staatliche Hilfe in Anspruch genommen werden kann, auch gegen die angeblich einflussreiche gegnerische Familie.
25
Letztlich ist das Gericht nicht davon überzeugt, dass dem Kläger bei einer Rückkehr wirklich mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit Leib oder Lebensgefahr droht, zumal auch offenbar seine Freundin weiterhin unbeschadet in Algerien bleiben konnte bzw. die Möglichkeit hatte, sich dort in Sicherheit zu bringen.
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Des Weiteren sprechen die zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Auskünfte gegen eine beachtliche wahrscheinliche Verfolgungsgefahr. Zwar ist es in Algerien möglich, dass es zu Ehrenmorden kommen kann, insbesondere im ländlichen Bereich und insbesondere gegenüber Frauen (vgl. BAA, Bundesasylamt der Republik Österreich, Bericht zur Fact Finding Mission, Algerien 2012 mit den Schwerpunkten Menschenrechtsfragen und rückkehrrelevante Themen, Februar 2013, S. 11 f.). Tatsächlich würden sich gesellschaftliche Reaktionen primär gegen Frauen richten, die außereheliche Beziehungen eingingen. Da die Familie ihr Gesicht verlieren würde, würde die Frau verstoßen (ACCORD, Anfragebeantwortung zu Algerien: Strafbarkeit vom vorehelichen Geschlechtsverkehr; Gilt in solchen Fällen die Scharia oder ist dies im Strafgesetzbuch gereg…, vom 29.7.2014). Zur Frage, ob im Fall von Gewalttaten aufgrund außereheliche Beziehungen in Algerien die Traditionen der Ehrenmorde oder der Blutrache zur Anwendung kommen, konnten nach einer Quelle keine Informationen gefunden werden bzw. gebe es nur wenige Informationen über Männer, die wegen außereheliche Beziehungen Opfer von Gewalt würden. Die meisten Berichte im Kontext von Ehrenmorden beziehen sich auf weibliche Opfer (ACCORD, Anfragebeantwortung: Männliche Opfer von Gewalttaten wegen außerehelicher Beziehungen, vom 22.8.2007). Auch der Kläger erklärte auf Frage des Gerichts, er kenne niemand persönlich. Aber er kenne die alten Geschichten, bei denen früher jemand umgebracht worden sei (vgl. zur Thematik auch schon VG Würzburg, U.v. 5.11.2018 - W 8 K 18.31898 - juris; U.v. 23.5.2018 - W 8 K 18.30250 - juris).
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Jedenfalls droht dem Kläger bei einer eventuellen Rückkehr nach Algerien auch deshalb keine Verfolgung bzw. ernsthafte Gefahr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit seitens Dritter - konkret der Familie der Freundin -, weil er insoweit zum einen gehalten ist, sich an die staatlichen Stellen zu wenden, um um Schutz nachzusuchen, und weil zum anderen für ihn eine zumutbare inländische Flucht- bzw. Aufenthaltsalternative besteht (vgl. § 3e, § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG). Für den Kläger besteht in Algerien eine zumutbare inländische Aufenthaltsalternative, wenn er sich in einen anderen Teil des Landes, insbesondere in einer anderen Großstadt Algeriens niederlässt (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der demokratischen Volksrepublik Algerien vom 11.7.2020, Stand: Juni 2020, S. 18). Der Kläger muss sich auf interne Schutzmöglichkeiten in seinem Herkunftsland verweisen lassen. Das Auswärtige Amt sieht selbst für den Fall der Bedrohung durch islamistische Terroristen in den größeren Städten Algeriens ein wirksames (wenngleich nicht vollkommenes) Mittel, um einer Verfolgung zu entgehen. Es ist nicht erkennbar, dass die Familie der Freundin den Kläger ohne weiteres auffinden können sollten, wenn er seinen ursprünglichen Heimatort meidet und in andere Großstädte geht. Angesichts der Größe Algeriens und der Größe der dortigen Städte hält es das Gericht nicht für beachtlich wahrscheinlich, dass der Kläger fürchten müsste, von der Familie der Freundin entdeckt und gefährdet zu werden. Darüber hinaus ist nicht auszuschließen, dass bei gewalttätigen Übergriffen nicht doch die Polizei schutzwillig und schutzfähig wäre, wenn auch ein absoluter Schutz naturgemäß nicht gewährleistet werden kann (vgl. VG Minden, B.v. 30.8.2019 - 10 L 370/19.A - juris; U.v. 28.3.2017 - 10 K 883/16.A - juris; U.v. 22.8.2016 - 10 K 821/16.A - juris; VG Magdeburg, U.v. 6.12.2018 - 8 A 206/18 - juris; BayVGH, B.v. 29.10.2018 - 15 ZB 18.32711 - juris; VG Köln, B.v. 24.8.2016 - 3 L 1612/16.A - juris; SaarlOVG, B.v. 4.2.2016 - 2 A 48/15 - juris).
