Titel:
Beeinträchtigung des Kindeswohls bei Ausweisung eines Straftäters
Normenketten:
VwGO § 108 Abs. 1 S. 1
AufenthG § 53 Abs. 1, Abs. 2, Abs. 3
ARB 1/80 Art. 7 S. 1
StGB § 64
GG Art. 6 Abs. 1, Abs. 2
EMRK Art. 8
Leitsätze:
1. Bei aufenthaltsrechtlichen Entscheidungen, die den Umgang mit einem Kind berühren, ist maßgeblich auch auf die Sicht des Kindes abzustellen und im Einzelfall zu untersuchen, ob tatsächlich eine persönliche Verbundenheit besteht, auf deren Aufrechterhaltung das Kind zu seinem Wohl angewiesen ist. Dabei sind die Belange des Elternteils und des Kindes umfassend zu berücksichtigen (Rn. 26). (redaktioneller Leitsatz)
2. Ein hohes, gegen die Aufenthaltsbeendigung sprechendes Gewicht haben die Folgen einer vorübergehenden Trennung insbesondere, wenn ein noch sehr kleines Kind betroffen ist, das den nur vorübergehenden Charakter einer räumlichen Trennung möglicherweise nicht begreifen kann und diese rasch als endgültigen Verlust erfährt (Rn. 26). (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Ausweisung, assoziationsrechtliches Aufenthaltsrecht, illegaler Handel mit Betäubungsmitteln, Wiederholungsgefahr, familiäre Beziehung zu zwei Kindern mit deutscher Staatsangehörigkeit, Beeinträchtigung des Kindeswohls eines noch sehr kleinen Kindes, Gesamtabwägung, familiäre Beziehung zu zwei deutschen Kindern, Beeinträchtigung des Kindeswohls, sehr kleines Kind
Vorinstanz:
VG München, Urteil vom 27.06.2019 – M 24 K 19.689
Fundstelle:
BeckRS 2020, 20622
Tenor
I. Das Urteil des Verwaltungsgerichts München vom 27. Juni 2019 und der Bescheid der Beklagten vom 16. Januar 2019 in der Fassung der Änderung vom 6. Juli 2020 werden aufgehoben.
II. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe des zu vollstreckenden Betrages leistet.
IV. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
1
Gegenstand des Berufungsverfahrens ist die Klage des Klägers gegen den Ausweisungsbescheid der Beklagten vom 16. Januar 2019.
2
Der am 6. Juni 1990 in Deutschland geborene Kläger ist türkischer Staatsangehöriger und seit 30. Juli 2013 im Besitz einer Niederlassungserlaubnis. Seine Eltern und sieben seiner neun Geschwister leben in Deutschland, zwei Geschwister leben in der Türkei. Er verfügt über keinen Schul- oder Berufsausbildungsabschluss und übte in der Vergangenheit zeitweise Hilfsarbeiten, zeitweise selbständige gewerbliche Tätigkeiten aus.
3
Der Kläger ist Vater eines am 21. Mai 2011 geborenen Sohnes (M. R.) und einer am 26. Januar 2019 geborenen Tochter (L. A.), die beide die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen.
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Mit Urteil des Landgerichts München I vom 30. November 2017 wurde der Kläger wegen vorsätzlichen unerlaubten bewaffneten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit vorsätzlichem unerlaubtem Besitz von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt; zugleich wurde seine Unterbringung in einer Entziehungsanstalt angeordnet. Ab dem 13. Februar 2017 befand sich der Kläger deswegen in Untersuchungshaft und ab dem 13. Dezember 2017 im Maßregelvollzug nach § 64 StGB im Bezirkskrankenhaus Kaufbeuren. Mit Strafbefehl des Amtsgerichts München vom 15. Juni 2016 war er bereits wegen unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln in Tateinheit mit vorsätzlichem Besitz einer verbotenen Waffe zu einer Geldstrafe von 50 Tagessätzen verurteilt worden.
