Inhalt

VG München, Urteil v. 17.03.2020 – M 19 K 16.32656
Titel:

Anspruch auf die Zuerkennung von Flüchtlingsschutz

Normenketten:
AsylG § 3, § 3a, § 3b, § 3c, § 4
AufenthG § 60 Abs. 5, § 60 Abs. 7 S. 1
Leitsatz:
Nach den dem Gericht vorliegenden Erkenntnismitteln bilden alleinstehende Frauen im Irak, die nicht auf den Schutz eines (männlich dominierten) Familienverbandes zurückgreifen können, eine bestimmte soziale Gruppe im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG, deren Mitglieder mit hinreichender Wahrscheinlichkeit Verfolgungshandlungen ausgesetzt sind und für die keine inländische Fluchtalternative zur Verfügung steht. (Rn. 28) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Asylrecht, Herkunftsland: Irak (Kerbala, B.), Alleinstehende Frau ohne männliche Begleitung, Anspruch auf Anerkennung, Flüchtlingseigenschaft, Irak, Prognose, Verfolgungsgefahr, soziale Gruppe, alleinstehende Frau
Fundstelle:
BeckRS 2020, 21048

Tenor

I. Die Beklagte wird unter Aufhebung der Nummern 1 und 3 bis 6 des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 23. August 2016 verpflichtet, der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Klägerin vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

1
Nach eigenen Angaben reiste die Klägerin, eine irakische Staatsangehörige mit schiitischer Glaubensüberzeugung, im November 2015 auf dem Landweg in die Bundesrepublik D. ein. Sie stellte am 8. April 2016 einen förmlichen Asylantrag.
2
Bei ihrer Anhörung durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) gab sie im Wesentlichen an, den Ir. im November 2015 verlassen zu haben. Grund hierfür sei gewesen, dass nach der Heirat mit ihrem zweiten Ehemann - der erste sei getötet worden - dieser bedroht worden sei, weil die Klägerin Schiitin sei. Sie hätten deswegen den Heimatort … verlassen und sich eine Weile bei Verwandten in B. aufgehalten. Die Klägerin habe Reisepässe für sich und für ihre Kinder beantragt. Nach Ausstellung ihres Reisepasses habe sie den Ir. verlassen; die Kinder habe sie bei den Eltern von ihrem ersten Ehemann und ihren Eltern zurückgelassen, da die Ausstellung der Reisepässe für die Kinder zu lange gedauert habe. In B. habe sie nicht länger leben können, dort hätten viele Sunniten in ihrem Viertel gelebt und die junge Familie sei auch von diesen bedroht worden. Die Bedrohungen erfolgten v. a. durch Textnachrichten (SMS). In den Textnachrichten habe gestanden, dass die Klägerin und ihr Mann den Wohnort verlassen müssten, anderenfalls würden sie umgebracht.
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Mit Bescheid vom 23. August 2016, am 26. August 2016 zugestellt, lehnte das Bundesamt die Anträge auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Nr. 1), auf Asylanerkennung (Nr. 2) und auf subsidiären Schutz (Nr. 3) ab, stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) nicht vorliegen (Nr. 4) und drohte dem Kläger mit einer Ausreisefrist von 30 Tagen die Abschiebung in den Ir. an (Nr. 5). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 AufenthG wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 6).
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Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, die Voraussetzungen für die Zuerkennung internationalen Schutzes und die Anerkennung als Asylberechtigter lägen nicht vor. Der Sachvortrag der Klägerin genüge nicht den Anforderungen an eine glaubhafte Darstellung eines Verfolgungsschicksals. Ihre Angaben zu den vorgetragenen Bedrohungen seien arm an Details, vage und oberflächlich; sie könne eine ihr bei einer Rückkehr drohende Verfolgung oder einen ernsthaften Schaden daher nicht nachvollziehbar begründen. Auch auf Vorhalt habe sie eine individuelle Bedrohung nicht beschreiben können. Alle Angaben der Klägerin beruhten auf dem, was sie von Dritten, insbesondere ihrem Bruder, gehört und gesagt bekommen habe, eine individuelle Betroffenheit habe nicht dargelegt werden können. Außerdem widerspreche das Vorbringen der Klägerin in entscheidungserheblichen Punkten dem Vortrag ihres Ehemannes. Außerdem habe die Klägerin im Hinblick auf B., ihren letzten, zumindest vorübergehenden Aufenthaltsort, eine ihr dort unmittelbar drohende Verfolgungshandlung nicht dargelegt können. Die Voraussetzungen für die Gewährung von subsidiärem Schutz seien ebenfalls nicht gegeben. Der Klägerin drohten bei Rückkehr in den Ir. aufgrund der dortigen Situation keine erheblichen individuellen Gefahren aufgrund willkürlicher Gewalt. Ebenso lägen die Tatbestandsmerkmale von Abschiebungsverboten nicht vor.
