Inhalt

VG München, Urteil v. 23.07.2020 – M 10 K 18.5590
Titel:

Ausweisung eines jugendlichen Intensivstraftäters trotz zuerkannter Flüchtlingseigenschaft

Normenketten:
AufenthG § 50 Abs. 1, § 53 Abs. 1, Abs. 3, Abs. 3a, § 54 Abs. 1 Nr. 1, Nr. 1a, § 60 Abs. 8 S. 3
EMRK Art. 8 Abs. 2
VwGO § 113 Abs. 1 S. 1
Leitsätze:
1. Bei spezialpräventiven Ausweisungsentscheidungen haben Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte eine eigenständige Prognose hinsichtlich der Wiederholungsgefahr zu treffen, ohne dass sie an die Feststellungen der Strafgerichte rechtlich gebunden sind. (Rn. 26) (redaktioneller Leitsatz)
2. Als Anhaltspunkt für das Vorliegen einer schweren Straftat kann auf die Vorschrift des § 60 Abs. 8 S. 3 AufenthG zurückgegriffen werden. (Rn. 30) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Ausweisung, Straffälligkeit, Rechtsstellung eines ausländischen Flüchtlings, Schwere Straftat, Bleibeinteresse, Flüchtlingseigenschaft, Intensivstraftäter, Irak, Ausweisungsinteresse, Wiederholungsgefahr, Einheitsjugendstrafe, Gefahr für die Allgemeinheit
Rechtsmittelinstanz:
VGH München, Beschluss vom 25.03.2021 – 10 ZB 20.2089
Fundstelle:
BeckRS 2020, 20222

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 110% des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrags leistet.

Tatbestand

1
Der Kläger wendet sich gegen seine Ausweisung aus der Bundesrepublik Deutschland durch Bescheid der Beklagten vom 15. Oktober 2018.
2
Der Kläger ist irakischer Staatsangehöriger und am … Januar 2000 in …, Irak, geboren. Nachdem sein Vater im Jahr 2002 aus dem Irak nach Deutschland flüchtete, reiste der Kläger am 10. Oktober 2004 zusammen mit seiner Mutter und seinen damals sechs Geschwistern zum Zwecke der Asylantragstellung in die Bundesrepublik Deutschland ein.
3
Mit Bescheid vom 10. Juli 2007 wurde dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Mit Bescheid vom 11. Juni 2019 widerrief das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) die zuerkannte Flüchtlingseigenschaft des Klägers, lehnte den subsidiären Schutz ab und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nicht vorliegen. Eine dagegen gerichtete Klage vom 9. Juli 2019 ist derzeit noch beim Verwaltungsgericht München anhängig (Az. M 4 K 19.32489).
4
Am 18. September 2007 wurde dem Kläger erstmals eine befristete Aufenthaltserlaubnis erteilt. Seit dem 19. November 2010 hat der Kläger eine Niederlassungserlaubnis. Der Kläger hat ein berufsvorbereitendes Jahr abgeschlossen und vor seiner Inhaftierung eine Ausbildung begonnen.
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Der Kläger, der bei der Münchener Polizei als sogenannter jugendlicher Intensivstraftäter geführt wird, ist strafrechtlich zuletzt wie folgt in Erscheinung getreten:
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Am 20. November 2017 verurteilte das Amtsgericht München den Kläger wegen Sachbeschädigung in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung unter Einbeziehung des Urteils des Amtsgerichts München vom 20. Juni 2017 rechtskräftig zu einer Einheitsjugendstrafe von zwei Jahren und neun Monaten. Hintergrund der Verurteilung war ein Vorfall am 20. Juli 2017 im Schulsportunterricht, bei dem der Kläger einem Mitschüler mehrfach mit den Fäusten ins Gesicht schlug und dessen T-Shirt zerriss, nachdem sich dieser weigerte, seine Fußballschuhe auszuziehen, um, wie alle anderen Mitspieler, barfuß zu spielen. Hierdurch erlitt der Mitschüler Kratzer an der Stirn, der Brust und am Hals, eine blutende Nase, eine aufgeplatzte Lippe und eine Kniegelenksdistorsion.
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Bereits zuvor kam es zu weiteren strafrechtlichen Verurteilungen, denen stets auch Körperverletzungsdelikte und andere Gewaltstraftaten zu Grunde lagen: Mit Urteil des Amtsgerichts München vom 18. Juni 2015 wurde der Kläger wegen Diebstahls in Tatmehrheit mit Raub in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung zu einem einwöchigen Dauerarrest verurteilt. Am 14. September 2015 verurteilte das Amtsgericht München den Kläger wegen gefährlicher Körperverletzung in Tateinheit mit versuchter Körperverletzung zu einem zweiwöchigen Jugendarrest. Am 15. März 2016 verurteilte das Amtsgericht München den Kläger wegen gefährlicher Körperverletzung zu einem einwöchigen Dauerarrest. Am 15. Juni 2016 verurteilte das Amtsgericht München den Kläger wegen vorsätzlicher Körperverletzung unter Einbeziehung der Entscheidung vom 18. Juni 2015 zu einer zwölfmonatigen Jugendstrafe. Die Vollstreckung wurde zur Bewährung ausgesetzt. Sodann wurde der Kläger am 20. Juni 2017 vom Amtsgericht München wegen gefährlicher Körperverletzung in Tatmehrheit mit vorsätzlicher Körperverletzung in Tateinheit mit Beleidigung unter Einbeziehung der Entscheidung vom 15. Juni 2016 zu einer Einheitsjugendstrafe von zwei Jahren, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde, verurteilt. Dem lagen zwei verschiedene Vorfälle zugrunde, bei denen der Kläger unter anderem mehrfach mit voller Wucht mit der Faust auf den Kopf eines seiner Opfer schlug und einem anderen, nachdem er Anlauf genommen hatte, mit ausgestrecktem Fuß gegen dessen Oberkörper sprang, wobei dieser dem Kläger gerade den Rücken zukehrte.