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Mit Bescheid der Beklagten vom 16. Januar 2019 wurde der Kläger aus der Bundesrepublik Deutschland ausgewiesen (Nr. 1), das Einreise- und Aufenthaltsverbot auf sechs (für den Fall nachgewiesener Straf- und Drogenfreiheit) bzw. acht Jahre ab Ausreise befristet (Nr. 2) und die Abschiebung in die Türkei angedroht (Nr. 3). Rechtsgrundlage der Ausweisung sei § 53 Abs. 1 i.V.m. Abs. 3 AufenthG. Der Kläger könne sich auf den besonderen Schutz nach § 53 Abs. 3 AufenthG berufen, weil er als Familienangehöriger seines dem regulären Arbeitsmarkt angehörenden Vaters einen Anspruch gemäß Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 besitze. Sein persönliches Verhalten stelle gegenwärtig eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung dar, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berühre. Er habe schwerwiegende Betäubungsmittelstraftaten begangen und ausweislich der Feststellungen des Strafgerichts im Urteil vom 30. November 2017 am 13. Februar 2017 in der von ihm genutzten Wohnung 2502,76 g Haschisch und 17,4 g Marihuana zum Eigenkonsum und Weiterverkauf sowie auf dem Kleiderschrank in dieser Wohnung eine Gas-/Schreckschusspistole Walter P 22 mit zugehöriger Munition aufbewahrt. Weitere 3,59 g Haschisch und 5.865,- Euro Bargeld aus Betäubungsmittelverkäufen habe er bei seiner Festnahme in München mit sich geführt. Bereits am 15. Juni 2016 sei er wegen unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln in Tateinheit mit vorsätzlichem Besitz einer verbotenen Waffe zu einer Geldstrafe verurteilt worden. Dies habe ihn jedoch offensichtlich nicht beeindruckt. Die begangenen Straftaten seien auf seine seit über zehn Jahren bestehende Drogenabhängigkeit (Cannabis, Kokain) zurückzuführen. Aufgrund der langjährigen unbehandelten Suchterkrankung und der Schwere der begangenen Straftaten bestehe eine erhöhte Wiederholungsgefahr. Die vom illegalen Handel mit Betäubungsmitteln ausgehenden Gefahren berührten ein Grundinteresse der Gesellschaft, da die Schutzgüter Leben und Gesundheit in besonderem Maße betroffen seien. Bei der erforderlichen Interessenabwägung stehe einem besonders schwerwiegenden Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG ein besonders schwerwiegendes Bleibeinteresse nach § 55 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 4 AufenthG gegenüber, da sich der Kläger als Besitzer einer Niederlassungserlaubnis seit mehr als fünf Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten habe und ein Umgangsrecht mit seinem minderjährigen deutschen Sohn M. R. ausübe. Mit Blick auf die erhebliche konkrete Gefahr neuer besonders schwerer Straftaten überwiege das öffentliche Interesse an der Ausweisung die privaten Interessen des Klägers am weiteren Verbleib in Deutschland. Demnach sei die Ausweisung zur Wahrung eines Grundinteresses der Gesellschaft unerlässlich. Im Hinblick auf die Bindungen des Klägers und seinen langjährigen Aufenthalt im Bundesgebiet werde das Einreise- und Aufenthaltsverbot bei Erfüllung der verfügten Bedingungen auf sechs Jahre, andernfalls auf acht Jahre ab Ausreise befristet.
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Die gegen diesen Bescheid erhobene Anfechtungsklage hat das Verwaltungsgericht mit Urteil vom 27. Juni 2019 abgewiesen. Die Ausweisung finde ihre Rechtsgrundlage in § 53 Abs. 1, Abs. 2 und Abs. 3, § 54 Abs. 1 Nr. 1 und 55 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG. Das der Verurteilung durch das Landgericht München I vom 30. November 2017 zugrundeliegende persönliche Verhalten des Klägers stelle eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung dar, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berühre. In der Rechtsprechung sei anerkannt, dass Gefahren, die vom illegalen Handel mit Betäubungsmitteln ausgehen, schwerwiegend seien und ein Grundinteresse der Gesellschaft berührten. Vom Kläger gehe eine Wiederholungsgefahr aus. Die Menge der bei ihm aufgefundenen Betäubungsmittel sei erheblich und der Kläger auch einschlägig vorbestraft