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Am 31. August 2016 erhob die Klägerin zur Niederschrift Klage beim Bayerischen Verwaltungsgericht München mit dem Antrag,
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den Bescheid der Beklagten vom 23. August 2016 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, der Klägerin als Asylberechtigte anzuerkennen, der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft und den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen, sowie festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 AufenthG vorliegen.
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Zur Begründung wurde auf die Angaben gegenüber dem Bundesamt Bezug genommen.
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Die Beklagte hat die Verwaltungsakten auf elektronischem Weg vorgelegt, ohne einen Antrag zu stellen.
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Ausweislich eines Polizeiberichts vom 21. Mai 2016 hat die Klägerin in der Notunterkunft für Asylbewerber in Er. einen Suizidversuch unternommen. Ein ärztliches Attest vom Arbeiter-Samariter-Bund vom 23. Mai 2016 bestätigt, dass sie sich aufgrund einer depressiven Entwicklung in stationärer psychiatrischer Behandlung befand.
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Mit Beschluss vom 29. Oktober 2019 wurde der Rechtsstreit zur Entscheidung auf den Einzelrichter übertragen, § 76 Abs. 1 AsylG.
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Im Rahmen der mündlichen Verhandlung am 5. Februar 2020 wurde die Klägerin informatorisch gehört. Sie führte aus, dass ihr Vortrag beim Bundesamt nicht zutreffend gewesen sei. Ihr (zweiter) Ehemann habe den Ir. aus freien Stücken verlassen - seine Familie sei vermögend - und sie habe diesen begleiten müssen. Sie sei bei der Entscheidung zur Ausreise nicht eingebunden gewesen. Sie habe vor dem Bundesamt schlicht das wiedergegeben, was ihr der Ehemann vorgegeben habe, auszusagen. Jedoch habe sie sich zwischenzeitlich von ihrem Ehemann getrennt bzw. nach islamischen Vorstellungen geschieden, nachdem dieser sie mehrfach geschlagen habe. Sie habe zwischenzeitlich auch einen neuen Lebenspartner, der nicht schiitischen, sondern sunnitischen Glaubens sei. Sie habe sich - auch in ihrem Kleidungsstil - dem westlichen Lebensstil angepasst. Sie könne als geschiedene und alleinstehende Frau nicht in den Ir. zurückkehren; sie verfüge weder über Wohnraum noch über ein familiäres Netzwerk, das sie unterstützen würde. Von ihrer Familie werde sie inzwischen (v.a. wegen der Trennung und der neuen Beziehung mit einem Sunniten) vollkommen abgelehnt; ein Kontakt zu ihren im Ir. verbliebenen Kindern werde ihr vorenthalten. Ihre Familie sei sehr konservativ und würde ihr Verhalten als Beschmutzung der Familienehre einordnen. Sie erhalte nur über eine Freundin, die sie noch im Ir. habe, gelegentlich Informationen über ihre Familie und insbesondere ihre Kinder. Sie sei schon während ihrer Zeit im Ir. von ihrer Familie nach dem Tod des ersten Ehemannes wegen ihres Lebensstils argwöhnisch beäugt worden, nunmehr aber sei sie in Ungnade gefallen.
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Die Klägerin legte einen Bericht der zuständigen Polizeiinspektion über drei, teilweise nach § 170 Abs. 2 StPO eingestellte Verfahren gegen ihren Ehemann vor. Ein Verfahren wegen gefährlicher Körperverletzung endete mit einer Geldstrafe von 80 Tagessätzen zu 60,00 Euro und sei seit dem 23. Mai 2018 rechtskräftig abgeschlossen. In diesem Verfahren habe der Ehemann der Klägerin eine Rippe gebrochen.