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Ergänzend wird noch angemerkt, dass der Hinweis des Klägers auf den Umstand, dass die andere Familie sowohl als Militärangehörige, im Polizeidienst und auch sonst in staatlichen Stellen, wie im Justizministerium, tätig seien, führen zu keiner anderen Beurteilung. Denn zum einen hat das Bundesamt schon zu Recht ausgeführt, dass aufgrund des jedenfalls mangelhaften Meldewesens in Algerien ein Verstecken in der Anonymität einer Großstadt möglich ist. Zum anderen hat der Kläger nicht konkretisiert, inwiefern die andere Familie überhaupt von seiner Rückkehr erfahren und ihn ausfindig machen könnte. Er hat allgemein nur von einem General bei der Polizei erzählt, der seinerzeit im Blida gewesen sei, ohne dessen Funktion näher zu konkretisieren Die Vermutung bzw. die theoretische Möglichkeit, dass der Kläger gleichwohl entdeckt werden könnte, reicht nicht aus, zumal er selbst angegeben hat, er könne sich sechs bis acht Monate (so vor Gericht in der mündlichen Verhandlung) bzw. bis zu zwei Jahren (so beim Bundesamt) verstecken, bis er vielleicht gefunden werde. Diese Aussage belegt, dass der Kläger selbst davon ausgeht, - zumindest zeitweise - gefahrlos untertauchen zu können, so dass dieser Aspekt ebenfalls gegen eine mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohende Leib- und Lebensgefahr bei einer Rückkehr spricht. Schließlich belegt das vom Kläger in der mündlichen Verhandlung vorgelegte Dokument einer Klage seiner Familie gegen die andere Familie, dass die Täter, die seinen Cousin verletzt hätten, so dass er gestorben sei, vor Gericht gestellt würden, dass offenbar der andere Familienclan nicht so mächtig sein kann, dass staatliche bzw. gerichtliche Hilfe gegen ihn nicht in Anspruch genommen werden könnte.
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Das Gericht hat des Weiteren keine durchgreifenden Zweifel, dass dem Kläger im Anschluss an seiner Rückkehr die Sicherung seiner wirtschaftlichen Existenz möglich sein wird. Dem Kläger ist es zuzumuten, sich eine Arbeit zu suchen, bzw. es besteht die Möglichkeit der Unterstützung von noch in Algerien lebenden Familienmitgliedern, so dass er sich jedenfalls sein Existenzminimum sichern kann. Gegenteiliges folgt auch nicht aus der wirtschaftlichen und sozialen Lage Algeriens, wie auch das Bundesamt im streitgegenständlichen Bescheid ausgeführt hat. In Algerien ist die Grundversorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln und auch die medizinische Grundversorgung gewährleistet (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Demokratischen Volksrepublik Algerien vom 11.7.2020, Stand: Juni 2020, S. 6, 8 f. und 21; BFA, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Algerien vom 26.6.2020, S. 27 ff.). Der Kläger ist noch jung und erwerbsfähig; ihm ist zuzumuten zur Sicherung seines Existenzminimums den notwendigen Lebensunterhalt durch Erwerbstätigkeit zu verdienen und gegebenenfalls auf die Unterstützung durch Familienangehörige der in Algerien noch lebenden (Groß-)Familie zurückzugreifen. Letztlich ist dem Kläger eine (Re-)Integration in die Lebensverhältnisse seines Heimatstaates möglich und zumutbar (ebenso VG München, B.v. 2.7.2020 - M 26 S 20.31428 - juris; VG Frankfurt, U.v. 5.3.2020 - 3 K 2341/19.F.A - juris; SaarlOVG, B.v. 25.9.2019 - 2 A 284/18 - juris; VG Minden, B.v. 30.8.2019 - 10 L 370/19.A - juris; U.v. 28.3.2017 - 10 K 883/16.A - juris; U.v. 22.8.2016 - 10 K 821/16.A - juris; BVerwG, U.v. 25.4.2019 - 1 C 46/18 - InfAuslR 2019, 309; U.v. 27.3.2018 - 1 A 5/17 - Buchholz 402.242, § 58a AufenthG Nr. 12; VG Stade, U.v. 1.4.019 - 3 A 32/18 - juris; VG Magdeburg, U.v. 6.12.2018 - 8 A 206/18 - juris; VG Köln, B.v. 24.8.2016 - 3 L 1612/16.A - juris).