gewesen. Zwar beruhten die Straftaten im Wesentlichen auf einer Betäubungsmittelabhängigkeit des Klägers, der sich seit 13. Dezember 2017 im Rahmen des Maßregelvollzugs in einer Drogentherapie befinde. Die Therapie sei trotz positiver Stellungnahme des Bezirksklinikums aber noch nicht abgeschlossen und ein dauerhafter Einstellungswandel und eine innerlich gefestigte Verhaltensänderung beim Kläger noch nicht feststellbar. Auch der soziale Empfangsraum stelle sich nach Abschluss des Maßregelvollzugs nicht grundlegend anders dar wie vor seiner Inhaftierung und Unterbringung. Die Geburt seines Sohnes am 21. Mai 2011 habe ihn nicht von der Begehung der Straftaten abgehalten. Für die am „27. Juni 2019“ (richtig: 26.1.2019) geborene L. A. liege noch keine wirksame Vaterschaftsanerkennung vor. Jedenfalls habe er zu seiner neuen Lebensgefährtin und der Tochter bislang noch keine familiäre Beziehung aufbauen können. Die Ausweisung sei für die Wahrung eines Grundinteresses der Gesellschaft unerlässlich. Der Kläger sei zwar ein sogenannter faktischer Inländer, der mit seinen Eltern und sieben seiner Geschwister seit seiner Geburt in Deutschland lebe. Ebenso sei zu berücksichtigen, dass er bis zu seiner Inhaftierung regelmäßigen Kontakt zu seinem Sohn M. R. gehabt und Unterhalt gezahlt habe. Angesichts der weiterhin bestehenden Gefahr eines Schadens für die bedeutsamen Schutzgüter Leben und Gesundheit durch den Handel mit Betäubungsmitteln überwiege vorliegend jedoch das Ausweisungsinteresse die durch Art. 6 GG, Art. 2 Abs. 1 GG und Art. 8 EMRK geschützten Belange bzw. Interessen des Klägers. Die Länge der in der mündlichen Verhandlung auf vier (unter der Bedingung der Straf- und Drogenfreiheit) bzw. fünf Jahre verkürzten Sperrfrist und die Abschiebungsandrohung seien rechtlich nicht zu beanstanden.
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Im Rechtsmittelverfahren legte der Kläger eine ärztliche Kurzinformation des Bezirkskrankenhauses Kaufbeuren über den Verlauf seiner stationären Unterbringung gemäß § 64 StGB vom 23. Oktober 2019 vor, wonach er im Rahmen der Therapie wesentliche Defizite, welche unter anderem seine Suchterkrankung und die bestehende Persönlichkeitsakzentuierung bedingt hätten, erkannt und den Transfer in seinen Alltag vollzogen habe. Unter den aktuellen Umständen sei von einer stabilen Abstinenzmotivation auszugehen. Die durchgeführten Atemalkohol- und Drogenkontrollen seien im Beobachtungszeitraum negativ verlaufen. Weiter vorgelegt wurden die vom zuständigen Standesamt beurkundete Vaterschaftsanerkennung des Klägers für seine am 26. Januar 2019 geborene Tochter L. A. sowie der Beschluss des Landgerichts Kempten - Strafvollstreckungskammer - vom 18. Oktober 2019, mit dem die mit Urteil des Landgerichts München I vom 30. November 2017 angeordnete Maßregel der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt und die Restfreiheitsstrafe aus diesem Urteil zur Bewährung ausgesetzt worden sind. Die Bewährungszeit und die Dauer der Führungsaufsicht wurden auf fünf Jahre festgesetzt und dem der Bewährungshilfe unterstellten Kläger gleichzeitig mehrere Weisungen erteilt. Auf die Gründe dieses Beschlusses wird Bezug genommen.
8
Seine mit Beschluss des Senats vom 28. Januar 2020 im Hinblick auf neuere Entwicklungen zugelassene Berufung begründet der Kläger im Wesentlichen damit, der angefochtene Ausweisungsbescheid wie auch das erstinstanzliche Urteil verstießen gegen Art. 6 GG und Art. 8 EMRK. Er habe weiterhin Kontakt zu seinem Sohn M. R. und erbringe beachtliche Beistands- und Betreuungsleistungen. Auch kümmere er sich um seine am 26. Januar 2019 geborene Tochter L. A., mit der er - zusammen mit der Mutter des Kindes - in familiärer Gemeinschaft lebe. Weder der Mutter noch seinen Kindern sei ein Verlassen der Bundesrepublik Deutschland zumutbar. Insoweit dränge nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die Pflicht des Staates, die Familie zu schützen, einwanderungspolitische Belange zurück. Auch sei die angestellte Gefahrenprognose zum aktuellen Zeitpunkt nicht mehr zutreffend.