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In der weiteren mündlichen Verhandlung am 10. März 2020 wurde die Klägerin erneut informatorisch gehört und näher zu ihren innerfamiliären Konflikten befragt.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Niederschriften über die mündlichen Verhandlungen, die vorgelegte Behördenakte und die Gerichtsakte Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Das Gericht konnte trotz Ausbleibens eines Vertreters der Beklagten über die Sache verhandeln und entscheiden, da die Beklagte ordnungsgemäß geladen und in der Ladung auf diese Möglichkeit hingewiesen worden war (§ 102 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO).
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Die Klage ist zulässig und im Wesentlichen begründet.
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Die Klägerin hat einen Anspruch darauf, die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des streitgegenständlichen Bescheids zu verpflichten, ihr die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Einen Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigte hat sie hingegen nicht.
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Maßgeblich für die Entscheidung ist die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG).
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1. Ein Anspruch auf die Zuerkennung von Flüchtlingsschutz besteht.
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a) Einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, wird die Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 4 AslyG zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen von § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG oder das Bundesamt hat nach § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG von der Anwendung des § 60 Abs. 1 AufenthG abgesehen. Ein Ausländer ist nach § 3 Abs. 1 AsylG Flüchtling, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG) und keiner der Ausschlussgründe der § 3 Abs. 2 und Abs. 3 AsylG vorliegt.
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Weitere Einzelheiten regeln die §§ 3a - d AsylG in Umsetzung der Richtlinie 2011/95/EU vom 20. Dezember 2011 (sog. Qualifikationsrichtlinie). Erforderlich ist demnach eine Verfolgungshandlung i.S.v. § 3a Abs. 1, 2 AsylG, die an einen Verfolgungsgrund i.S.v. § 3b AsylG anknüpft und von einem Akteur i.S.v. § 3c AsylG ausgeht. Weiter muss es an einem effektiven Schutz vor Verfolgung im Herkunftsstaat fehlen (§§ 3d, 3e AsylG). Zwischen den in § 3 Abs. 1 Nr. 1 i. V. m. den in § 3b AsylG genannten Verfolgungsgründen und den in § 3a Abs. 1 und 2 AsylG als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen muss eine Verknüpfung bestehen (§ 3a Abs. 3 AsylG).
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b) Maßgeblich für die Prüfung der Flüchtlingseigenschaft ist der Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, U.v. 20.2.2013 - 10 C 23/12 - juris, Rn 19). Dieser setzt voraus, dass bei zusammenfassender Würdigung des zur Prüfung stehenden Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung vorzunehmen. Maßgebend ist in dieser Hinsicht damit letztlich der Gesichtspunkt der Zumutbarkeit. Entscheidend ist, ob aus der Sicht eines besonnenen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage des Klägers nach Abwägung aller bekannten Umstände eine (hypothetische) Rückkehr in den Herkunftsstaat als unzumutbar erscheint. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (vgl. BVerwG, U.v. 20.2.2013 - 10 C 23/12 - juris, Rn 32; BayVGH, U.v. 14.2.2017 - 21 B 16.31001 - juris Rn. 21).
23
Der der Prognose zugrunde zu legende Wahrscheinlichkeitsmaßstab ist unabhängig davon, ob der Betroffene bereits vor seiner Ausreise verfolgt worden ist (vgl. BVerwG, U.v. 27.4.2010 - 10 C 5.09 - juris Rn. 22). Bei einer Vorverfolgung gilt kein herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab. Vorverfolgten kommt jedoch die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU, der keine nationale Entsprechung hat, zugute (vgl. BVerwG, B.v. 15.8.2017 - 1 B 123.17 u. a. - juris Rn. 8; B.v. 11.7.2017 - 1 B 116.17 u. a. - juris Rn. 8). Danach ist die Tatsache, dass ein Ausländer bereits verfolgt wurde bzw. von einer solchen Verfolgung unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Ausländers vor Verfolgung begründet ist, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass er erneut von solcher Verfolgung bedroht wird. Ist der Ausländer hingegen unverfolgt ausgereist, muss er glaubhaft machen, dass ihm mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr von Verfolgung droht, wenn er in sein Heimatland zurückkehrt (VG Oldenburg, U.v. 21.5.2019 - 15 A 748/19 - juris Rn. 20).