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Darüber hinaus gab es eine Vielzahl weiterer Ermittlungsverfahren gegen den Kläger, die jedoch aus unterschiedlichen Gründen nicht in einer Anklage mündeten.
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Bereits mit Schreiben vom 17. August 2017 wurde der Kläger über seine Eltern verwarnt und auf die ausländerrechtlichen Konsequenzen seiner Straffälligkeit hingewiesen. Bei seiner Vorsprache in der Ausländerbehörde am 8. September 2017 wurde er in einem persönlichen Gespräch nochmals auf die ausländerrechtlichen Folgen seines straffälligen Handelns hingewiesen.
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Am 1. Mai 2018 trat der Kläger seine Haftstrafe an. Derzeit verbüßt er die Strafe in der Justizvollzugsanstalt (JVA) … Das Haftende ist für den 30. Januar 2021 vorgesehen.
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Mit Schreiben vom 21. Juni 2018 hörte die Beklagte den Kläger zur beabsichtigten Ausweisung an.
12
Mit Bescheid der Beklagten vom 15. Oktober 2018, zugestellt am selben Tag, wurde der Kläger aus der Bundesrepublik Deutschland ausgewiesen (Nr. 1) und das Einreise- und Aufenthaltsverbot für den Fall, dass Straffreiheit nachgewiesen wird, auf fünf Jahre, andernfalls auf sieben Jahre ab Ausreise befristet (Nr. 2). Zudem wurde, für den Fall, dass die zuerkannte Flüchtlingseigenschaft widerrufen werden sollte, die Abschiebung in den Irak angedroht (Nr. 3).
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Begründet wurde der Bescheid insbesondere damit, dass im Falle des Klägers Gründe vorlägen, die gegenwärtig eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellten. Ein Ausländer, dessen Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die freiheitliche demokratische Grundordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland gefährde, werde ausgewiesen, wenn die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet ergebe, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiege. Der Kläger könne sich zudem auf den besonderen Schutz des § 53 Abs. 3 AufenthG berufen, da die ihm zuerkannte Flüchtlingseigenschaft bisher nicht rechtskräftig widerrufen worden sei. Die strafgerichtliche Verurteilung zu einer Jugendstrafe von 2 Jahren und 9 Monaten sei ein hinreichender Gradmesser für das im Rahmen des Verwaltungsrechts bestehende Bedürfnis vorbeugender Schutzmaßnahmen. Die Ausländerbehörde habe darüber hinaus eine eigenständige Prognose über die vorliegende Wiederholungsgefahr zu treffen. Ein besonders schwerwiegender, die Ausweisung rechtfertigender Grund liege regelmäßig dann vor, wenn die Anwesenheit des Betroffenen trotz des besonderen Status nicht länger hingenommen werden könne. Bei der Beurteilung der Frage, ob die Gefahr weiterer Straftaten bestehe, sei auch auf die Persönlichkeit des Klägers, wie sie in seinem Verhalten zum Ausdruck komme, abzustellen. Die Ausländerbehörde schließe sich den Ausführungen des Strafgerichts an. Wie sein bisheriges Verhalten zeige, sei der Kläger offenbar nicht gewillt oder in der Lage, in Deutschland ein Leben ohne Straftaten zu führen. Sein bisheriger Lebenslauf lasse deutlich erkennen, dass es sich bei den zuletzt abgeurteilten Straftaten nicht nur um eine bloße Jugendverfehlung handele, sondern sehr viel mehr um den Höhepunkt seiner strafrechtlichen Karriere. Die Vielzahl der begangenen Straftaten zeige, dass bei dem Kläger inzwischen eine ausgesprochen niedrige Hemmschwelle vorhanden sei. Bei ihm handele es sich um einen klassischen Gewaltstraftäter mit erhöhter Impulsivität und Aggressionspotenzial. Wie er schon mehrfach bewiesen habe, neige er zu massiven Überreaktionen und verliere schnell die Beherrschung. Dabei seien ihm die möglichen Konsequenzen offenbar absolut gleichgültig. Weder strafrechtliche Sanktionen noch Unterstützungsmaßnahmen hätten eine Verhaltensänderung beim Kläger herbeiführen können. Die Ausländerbehörde verkenne nicht, dass sich der Kläger erstmals in Haft befinde und sich augenscheinlich weitgehend gut führe. Dies führe jedoch nicht zum Wegfall der Wiederholungsgefahr, da ein beanstandungsfreies Verhalten im geschützten Rahmen der Haft nicht zwingend bedeute, dass der Kläger dieses auch in seinem