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das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichts München vom 27. Juni 2019 und den Bescheid der Beklagten vom 16. Januar 2019 aufzuheben.
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Die Beklagte beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Sie ist der Auffassung, das Ausweisungsinteresse überwiege nach wie vor das Bleibeinteresse des Klägers trotz seiner familiären Beziehungen zu den beiden deutschen Kindern und der erneuten Schwangerschaft seiner Lebensgefährtin.
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Der Vertreter des öffentlichen Interesses hat sich im Rechtsmittelverfahren nicht geäußert.
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Zur mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof hat der Kläger eine aktuelle Bestätigung seiner Bewährungshilfe vom 1. Juli 2020 über den bisherigen Verlauf der Führungsaufsicht vorgelegt. Die Beklagte hat Behördenakte ergänzt und unter anderem Unterlagen über ein gegen den Kläger geführtes Ermittlungsverfahren wegen Vorenthaltens/Veruntreuung von Arbeitsentgelt sowie aktuelle polizeiliche Erkenntnisse vorgelegt.
16
In der mündlichen Verhandlung am 6. Juli 2020 wurde der Kläger zu seinen persönlichen Verhältnissen, insbesondere familiären Beziehungen, angehört und seine Lebensgefährtin diesbezüglich als Zeugin vernommen; auf das Sitzungsprotokoll wird Bezug genommen. Die Beklagte hat im Hinblick auf die festgestellten familiären Beziehungen des Klägers zu seinen deutschen Kindern die Sperrfrist in Nr. 2 des streitbefangenen Bescheids vom 16. Januar 2019 auf zwei Jahre (unter den dort genannten Bedingungen) abgeändert, im Übrigen (bei Nichterfüllung der Bedingungen) die Sperrfrist bei fünf Jahren belassen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichts- und Behördenakten verwiesen.
Entscheidungsgründe
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Die zulässige Berufung des Klägers ist begründet. Der angefochtene Ausweisungsbescheid der Beklagten vom 16. Januar 2019 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger dadurch in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Demgemäß waren dieser Bescheid und das die Anfechtungsklage des Klägers abweisende Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichts München vom 27. Juni 2019 aufzuheben.
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1. Gegenstand des Berufungsverfahrens ist das Anfechtungsbegehren (§ 42 Abs. 1 1. Alt. VwGO) auf Aufhebung des streitgegenständlichen Ausweisungsbescheids der Beklagten. Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung der angefochtenen Ausweisung ist die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs (stRspr des BVerwG, vgl. z.B. U.v. 9.5.2019 - 1 C 21.18 - juris Rn. 11; vgl. auch BayVGH, U.v. 27.10.2017 - 10 B 16.1252 - juris Rn. 25).
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2. Die Ausweisung des Klägers erweist sich gemessen an ihren rechtlichen Grundlagen (§ 53 Abs. 1, 2 und 3 AufenthG) im maßgeblichen Zeitpunkt als rechtswidrig. Das persönliche Verhalten des Klägers stellt zwar (auch) gegenwärtig eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung dar, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt (2.1.). Die Ausweisung ist unter Berücksichtigung der Interessen des Klägers an einem weiteren Verbleib im Bundesgebiet (2.2.) aber nicht mehr für die Wahrung dieses Interesses unerlässlich (2.3.).
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2.1. Die Ausweisung ist an den gegenüber dem Grundtatbestand des § 53 Abs. 1 AufenthG erhöhten Ausweisungsvoraussetzungen gemäß § 53 Abs. 3 AufenthG zu messen, weil der Kläger - zwischen den Parteien unstreitig - als Familienangehöriger seines dem regulären Arbeitsmarkt der Bundesrepublik Deutschland angehörenden (türkischen) Vaters ein assoziationsrechtliches Aufenthaltsrecht gemäß Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 erworben hat.
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2.1.1. Die Annahme des Verwaltungsgerichts, das persönliche Verhalten des Klägers, das seiner Verurteilung durch das Landgericht München I vom 30. November 2017 zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten wegen vorsätzlichen unerlaubten bewaffneten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit vorsätzlichem unerlaubtem Besitz von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zugrunde lag, stelle eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung dar, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berühre, ist auch zum Zeitpunkt der Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs rechtlich nicht zu beanstanden. Das Verwaltungsgericht ist in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Senats (vgl. BayVGH, B.v. 7.3.2019 - 10 ZB 18.2272 - juris Rn. 7; B.v. 10.4.2019 - 19 ZB 17.1535 - juris Rn. 11 jew. m.w.N.) zu Recht davon ausgegangen, dass die Gefahren, die vom illegalen Handel mit Betäubungsmitteln ausgehen, schwerwiegend sind und ein Grundinteresse der Gesellschaft berühren.