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c) Die von der Klägerin in der mündlichen Verhandlung am 10. Februar 2020 erstmals vorgetragene Sachverhalt, rechtfertigt - gemessen an den vorstehend geschilderten Anforderungen - die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Die Klägerin ist zwar nicht vorverfolgt ausgereist, aber es droht ihr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr von Verfolgung, wenn sie in ihr Heimatland zurückkehrt. Das Gericht ist zu der Überzeugung gelangt, dass die Klägerin im Falle ihrer Rückkehr in den Ir. aus individuellen, an ihre Person anknüpfenden Gründen Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe zu befürchten hat.
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aa) Die Klägerin konnte zur Überzeugung des Gerichts begründen, dass ihr zunächst beim Bundesamt vorgetragenes Verfolgungsschicksal zwar erfunden war, aber nur deshalb vorgebracht wurde, weil dies der Ehemann, der selbst nicht vorverfolgt ausgereist war, von ihr verlangt habe. Dem Vortrag der Klägerin in der mündlichen Verhandlung zufolge, habe sie den Ir. ursprünglich nicht verlassen wollen und sei mit ihrem Leben dort zumindest im Kern nicht unzufrieden gewesen, wenngleich es dort bereits wegen ihres Lebensstils Kritik gegeben habe.
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bb) Dem nunmehrigen Vorbringen, dass sie als alleinstehende Frau ohne familiären Anknüpfungspunkt nicht zurückkehren könne, misst das Gericht rechtliche Bedeutung zu. Es ist mit der überwiegenden Rechtsprechung davon auszugehen, dass die Klägerin wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe im Fall der Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit verfolgt werden wird.
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(1) Nach § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG gilt eine Gruppe insbesondere dann als eine bestimmte soziale Gruppe, wenn die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten (lit. a), und die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird (lit. b). Eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe kann auch vorliegen, wenn sie allein an das Geschlecht anknüpft (§ 3b Abs. 1 Nr. 4 letzter Hs. AsylG).
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(2) Nach den dem Gericht vorliegenden Erkenntnismitteln bilden alleinstehende Frauen im Ir. , die nicht auf den Schutz eines (männlich dominierten) Familienverbandes zurückgreifen können, eine bestimmte soziale Gruppe im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG, deren Mitglieder mit hinreichender Wahrscheinlichkeit Verfolgungshandlungen ausgesetzt sind und für die keine inländische Fluchtalternative zur Verfügung steht.
29
Das Gericht folgt insoweit der weit überwiegenden Rechtsprechung (vgl. VG Hannover, U.v. 7.10.2019 - 6 A 5999/17 - juris Rn. 23 ff.; VG Bayreuth, U.v. 5.8.2019 - B 3 K 18.31416 - UA S. 4; VG Wiesbaden, U.v. 31.5.2019 - 1 K 152/17.WI.A - juris-Rn. 44 ff.; VG Aachen, U.v. 3.5.2019 - 4 K 3092/17.A - juris Rn. 20 ff.; VG Weimar, U.v. 17.4.2019 - 6 K 20181/17 We - UA S. 5 ff.; VG Regensburg, U.v. 16.4.2019 - RO 4 K 17.30455 - UA S. 4 ff.; VG Münster, U.v. 02.10.2018 - 6a K 5132/16.A, juris Rn. 35 ff.; VG Hannover, U.v. 26.2.2018 - 6 A 5751/16 - juris Rn. 38 ff.; VG Gelsenkirchen, U.v. 8.6.2017 - 8a K 1971/16.A - juris Rn. 32 ff.).