alten Umfeld an den Tag legen werde. Schließlich sei er auch in der JVA schon in Konflikt mit anderen Häftlingen geraten. Die Aufnahme von Therapiegesprächen stelle sich nicht als außergewöhnlicher, gegen die Wiederholungsgefahr sprechender Umstand dar, sondern gehe typischerweise mit einer solchen Beurteilung einher. Vom Bestehen einer Wiederholungsgefahr werde zumindest so lange auszugehen sein, bis der Kläger die Therapie erfolgreich abgeschlossen habe. Die Behauptung des Klägerbevollmächtigten, die Straffälligkeit des Klägers sei auf dessen schlechten Umgang und seine Beeinflussbarkeit zurückzuführen, erscheine vor dem Hintergrund, dass der Kläger nicht nur gemeinsam mit Freunden, sondern wiederholt auch alleine in Alltagssituationen straffällig geworden sei, wenig überzeugend. Auch das Argument, er hätte sich in den Kreisen, in denen er verkehre, Respekt verschaffen müssen, schlage in Anbetracht jedenfalls mancher seiner Straftaten nicht durch. Sehr viel wahrscheinlicher erscheine, dass es sich bei der gezeigten Aggressivität und Impulsivität um einen Teil der Persönlichkeit des Klägers handele. Der Vorfall im Sportunterricht zeuge davon, dass der Kläger selbst in Anbetracht einer drohenden Inhaftierung nicht in der Lage sei, seine Emotionen in den einfachsten Konfliktsituationen zu kontrollieren. Er scheine zu handeln, bevor er über die Konsequenzen seines Handelns nachdenke. Hiervon zeuge auch der Umstand, dass der Kläger sich eigenen Angaben zufolge schon unmittelbar nach dem Angriff bei dem Geschädigten entschuldigt haben wollte. Darüber hinaus sei zu sehen, dass Gewaltaktionen im öffentlichen Raum aus einer größeren Gruppe heraus, wie sie auch vom Kläger begangen worden seien, das subjektive Sicherheitsgefühl der Bevölkerung schwer beeinträchtigten. Öffentliche Sicherheit sei ein menschliches Bedürfnis und für das Wohlbefinden der Bürgerinnen und Bürger von großer Bedeutung. Es liege in der Verantwortung der Sicherheitsbehörden, dafür Sorge zu tragen, dass derart schwere Störungen des Sicherheitsgefühls mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln des Sicherheitsrechts bekämpft werden. Mit seinem Verhalten habe der Kläger dieses Sicherheitsgefühl erheblich beeinträchtigt. Schließlich sei es bei der Verurteilung wegen Gewalttaten gerechtfertigt, an die Wahrscheinlichkeit weiterer Straftaten des Ausländers nur geringe Anforderungen zu stellen und in der Regel einen genügenden spezialpräventiven Anlass für die Ausweisung auch dann anzuerkennen, wenn lediglich die entfernte Möglichkeit weiterer Straftaten bestehe. Die Ausländerbehörde sehe deshalb die konkrete Gefahr der Begehung weiterer schwerwiegender Straftaten nach der Entlassung des Klägers. Zusammenfassend sei festzustellen, dass die vom Kläger verübten Straftaten im Bereich der Schwerkriminalität anzusiedeln seien und eine erhöhte Wiederholungsgefahr bestehe. Sein persönliches Verhalten stelle somit gegenwärtig eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung dar, die ein Grundinteresse der Gesellschaft gemäß § 53 Abs. 3 AufenthG berühre. Das Ausweisungsinteresse wiege beim Kläger besonders schwer, da er wegen Sachbeschädigung in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung zu einer Jugendstrafe in Höhe von 2 Jahren und 9 Monaten verurteilt sei. Auch § 54 Abs. 1 Nr. 1a AufenthG sei einschlägig, da es sich um eine Straftat gegen die körperliche Unversehrtheit handele, die mit Gewalt begangen worden sei. Sein Bleibeinteresse wiege ebenfalls besonders schwer, da er eine Niederlassungserlaubnis besitze und sich seit fünf Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten habe. Im Rahmen der an den Grundsätzen der Verhältnismäßigkeitsprüfung geleiteten Abwägung sei zu berücksichtigen, dass der Kläger aufgrund der derzeit noch bestehenden Flüchtlingseigenschaft nicht abgeschoben werden könne. Gleichwohl verliere aber das hier auch aus spezialpräventiven Erwägungen begründete Ausweisungsinteresse dadurch alleine nicht seine Bedeutung. Vielmehr sei in der Rechtsprechung anerkannt, dass ein Abschiebungshindernis eine Ausweisung nicht grundsätzlich ausschließe. Denn eine Ausweisung könne ihren ordnungsrechtlichen Zweck auch dann erreichen, wenn sie zwar nicht zu