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2.1.2. Der Senat hat aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens und den in der mündlichen Verhandlung getroffenen tatsächlichen Feststellungen die Überzeugung gewonnen (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO), dass diese Gefahr vom Kläger auch gegenwärtig noch ausgeht. Zwar ist bei dieser tatrichterlichen Prognose zugunsten des Klägers zu berücksichtigen, dass er die im Rahmen des Maßregelvollzugs gemäß § 64 StGB angeordnete Entzugstherapie (Alkohol und Drogen) inzwischen erfolgreich beendet hat, mit Beschluss des Landgerichts Kempten - Strafvollstreckungskammer - vom 18. Oktober 2019 die mit Urteil des Landgerichts München I vom 30. November 2017 angeordnete Maßregel der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt und die Restfreiheitsstrafe aus diesem Urteil zur Bewährung ausgesetzt worden sind und ausweislich der Stellungnahme der Bewährungshelferin vom 1. Juli 2020 die auf fünf Jahre festgesetzte Bewährungszeit und Führungsaufsicht „bis jetzt ohne nennenswerte Schwierigkeiten“ verlaufen ist. Zudem lebt der Kläger in einer offensichtlich stabilen Beziehung mit seiner Verlobten und der gemeinsamen, am 26. Januar 2019 geborenen Tochter L. A. Andererseits befindet sich der Kläger noch in einer recht frühen Phase seiner - nicht verkürzten - fünfjährigen Unterstellung unter die Führungsaufsicht mit entsprechenden, auf den Konsum von Alkohol und berauschenden Mitteln nach dem Betäubungsmittelgesetz bezogenen strafbewehrten Weisungen im Sinne des § 68b Abs. 1 StGB, so dass von einem dauerhaften Einstellungswandel und einer längerfristigen Bewährung in Freiheit auch ohne den Druck und die Unterstützung der Führungsaufsicht demgemäß aktuell noch nicht ausgegangen werden kann (stRspr, vgl. z.B. BayVGH, U.v. 23.7.2019 - 10 B 18.2464 - juris Rn. 27). Hinzu kommt, dass sich der Kläger nach den in der mündlichen Verhandlung getroffenen Feststellungen noch nicht von seinem alten Freundeskreis und dem Drogenmilieu gelöst hat und entgegen einer Weisung des Bewährungsbeschlusses vom 18. Oktober 2019 - wenn auch aufgrund ärztlicher Verordnung zur Schmerztherapie - regelmäßig wieder Cannabis konsumiert (s. Bl. 3 f. des Sitzungsprotokolls, Ergänzung der Behördenakte vom 3.7.2020 mit Aktenvermerk des Kriminalfachdezernats 8 München vom 3.7.2020). Eine nicht gelungene berufliche Integration und nicht unerhebliche Schulden des Klägers (s. Bl. 3 f. des Sitzungsprotokolls) erschweren eine erfolgreiche Bewährung zusätzlich. Schließlich ist gegen den Kläger noch ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts des Vorenthaltens und der Veruntreuung von Arbeitsentgelt bzw. Sozialversicherungsleistungen anhängig (s. Bl. 3 f. des Sitzungsprotokolls, Mitteilung des Hauptzollamtes München vom 5. Juni 2019 an die Staatsanwaltschaft München I in der Ergänzung der Behördenakte vom 3.7.2020). Der von der Strafvollstreckungskammer im Beschluss vom 18. Oktober 2019 geäußerten Ansicht, „dass gewagt werden kann, sowohl die angeordnete Maßregel als auch die Restfreiheitsstrafe zur Bewährung auszusetzen“, weil „zu erwarten (sei), dass der Verurteilte (Kläger) außerhalb des Maßregelvollzugs keine erheblichen rechtswidrigen Taten mehr begehen wird“ stehen nach alledem gewichtige, eine erfolgreiche weitere Bewährung infrage stellende Indizien bzw. Risikofaktoren gegenüber, die angesichts der schwerwiegenden Betäubungsmittelstraftaten in der Gesamtschau die Annahme einer konkreten Wiederholungsgefahr noch rechtfertigen.