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Sonstige Gründe für das Bestehen eines Abschiebungsverbots sind weder vorgetragen noch ersichtlich.
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Ergänzend wird lediglich noch angemerkt, dass insbesondere auch die weltweite COVID 19-Pandemie kein Abschiebungshindernis begründet, weil nach den aktuellen Fallzahlen in Algerien - auch im Vergleich zu Deutschland -, wie sie das Gericht in der mündlichen Verhandlung mitgeteilt hat (siehe Sitzungsprotokoll, S. 2), keine hohe Wahrscheinlichkeit der Gefahr der Ansteckung oder gar eines schweren oder lebensbedrohlichen Verlaufs besteht, so dass nicht ersichtlich ist, dass der Kläger bei einer Rückkehr nach Algerien krankheitsbedingt einer erheblichen konkreten Gefahr für Leib oder Leben oder sonst einer extremen materiellen Not mit der Gefahr der Verelendung ausgesetzt wäre. Dies gilt gerade, wenn der Kläger die von algerischen Staat getroffenen Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie sowie individuelle Schutzmaßnahmen (Einhaltung von Abstand, Hygieneregeln, Mund-Nasen-Schutzmasken usw.) beachtet und die bestehenden Hilfemöglichkeiten in Anspruch nimmt, zumal der algerische Staat nicht tatenlos geblieben ist und Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie sowie Hilfemaßnahmen getroffen hat (siehe Auswärtiges Amt, Algerien: Reise- und Sicherheitshinweise; Deutsche Botschaft Algier, aktuelle Corona-Maßnahmen in Algerien; BFA, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Kurzinformation der Staatendokumentation, Afrika, COVID-19 - aktuelle Lage, v. 9.7.2020, S. 14 f.; Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Algerien, v. 26.6.2020, S. 30; s. auch VG München, B.v. 2.7.2020 - M 26 S 20.31428 - juris; vgl. zum Ganzen ausführlich VG Würzburg, B.v. 13.8.2020 - W 8 S 20.30940; B.v. 6.8.2020 - W 8 S 20.30912 - BeckRS 2020, 19425; B.v. 17.7.2020 - W 8 S 20.30824 - juris; jeweils m.w.N.).
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Abgesehen davon hat der Kläger keinerlei Angaben gemacht, wie sich aktuell die Lage zur Ausbreitung von Covid-19 in Algerien darstellt, insbesondere wie viele Menschen sich dort mit dem zugrundeliegenden Krankheitserreger Sars CoV 2 infiziert haben, hierdurch schwer erkrankt oder gar verstorben sind, von wie vielen Ansteckungsverdächtigen derzeit auszugehen ist, welche Schutzmaßnahmen und welche Effektivität der algerische Staat zur Eindämmung der Pandemie ergriffen hat, um beurteilen zu können, ob und welche Wahrscheinlichkeit für eine möglicherweise befürchtete Ansteckung mit COVID-19 im Fall einer Rückkehr besteht. Denn für die Beurteilung ist auf die tatsächlichen Umstände des konkreten Einzelfalls abzustellen, zu der auch eine eventuelle - beim Kläger nicht gegebene - Zugehörigkeit zu einer Risikogruppe gehört (vgl. OVG NRW, B.v. 23.6.2020 - 6 A 844/20.A - juris).
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Im Übrigen wird auf den angefochtenen Bundesamtsbescheid Bezug genommen und von einer weiteren Darstellung der Gründe abgesehen (§ 77 Abs. 2 AsylG). Dies gilt auch hinsichtlich der Begründung der Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung sowie der Anordnung und Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots.
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Nach alledem war die Klage mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG abzuweisen.