einer Abschiebung des Ausländers in sein Heimatland, aber zu einer Verschlechterung seiner aufenthaltsrechtlichen Position im Bundesgebiet führe. Das Bestehen eines Abschiebungsverbotes sei im Rahmen der Gesamtabwägung zu berücksichtigen. Das Ausweisungsinteresse falle beim Kläger nicht weg, da die Ausweisung auch weiterhin geeignet und erforderlich sei, um die vom Kläger ausgehende Gefahr wirksam einzudämmen. Auch das Bleibeinteresse des Klägers sei zu berücksichtigen. Dem Kläger werde der Status des faktischen Inländers zuerkannt, da er bereits im Alter von vier Jahren in das Bundesgebiet eingereist sei und somit den Großteil seines Lebens im Bundesgebiet verbracht habe. Aktive Integrationsleistungen habe er aber kaum erbracht. Zwar habe er ein berufsvorbereitendes Jahr (BVJ) erfolgreich abgeschlossen. Seine Ausbildung habe er aber aufgrund der Inhaftierung nicht abschließen können. Seine beruflichen Möglichkeiten seien aus Sicht der Ausländerbehörde im Land seiner Staatsangehörigkeit nicht schlechter einzuschätzen als in Deutschland. Ob das Schreiben der Smartphone Klinik im Zeitpunkt seiner Haftentlassung noch Bestand haben werde, sei fraglich. Im Übrigen sei der Kläger ein arbeitsfähiger, junger Mann, sodass nicht ersichtlich sei, wieso er seinen Lebensunterhalt nicht zumindest mit einfacher Arbeit selbst bestreiten können sollte. Auch insgesamt habe keine nachhaltige Integration stattgefunden. Dies zeige sich insbesondere an den Straftaten und der daraus resultierenden Inhaftierung des Klägers. Integration sei nämlich nicht nur an quantitativen, sondern auch an qualitativen Faktoren festzumachen. Schließlich scheine beim Kläger auch keine große Identifikation mit Deutschland vorhanden zu sein, da er den Geschädigten H. am 26. August 2016 mit den Worten „Verpiss dich, du deutscher Hurensohn!“ beleidigt habe. Anders als vorgetragen, sei davon auszugehen, dass die Sprachkenntnisse des Klägers ohne weiteres für eine Rückkehr ausreichen würden. Denn dem Strafurteil vom 15. März 2016 sei zu entnehmen, dass die Eltern des Klägers der deutschen Sprache nicht mächtig seien. Selbst unter Würdigung des 18-jährigen Aufenthalts im Bundesgebiet sowie der hier bestehenden familiären und sozialen Bindungen träfen die Folgen der Ausweisung den Kläger zwar schwer, aber nicht unverhältnismäßig. Dem Kläger sei, aufgrund der von ihm wiederholt begangenen schwerwiegenden Straftaten und der zuletzt daraus resultierenden Verurteilung, zuzumuten, sich zeitweise in seiner Heimat zurechtzufinden. Darüber hinaus sei davon auszugehen, dass seine Eltern noch über Kontakte im Irak verfügten und gegebenenfalls dabei behilflich sein könnten, die Modalitäten für eine Rückkehr zu klären. Der Kläger habe bei Haftentlassung zudem im Bundesgebiet keinen positiven Empfangsraum, da er in das Umfeld zurückkehre, in dem er seit Jahren Straftaten begehe. Seine familiären und sozialen Bindungen und der Rückhalt in der Familie seien offensichtlich nicht von großer Tragfähigkeit. Bei einem Verbleib in Deutschland sei zu befürchten, dass der Kläger sein Leben alsbald nach Haftentlassung so fortsetzen werde, wie er es vor der Inhaftierung getan habe. Auch strafrechtliche Sanktionen ließen den Kläger völlig unbeeindruckt. In Anbetracht des Umstandes, dass der Kläger trotz der Vorverurteilungen und der offenen Bewährung nicht davor zurückgeschreckt habe, wieder Straftaten zu begehen, entspreche die Verhinderung weiterer Straftaten, vor allem von Gewaltdelikten, einem besonders dringenden sozialen Bedürfnis. Leben und Gesundheit seien die höchsten Güter der Rechtsordnung. Die Ausweisung widerspreche somit nicht dem in Art. 8 Abs. 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verankerten Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Etwaige Bedrohungen im Irak seien vom Bundesamt zu prüfen. Zusammenfassend sei zu sehen, dass aufgrund der drohenden Wiederholungsgefahr im Fall des Klägers die privaten Belange zurückstehen müssten.
14
Der Kläger hat mit Schreiben seines Prozessbevollmächtigte vom 14. November 2018, eingegangen bei dem Verwaltungsgericht München am selben Tag, Klage gegen diesen Bescheid erhoben und beantragt zuletzt,
den Bescheid der Beklagten vom 15. Oktober 2018 aufzuheben.