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2.2. Demgegenüber steht jedoch ein ganz erhebliches Interesse des Klägers am weiteren Verbleib im Bundesgebiet, um hier sein Privat- und insbesondere sein Familienleben (Art. 6 Abs. 1 und 2 GG, Art. 8 EMRK) fortsetzen zu können.
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Das Verwaltungsgericht hat bei der Bewertung dieses Bleibeinteresses zu Recht berücksichtigt, dass es sich beim Kläger um einen sogenannten faktischen Inländer handelt und dass zwischen ihm und seinem am 21. Mai 2011 geborenen Sohn M. R., der deutscher Staatsangehöriger ist, eine unter den Schutz von Art. 6 Abs. 1 und 2 GG fallende, tatsächlich gelebte Vater-Sohn-Beziehung besteht. Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof glaubhaft geschildert, dass der regelmäßige Umgang lediglich während der Haftzeit, wo ihn sein Sohn nicht besucht hat, unterbrochen bzw. gelockert gewesen sei, er aber seit Ende der Entzugstherapie seinen Sohn (wieder) regelmäßig am Wochenende von Freitag bis Sonntag zu sich in die Wohnung hole und mit ihm ein sehr gutes Verhältnis habe (s. Bl. 3 des Sitzungsprotokolls).
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Die familiäre Beziehung des Klägers zu seiner am 26. Januar 2019 geborenen Tochter L. A., die ebenfalls die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt, hat das Verwaltungsgericht mangels einer zum damaligen Zeitpunkt nicht vorliegenden Vaterschaftsanerkennung des Klägers nicht in seine Gesamtwürdigung eingestellt. Die Urkunde über die Anerkennung dieser Vaterschaft hat der Kläger aber inzwischen vorgelegt und zu Recht auch auf diese familiäre Lebensgemeinschaft mit seiner Tochter (s. § 55 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG) verwiesen. Auch die in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof als Zeugin vernommene Verlobte des Klägers hat glaubhaft bestätigt, dass der Kläger mit ihr und der gemeinsamen Tochter in familiärer Gemeinschaft zusammenlebe, er sich sehr um seine Tochter kümmere und zwar bisher keinen Unterhalt gezahlt aber laufend für die Tochter notwendige Anschaffungen mit bezahlt habe. Die in Art. 6 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 GG enthaltene wertentscheidende Grundsatznorm verpflichtet nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG, B.v. 5.6.2013 - 2 BvR 586/13 - juris Rn. 12 m.w.N.), bei der Entscheidung über eine Ausweisung das Gewicht dieser Bindung im Rahmen der gebotenen Interessenabwägung angemessen zu berücksichtigen. Kann die Lebensgemeinschaft zwischen einem Ausländer und seinem Kind - wie hier - nur in der Bundesrepublik Deutschland stattfinden, so drängt die Pflicht des Staates, die Familie zu schützen, einwanderungspolitische Belange regelmäßig zurück. Bei aufenthaltsrechtlichen Entscheidungen, die den Umgang mit einem Kind berühren, ist maßgeblich auch auf die Sicht des Kindes abzustellen und im Einzelfall zu untersuchen, ob tatsächlich eine persönliche Verbundenheit besteht, auf deren Aufrechterhaltung das Kind zu seinem Wohl angewiesen ist. Dabei sind die Belange des Elternteils und des Kindes umfassend zu berücksichtigen. Dementsprechend ist im Einzelfall zu würdigen, in welcher Form die Elternverantwortung ausgeübt wird und welche Folgen eine endgültige oder vorübergehende Trennung für die gelebte Eltern-Kind-Beziehung und das Kindeswohl hätte. In diesem Zusammenhang ist davon auszugehen, dass der persönliche Kontakt des Kindes zu seinen Eltern und der damit verbundene Aufbau und die Kontinuität emotionaler Bindungen zu Vater und Mutter in der Regel der Persönlichkeitsentwicklung des Kindes dienen. Ein hohes, gegen die Aufenthaltsbeendigung sprechendes Gewicht haben die Folgen einer vorübergehenden Trennung insbesondere, wenn ein noch sehr kleines Kind betroffen ist, das den nur vorübergehenden Charakter einer räumlichen Trennung möglicherweise nicht begreifen kann und diese rasch als endgültigen Verlust erfährt (vgl. BVerfG, a.a.O. Rn. 13 f. m.w.N.). Nach den insbesondere in der mündlichen Verhandlung getroffenen Feststellungen ist der Senat zu der Überzeugung gelangt, dass der Vater-Tochter-Beziehung des Klägers ein solches hohes, gegen die Aufenthaltsbeendigung sprechendes Gewicht zukommt.