30
Zusammengefasst stellt sich die Lage in der Herkunftsregion der Klägerin, aber auch insgesamt im Ir. insoweit wie folgt dar: Alleinlebende Frauen sind im gesamten Ir. unüblich und beschränken sich allenfalls auf Witwen, die im Zusammenhang mit kriegerischen Auseinandersetzungen ihr männliches Familienoberhaupt verloren haben. Diese werden jedoch üblicherweise in den verbleibenden (männlich dominierten) Familienverband (re-)integriert und auf diese Weise regelrecht beaufsichtigt; die permanente Kontrolle verwitweter oder geschiedener Frauen durch männliche Familienmitglieder ist insoweit zentraler Bestandteil irakischer Moral- und Ehrvorstellungen. Alleinlebende Frauen ohne männliche Unterstützung durch ihre Familie oder Stammesgruppen sind demgegenüber mit diskriminierenden Einstellungen der Behörden und Gesellschaft konfrontiert und einem besonders hohen Risiko von Gewalt ausgesetzt. Sie befinden sich in einer verletzlichen Position in Bezug auf ihre wirtschaftliche Lage und es besteht die erhöhte Gefahr, Opfer von Misshandlung, Ausbeutung und Menschenhandel zu werden. Sie werden von breiten gesellschaftlichen Schichten sozial ausgegrenzt. Ohne den Schutz eines männlichen Verwandten und die notwendigen Beziehungen lässt sich kaum eine Arbeitsstelle finden, zumal es bis heute in breiten Schichten der irakischen Gesellschaft nicht üblich ist, dass Frauen einer Erwerbstätigkeit außerhalb ihres eigenen Hauses nachgehen. Teilweise ist es den Frauen zumindest faktisch verwehrt, selbst Eigentum zu mieten. Insgesamt hat sich die Lage solcher Frauen aufgrund von Unsicherheit, hoher Kriminalität, ungenügendem Schutz durch staatliche Autoritäten, schlechter Infrastruktur sowie der zunehmenden Bedeutung strikter islamischer Werte, die oftmals von Milizen, Familien und Clans durchgesetzt werden, in den letzten Jahren generell verschlechtert. Speziell alleinstehende Frauen ohne Schutz der Familie, des Stammes und Clans oder Unterstützung anderer Personen und Einrichtungen sind nicht in der Lage, Zugang zu grundlegenden Ressourcen ohne diese Unterstützung zu bekommen. Von ihren Familien verstoßene Frauen ohne soziales Netzwerk zur Unterstützung sind erheblich schlechter gestellt als alleinstehende Frauen mit Unterstützung. Zwar ist in der irakischen Verfassung die Gleichstellung der Geschlechter festgeschrieben, jedoch bestimmt Art. 41 der Verfassung, dass Ir. er Personenstandsangelegenheiten ihrer Religion entsprechend regeln dürfen. Insoweit gewährt schon die Verfassungslage rigiden religiösen Vorstellung zu Lasten von Frauen Entfaltungsspielraum. Zudem findet auf einfachgesetzlicher Ebene die verfassungsrechtlich garantierte Gleichstellung häufig keine Entsprechung. So kann ohne männliche Zustimmung eine Frau etwa keinen Reisepass oder Dokumente beantragen, die für die Inanspruchnahme öffentlicher Dienstleistungen, Nahrungsmittelhilfe etc. erforderlich sind. Ehrenmorde werden auch im Zentral- und Südirak von Schiiten und Sunniten arabischer Volkszugehörigkeit praktiziert. Frauen und Mädchen, die durch unmoralisches Verhalten Schande über die Familie gebracht haben sollen, werden von männlichen Familienmitgliedern zur Wiederherstellung der Familienehre getötet (vgl. die Nachweise in den genannten Entscheidungen, insbesondere aber: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Anfragebeantwortung der Staatendokumentation Ir. - Lage der Frauen, Ehrenverbrechen, 31.1.2017; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 5.2.2018 zum Ir. : Frauenhäuser in Kirkuk; EASO, Ir. - gezielte Gewalt gegen Individuen, März 2019, S. 185 ff.; Accord, Anfragebeantwortung zum Ir. : Autonome Region Kurdistan: Lage alleinstehender Frauen; Sicherheitslage, 12.8.2019; Accord, Anfragebeantwortung zum Ir. : Lage von alleinstehenden Frauen, vor allem mit westlicher Gesinnung nach Rückkehr aus dem westlichen Ausland und Asylantragstellung, 25.2.2019).