15
Der Bescheid der Beklagten sei rechtswidrig und verletze den Kläger in seinen subjektiv öffentlichen Rechten, da das private Interesse des Klägers an einem weiteren Verbleib im Bundesgebiet das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiege. Der Kläger habe einen sehr starken und engen Kontakt zu seinen Eltern. Der Kläger habe niemals die arabische Sprache erlernt. Zu seinem Heimatland habe er weder in gesellschaftlicher, persönlicher noch kultureller Hinsicht irgendwelche Bindungen. Während seiner Kindheit habe er ausschließlich die deutsche Sprache gesprochen. Die gesamte Familie halte sich im Bundesgebiet auf. Die Ermessensausübung sei aus folgenden Gründen fehlerhaft: Die von der Beklagten behauptete Gefährlichkeitsprognose sei nicht zutreffend. Dass der Kläger in der Vergangenheit strafrechtlich in Erscheinung getreten sei, führe an sich alleine nicht dazu, im Rahmen der vorzunehmenden notwendigen Abwägung das Ausweisungsinteresse der Beklagten höher zu bewerten als das Bleibeinteresse des Klägers. Aus dem angefochtenen Bescheid gehe nicht hervor, dass zweifellos eine konkrete Gefahr weiterer schwerer Straftaten durch den Kläger zu befürchten sei. Das Gegenteil sei vielmehr der Fall. Der Kläger wisse, dass er in der Vergangenheit einen schweren Fehler begangen habe. Er habe sein Verhalten schwer bereut und im Rahmen des Strafvollzugs anerkannt, dass er sich falsch verhalten habe. Auch im Strafvollzug habe sich der Kläger beanstandungsfrei geführt. Wie sich aus den jeweiligen Urteilsbegründungen ergebe, habe der Kläger die Taten nur aufgrund seiner impulsiven Verhaltensweisen begangen und in den falschen Kreisen mit den falschen Leuten verkehrt. Aus anderen Gründen bestehe ein Hang zur Begehung von Straftaten nicht. Der Kläger habe sich bereits vor dem Tod seines ältesten Bruders, mit dem er zusammen Straftaten verübte, distanziert. Die letzte Straftat in diesem Kontext habe im August 2016 stattgefunden. Seither habe der Kläger keinen Kontakt mehr zu seinem ehemaligen Umfeld. Dem Kläger komme der Status eines faktischen Inländers zugute. Eine soziale Integration habe stattgefunden. Er habe in Deutschland einen Schulabschluss gemacht. Unter Berücksichtigung der rechtlichen Vorgaben und der persönlichen Umstände des Klägers sei festzustellen, dass eine Ausweisung durch die Beklagte unverhältnismäßig sei. Das Gewicht der Straftat und die vom Kläger ausgehende Wiederholungsgefahr würden bei Betrachtung der Gesamtumstände der Tatbegehung und der günstigen Ansätze für einen Einstellungswandel relativiert. Bezüglich der Aggressionsproblematik sei festzuhalten, dass der Kläger therapiebereit sei und somit ein Einstellungswandel eingetreten sei. Der Kläger habe den dringenden Wunsch, sein Leben nach der Haftentlassung wieder in den Griff zu bekommen und gewaltfrei zu leben. Eine Ausreise in den Irak würde einer Existenzvernichtung des Klägers gleichkommen.
16
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
17
Eine Begründung erfolgte nicht.
18
Ausweislich diverser Führungsberichte der für den Kläger zuständigen Justizvollzugsanstalten, zuletzt demjenigen der JVA … vom 15. Juli 2020, sei es während der Inhaftierung des Klägers zu diversen Disziplinarverfahren gekommen. Demnach habe der Kläger sich mehrfach mit Mitgefangenen tätlich auseinandergesetzt und mit diesen gerangelt, wobei auch Haftrauminventar beschädigt worden sei, Mitgefangene beleidigt, einem Mitgefangenen mit Schlägen und sexueller Demütigung gedroht und Anweisungen nicht befolgt worden seien. Wegen der Verfehlungen habe der Kläger in die JVA … verlegt werden müssen. Vollzugslockerungen seien ihm noch nicht gewährt worden. Eine begonnene Sozialtherapie für Gewaltstraftäter habe aufgrund des Fehlverhaltens des Klägers gegenüber einem weiteren Therapieteilnehmer und seines dominanten Verhaltens abgebrochen werden müssen. Ein Entlassungsprognosegutachten habe festgestellt, dass sich die Gefährlichkeit des Klägers zwar reduziert habe, jedoch immer noch eine erhöhte Rückfallgefährdung im deliktspezifischen Bereich vorliege. Seit Dezember 2019 habe der Kläger keinen Besuch mehr erhalten. Seit 13. März 2020 führe der Kläger psychotherapeutische Gespräche bei einer externen Psychotherapeutin.
19
In der mündlichen Verhandlung hat der Kläger unter anderem zwei Schreiben von Mitgefangenen vorgelegt, wonach es sich bei der Rangelei vom 21. April 2020 nur um einen Spaß unter Kumpels gehandelt habe. Der Kläger gab zudem an, er könne kein Arabisch sprechen. Er spreche aber Badini, eine kurdische Sprache. Zudem arbeite er seit einem Jahr beanstandungsfrei in der Wäscherei der JVA.
20
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtssowie die vorgelegte Behördenakte, insbesondere auf die Niederschrift der mündlichen Verhandlung vom 23. Juli 2020, verwiesen.

Entscheidungsgründe

A.
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Die zulässige Klage ist unbegründet.
22
Der Bescheid vom 15. Oktober 2018 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
23
I. Die Ausweisung (Nr. 1 des Bescheids) ist rechtmäßig.
24
Der Kläger darf ausgewiesen werden, da sein Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährdet (1.) und die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Klägers im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt (2.).
25
1. Der Kläger stellt eine Gefahr für die Allgemeinheit dar, weil er wegen einer schweren Straftat rechtskräftig verurteilt wurde.