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Bedeutsam für die Bewertung des Bleibeinteresses des Klägers ist schließlich, dass seine Verlobte, die Zeugin M.A., erneut schwanger ist und nach ihren glaubhaften Angaben Mitte November dieses Jahres ein weiteres gemeinsames Kind („Wunschkind“) mit dem Kläger erwartet.
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2.3. Unter Berücksichtigung des hohen Gewichts der dargelegten Bleibeinteressen des Klägers ist seine Ausweisung für die Wahrung des hier betroffenen Grundinteresses der Gesellschaft nicht mehr im Sinne von § 53 Abs. 3 AufenthG unerlässlich.
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Das zwischen dem Ausländer und seinem minderjährigen deutschen Kind bestehende Familienleben bzw. das Kindeswohl hat zwar nicht generell und ausnahmslos Vorrang vor dem öffentlichen Vollzugsinteresse; deshalb ist auch eine Aufenthaltsbeendigung für einen Elternteil aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung - jedenfalls bei besonders schweren Straftaten und langfristig ungünstiger Prognose - nicht generell und unter allen Umständen ausgeschlossen (BVerwG, B.v. 10.2.2011 - 1 B 22.10 - juris Rn. 4; B.v. 21.7.2015 - 1 B 26.15 - juris Rn. 5; BayVGH, zuletzt B.v. 23.4.2020 - 10 ZB 20.621 - juris Rn. 17). Bei der gebotenen Gesamtbetrachtung und -würdigung aller Umstände des Einzelfalls (s. § 53 Abs. 2 AufenthG) überwiegt jedoch das vor allem im Kindeswohl seiner Tochter L. A. begründete Bleibeinteresse des Klägers das öffentliche Ausweisungsinteresse.
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Maßgeblich dafür ist zur Überzeugung des Senats zum einen, dass mit Blick auf die seit seiner Inhaftierung und dem angeordneten Maßregelvollzug eingetretenen positiven Entwicklungen beim Kläger trotz der vom Senat angenommenen Wiederholungsgefahr nicht mehr in gleicher Weise wie noch in erster Instanz von einer langfristig negativen Sozialprognose ausgegangen werden kann. Zu berücksichtigen ist auch, dass sich der Kläger aufgrund der Anlassstraftat erstmals in Strafhaft befunden hat und zuvor (nur) einmal wegen unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln zu einer Geldstrafe verurteilt worden ist; von einer langjährigen Delinquenz kann deshalb nicht die Rede sein. Die sehr enge Verbindung zu seiner Tochter und die bevorstehende Geburt eines weiteren gemeinsamen Kindes mit seiner Verlobten, für das der Kläger die Verantwortung mit übernehmen will, ist zusammen mit einem stabilen Lebensumfeld ebenfalls zur Vermeidung neuer Betäubungsmittelstraftaten geeignet.
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Zum anderen ist vor allem der Umstand entscheidend, dass die schützenswerten familiären Beziehungen des Klägers zu seinen Kindern, insbesondere der erst ca. eineinhalb Jahre alten Tochter L., im Falle der Aufenthaltsbeendigung und des Umzugs des Klägers in die Türkei dauerhaft beeinträchtigt würden. Ein Umzug ist den beiden Kindern, die die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen, nicht zumutbar und auch die durch die Beklagte zuletzt auf zwei Jahre verkürzte Sperrfrist zur Wahrung des Kindeswohls nicht ausreichend. Denn vor allem bei der noch sehr kleinen Tochter kann der Kläger nicht einfach auf die Möglichkeiten einer Fernkommunikation (z.B. Telefonate, Briefe oder soziale Medien) oder gelegentlicher Besuche (auch über Betretenserlaubnisse, s. § 11 Abs. 8 AufenthG) verwiesen werden.
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Nach alledem erweist sich die Ausweisungsverfügung der Beklagten (samt den weiteren Verfügungen des angefochtenen Bescheids) als rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
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Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit §§ 708 ff. ZPO.
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Die Revision war nicht zuzulassen, weil keine der Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO vorliegt.