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(3) Die dargestellte Erkenntnismittellage findet ihre sachliche Entsprechung in den glaubhaften Angaben der Klägerin in der mündlichen Verhandlung. Im Vordergrund steht dabei nicht die Würdigung des von ihr (frühestens seit 2016) gelebten westliche(ren) Lebensstils, der sie schon angesichts des vergleichsweise kurzen Zeitraums nicht maßgeblich geprägt haben kann, sondern die Würdigung der radikalen Abwendung ihrer Familie von der Klägerin mit der Folge des Fehlens eines stützenden Sozialverbands im Falle der Rückkehr. Die Klägerin hat glaubhaft geschildert, dass sich ihre gesamte Familie nach den Vorfällen in Deutschland - insbesondere ihrer Trennung von ihrem Ehemann und der Hinwendung zu einem anderen Mann sunnitischen Glaubens - von ihr abgewandt habe und ihr Verhalten als nicht akzeptabel ansehe. Sie verfügt nach ihrem glaubwürdigen Vortrag (im gesamten Ir. ) über keine schutzbereiten männlichen Familienangehörigen (mehr).
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(4) Die beschrieben Verfolgungshandlungen gegenüber den Angehörigen der sozialen Gruppe sind aufgrund ihrer Art und Wiederholung im Einklang mit der überwiegenden Rechtsprechung als so gravierend einzustufen, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen (§ 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG). Alleinstehende Frauen werden in ihrer körperlichen und geistigen Integrität verletzt, sie werden gegenüber den Männern diskriminiert, sie werden in ihrer allgemeinen Handlungsfreiheit beschnitten und ihnen wird es erheblich erschwert, alleine zu überleben und ein selbstbestimmtes Leben zu führen, am öffentlichen Gesellschaftsleben teilzunehmen, sich zu bilden und zu arbeiten. Für den Eintritt dieser Verletzungen besteht eine beachtliche Wahrscheinlichkeit. Die erforderliche „Verfolgungsdichte“ ist anzunehmen, da die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen besteht, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt, sondern die Handlungen auf alle sich im Ir. aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne Weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht. Die genannten Verfolgungshandlungen drohen nicht nur selten, sondern sie sind üblich und ubiquitär. Da eine alleinstehende Frau ohne männliche schutzbereite Familienangehörige sich notgedrungen alleine in der Öffentlichkeit bewegen muss, um wenigstens zu versuchen, eine Wohnung zu mieten, zu arbeiten und sich zu versorgen, kann sie die bestehenden Gefahren auch nicht umgehen.
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(5) Die Verfolgung erfolgt auch im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG „wegen“ der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe. Die geschilderten Verfolgungshandlungen knüpfen gezielt an das weibliche Geschlecht an.
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(6) Die Verfolgung geht von nichtstaatlichen Akteuren aus, ohne dass der Staat, Parteien, Organisationen oder internationale Organisationen bereit und in der Lage wären, Schutz vor Verfolgung zu bieten (§§ 3c und 3d AsylG). Die irakischen Streit- und Sicherheitskräfte sind nicht befähigt, landesweit den Schutz der Bürger zu gewährleisten, auch nicht soweit die Gesetze überhaupt Schutz gewähren.
35
(7) Der Klägerin steht im Ir. auch kein interner Schutz in einem anderen Landesteil des Ir. offen. Die beschriebene Lage alleinstehender Frauen ohne männlichen Schutz besteht im gesamten Ir. .
36
d) Anhaltspunkte für Ausschlussgründe gegenüber der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 2, Abs. 3 AsylG sowie § 60 Abs. 8 S. 1 AufenthG liegen nicht vor.
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2. Der Klägerin steht kein Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigte nach Art. 16a GG zu, da sie aus einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaften eingereist ist.
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3. Da die Klage auf Zuerkennung des Flüchtlingsschutzes Erfolg hat, sind die Nummern 1, 3 und 4 aufzuheben. Da mit der Flüchtlingsanerkennung die Voraussetzungen des § 34 Abs. 1 Nr. 2 AsylG entfallen, ist die Abschiebungsandrohung (Nummer 5 des Bescheids) rechtswidrig. Die Befristungsentscheidung setzt eine rechtmäßige Abschiebungsandrohung voraus; auch sie war deshalb aufzuheben. Über die hilfsweise gestellten Verpflichtungsanträge bzgl. der Nummern 3 und 4 des Bescheids muss wegen der Zuerkennung des Flüchtlingsschutzes nicht mehr entschieden werden.
39
4. Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 3 VwGO; die Klägerin unterlag nur zu einem geringen Teil. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. Zivilprozessordung (ZPO).