26
Bei spezialpräventiven Ausweisungsentscheidungen haben Ausländerbehörden und Verwaltungsgericht eine eigenständige Prognose hinsichtlich der Wiederholungsgefahr zu treffen, ohne dass sie an die Feststellungen der Strafgerichte rechtlich gebunden sind (BayVGH, U.v. 30.10.2012 - 10 B 11.2744 - BeckRS 2012, 59963). Da der Antragsteller als Flüchtling anerkannt und der Widerruf der Anerkennung noch nicht bestandskräftig geworden ist, darf die Ausweisung nur erfolgen, wenn er eine Gefahr für die Allgemeinheit darstellt, weil er wegen einer schweren Straftat rechtskräftig verurteilt wurde, § 53 Abs. 3a Fall 2 AufenthG. Die Ausweisung nach § 53 Abs. 3a AufenthG darf entsprechend den völker- und unionsrechtlichen Vorgaben nur aus individualpräventiven Gründen erfolgen (Tanneberger/Fleuß in BeckOK Ausländerrecht, 25. Edition, § 53 Rn. 121g).
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Bei einer Ausweisung zu spezialpräventiven Zwecken ist zum einen ein Ausweisungsanlass von besonderem Gewicht erforderlich, was sich bei Straftaten insbesondere aus ihrer Art, Schwere und Häufigkeit ergibt (- a) -, BVerwG, U.v. 26.2.2002 - 1 C 21/00 - NVwZ 2002, 1512). Zum anderen müssen Anhaltspunkte dafür bestehen, dass in Zukunft eine Gefahr für die Allgemeinheit durch neue Straftaten des Ausländers ernsthaft droht und damit von ihm eine bedeutsame Gefahr für ein wichtiges Schutzgut ausgeht. Bei der Prognose, ob eine Wiederholung vergleichbarer Straftaten mit hinreichender Wahrscheinlichkeit droht, sind die besonderen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Tat, die Umstände ihrer Begehung, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts sowie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt (BayVGH, U.v. 28.06.2016 - 10 B 15.1854 - BeckRS 2016, 50099). Für die Feststellung der entscheidungserheblichen Wiederholungsgefahr gilt ein differenzierender Wahrscheinlichkeitsmaßstab, wonach an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts umso geringere Anforderungen zu stellen sind, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist (- b) -, BVerwG, U. v. 4.10.2012 - 1 C 13.11 - juris Rn. 18).
28
Unter Berücksichtigung dieser Umstände geht das erkennende Gericht davon aus, dass der Kläger trotz des besonderen Flüchtlingsschutzes ausgewiesen werden darf.
29
a) Der Kläger wurde mit Urteil des Amtsgerichts München vom 20. November 2017 rechtskräftig wegen einer schweren Straftat verurteilt.
30
Zwar ergibt sich unmittelbar aus dem Wortlaut des Gesetzes nicht, wann eine schwere Straftat vorliegt, unter Berücksichtigung aller Umstände ist die Tat des Klägers vom 20. Juli 2017 allerdings als schwere Straftat anzusehen. Als Anhaltspunkt für das Vorliegen einer schweren Straftat kann insofern auf die Vorschrift des § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG zurückgegriffen werden (Bauer in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Auflage 2020, § 53 AufenthG Rn. 98). Demnach darf ein Ausländer auch dann in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist, wenn der Ausländer eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung, das Eigentum oder wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist, sofern die Straftat mit Gewalt, unter Anwendung von Drohung mit Gefahr für Leib oder Leben oder mit List begangen worden ist oder eine Straftat nach § 177 des Strafgesetzbuches ist. Ausweislich der Gesetzesbegründung soll dieser Ausschlusstatbestand nur dann gelten, wenn der Ausländer gerade aufgrund seines persönlichen Verhaltens eine Gefahr für die Allgemeinheit darstellt (Zimmerer in BeckOK Migrations- und Integrationsrecht, 4. Edition, § 60 AufenthG Rn. 45). Dem liegt der Gedanke zu Grunde, dass ein Ausländer, der eine solche Straftat begeht, die aus dem Flüchtlingsstatus erwachsenden Vorteile nicht mehr in Anspruch nehmen können soll und trotz der ihm drohenden Gefahren in sein Heimatland abgeschoben werden darf. Dieser Gedanke lässt sich auf die vorliegende Situation übertragen. Infolge einer Ausweisung erlischt der Aufenthaltstitel eines Ausländers, sodass dieser gemäß § 50 Abs. 1 AufenthG zur Ausreise verpflichtet ist. Infolge des persönlichen Verhaltens des Ausländers, das von der Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland missbilligt wird, soll sich der Ausländer nicht mehr auf seine aus dem Aufenthaltstitel abgeleiteten Rechte berufen können, da er nicht mehr im selben Maße schutzwürdig ist. Demgegenüber treten die Gefahren, die den Ausländer bei einer Rückkehr in sein Heimatland erwarten, zurück.
31
Da § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG eine Ermessensvorschrift darstellt, muss geprüft werden, ob die Straftat des Ausländers auch im konkreten Einzelfall objektiv und subjektiv als besonders schwerwiegend zu betrachten ist. Dies ist vorliegend der Fall. Der Kläger ist zu einer Einheitsjugendstrafe von 2 Jahren und 9 Monaten verurteilt worden. Dem lag eine Gewalttat mit erheblichem, abstrakten Gefährdungspotential zugrunde. Der Kläger hat mehrfach mit den Fäusten in das Gesicht seines Opfers geschlagen und es kam lediglich deswegen nicht zu schwereren Folgen, weil sich der Geschädigte mit seinen Armen vor Treffern in das Gesicht schützen konnte. Hinzukommt, dass die Tat aus einem geringfügigen Anlass heraus erfolgte und völlig außer Verhältnis zu dem mit ihr bezweckten Erfolg stand. Der Kläger hat die Tat zudem in offener Bewährung begangen, was von einer erheblichen kriminellen Energie zeugt. Auch die weiteren Straftaten, deren Verurteilungen ebenfalls in das letzte Strafurteil einflossen, zeugen vom erheblichen Gewaltpotential des Klägers. Bei den einbezogenen Verurteilungen handelte es sich ebenfalls durchgängig um Gewalttaten mit erheblichem Gefährdungspotential für die körperliche Unversehrtheit der Geschädigten, die teils erhebliche Verletzungen nach sich zogen.
32
b) Aufgrund der Verurteilung wegen der schweren Straftat stellt der Kläger auch eine Gefahr für die Allgemeinheit dar.
33
Zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung besteht unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände eine hinreichende Wahrscheinlichkeit dafür, dass vom Kläger weiterhin eine Gefahr für die Allgemeinheit ausgeht. Diese Gefahr beruht auch gerade auf der strafgerichtlichen Verurteilung, sodass der erforderliche Kausalzusammenhang gegeben ist.
34
Der Kläger hat eine Vielzahl von Straftaten begangen, die größtenteils auf die körperliche Unversehrtheit abzielten. Dabei handelt es sich um ein besonders schützenswertes Rechtsgut, weshalb die Anforderungen an die konkrete Rückfallgefahr nicht zu hoch angesetzt werden dürfen. Aus dem bisherigen Verhalten des Klägers lässt sich eine hohe Rückfallgefahr ableiten. Dies zeigt sich schon daran, dass der Kläger die beiden zuletzt abgeurteilten Straftaten jeweils unter offener Bewährung verübte. Von der Polizei wurde der Kläger als jugendlicher Intensivstraftäter geführt, da er sich innerhalb kürzester Zeit mehrfach strafbar gemacht hat. Die bisherigen strafgerichtlichen Maßnahmen ließen den Kläger völlig unbeeindruckt. Selbst während seiner Inhaftierung zeigte der Kläger keinerlei Einsicht oder Reue. Er fiel in der Haft vielmehr durch eine weitere Vielzahl an Disziplinarverfahren auf, denen teils nicht unerhebliche Vorfälle zugrunde lagen. Er zeigte sich auch in der Haft weiterhin dominant und tonangebend. Tatsächliche Anhaltspunkte dafür, dass die Haft auf den Kläger Eindruck machen würde und ihn dazu bewegen könnte, sein Leben zu ändern, sind nicht erkennbar. Auch deshalb konnten dem Kläger bisher keinerlei Vollzugslockerungen gewährt werden, obwohl er den Großteil seiner Haft bereits hinter sich hat und das Haftende in kürze erreicht ist. Der Kläger hat sich zudem bisher nicht genügend mit seiner Gewalt- und Aggressionsproblematik auseinandergesetzt. Obwohl ihm die Möglichkeit einer Therapie eingeräumt wurde, versäumte der Kläger diese Chance und trug durch sein Verhalten dazu bei, dass die Therapie vorzeitig abgebrochen werden musste. Auch die am 13. März 2020 begonnenen psychotherapeutischen Gespräche vermögen es nicht, diese Beurteilung zu ändern. Aufgrund des erheblichen Aggressionspotentials des Klägers genügt eine derart niederschwellige Behandlungsmaßnahme nicht den Anforderungen an eine erfolgreiche Therapie, zumal diese derzeit jedenfalls noch nicht erfolgreich abgeschlossen wurde. Hinzu kommt, dass sich der Kläger bisher nicht in Freiheit bewähren konnte. Die Beklagte hat ebenfalls zu Recht darauf hingewiesen, dass der Kläger in Deutschland keinen positiven Empfangsraum hat, sondern vielmehr in dasselbe Lebensumfeld zurückkehren würde, in dem er straffällig wurde.
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Der Kläger stellt auch gerade deshalb eine Gefahr für die Allgemeinheit dar, da sich die bisherigen Straftaten zumeist gegen zufällig ausgewählte Opfer richteten, die lediglich zur falschen Zeit am falschen Ort waren. Es ist davon auszugehen, dass der Kläger auch in Zukunft ihm völlig unbekannte Personen in ihrer körperlichen Unversehrtheit verletzen könnte, zumal eine Vielzahl der vom Kläger begangenen Straftaten in der Öffentlichkeit begangen wurde. Den Kläger scheint es insbesondere nicht abzuschrecken, dass seine Gewalttaten von Zeugen beobachtet werden könnten und er entsprechend leicht als Täter ermittelt werden kann. Auch dies zeugt von seiner Gleichgültigkeit gegenüber der Werteordnung und spricht dafür, dass er auch in Zukunft schwere Straftaten begehen könnte.
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2. Die Beklagte hat das Ausweisungsinteresse mit dem Bleibeinteresse des Klägers rechtmäßig abgewogen. Im Falle des Klägers überwiegt das öffentliche Interesse an der Ausreise gegenüber dem Interesse des Klägers an seinem weiteren Verbleib im Bundesgebiet, § 53 Abs. 1 AufenthG.
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Dabei sind insbesondere, aber nicht ausschließlich die in den §§ 54 f. AufenthG aufgezählten Ausweisungs- bzw. Bleibeinteressen in die Abwägung einzubeziehen. Daneben können weitere Umstände im Einzelfall eine andere Bewertung rechtfertigen (vgl. BT-Drs. 18/4097, S. 49), insbesondere die vom Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) genannten Kriterien sind zu berücksichtigen. Hiernach sind vor allem die Art und die Schwere der vom Ausländer begangenen Straftaten, die Dauer des Aufenthaltes in dem Land, aus dem er ausgewiesen werden soll, die seit der Begehung der Straftat verstrichene Zeit und das seitherige Verhalten des Ausländers, die Staatsangehörigkeit der betroffenen Personen, die familiäre Situation des Ausländers, ob zu der Familie Kinder gehören und welches Alter diese haben, sowie das Maß der Schwierigkeiten, denen die Familienangehörigen voraussichtlich in dem Staat ausgesetzt wären, in den der Ausländer ausgewiesen werden soll, die Belange und das Wohl der Kinder und die Stabilität der sozialen, kulturellen und familiären Bindungen zum Gastland und zum Zielland zu berücksichtigen (EGMR, U.v. 18.10.2006 - 46410/99 - juris).
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a) Im Falle des Klägers wiegt das Ausweisungsinteresse besonders schwer, da er zum einen wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu einer Jugendstrafe von mindestens zwei Jahren verurteilt worden ist, § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG, und er zum anderen, durch dieselbe Verurteilung, zu einer Jugendstrafe von mindestens einem Jahr wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten gegen die körperliche Unversehrtheit verurteilt worden ist, § 54 Abs. 1 Nr. 1a AufenthG.
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Der Kläger wurde am 20. November 2017 unter Einbeziehung des Urteils vom 20. Juni 2017 rechtskräftig zu einer Einheitsjugendstrafe von zwei Jahren und neun Monaten verurteilt. Sowohl der Verurteilung vom 20. November 2017 als auch der Verurteilung vom 20. Juni 2017, und selbst dem Urteil vom 15. Juni 2016, das seinerseits in das Urteil vom 20. Juni 2017 einbezogen war, lagen zumindest vorsätzliche Körperverletzungen, in einem Falle sogar eine gefährliche Körperverletzung, zugrunde.
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b) Demgegenüber wiegt auch das persönliche Bleibeinteresse des Klägers besonders schwer, da er eine Niederlassungserlaubnis besitzt und sich schon seit mindestens fünf Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat, § 55 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG.
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Der Kläger hält sich seit 2004 im Bundesgebiet auf und hat sein Herkunftsland bereits im Alter von vier Jahren zusammen mit seiner Familie verlassen. Auch die Eltern und Geschwister des Klägers leben seitdem in der Bundesrepublik.
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c) Unter Berücksichtigung der weiteren relevanten Umstände fällt die Abwägung im Rahmen einer Gesamtwürdigung letztlich zulasten des Klägers aus.
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Dabei wird dem Kläger zugute gehalten, dass er den weit überwiegenden Teil seines Lebens in der Bundesrepublik gelebt hat und damit faktisch ein Inländer ist. Zu seinem Heimatland hat der Kläger keine relevanten Bindungen mehr. Allerdings greift der Einwand, dass er kein Arabisch spreche, nicht durch. Neben Arabisch ist auch Kurdisch Amtssprache im Irak. Nach eigener Aussage in der mündlichen Verhandlung spricht der Kläger einen kurdischen Dialekt. Zudem geht das Gericht davon aus, dass sich der Kläger jedenfalls im Nordirak, wo noch heute viele Kurden leben, zurechtfinden würde, auch wenn er gegebenenfalls zu Beginn Schwierigkeiten haben dürfte. Der Kläger ist selbst im Nordirak geboren und hat dort vor seiner Flucht nach Deutschland mit seiner Familie gelebt. Es kann davon ausgegangen werden, dass jedenfalls die Eltern des Klägers noch Angehörige oder Bekannte in dieser Region haben und dem Kläger bei einer möglichen Rückkehr in den Irak Kontakte vermitteln können. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass der Kläger keine eigene Kernfamilie hat und nunmehr volljährig ist, sodass er nicht mehr auf die Unterstützung seiner Eltern angewiesen ist. Das Gericht geht auch davon aus, dass der Kläger, der jung, gesund und arbeitsfähig ist, in seinem Heimatland wird arbeiten und so sein Existenzminium sicherstellen können. Als yezidischer Glaubensangehöriger wird er auch in der dortigen Glaubensgemeinschaft Zuflucht finden können. Zudem besteht für den Kläger die Möglichkeit, weiterhin telefonisch oder postalisch den Kontakt mit seiner Familie zu halten.
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Das klägerische Bleibeinteresse wird weiterhin dadurch abgeschwächt, dass eine gelungene Integration des Klägers in die Werteordnung der Bundesrepublik Deutschland bisher nicht stattfand. Nicht nur, dass der Kläger wiederholt straffällig wurde und damit letztlich zum Ausdruck brachte, dass er sich an die hiesige Vorstellung von Recht und Ordnung nicht zu halten vermag oder die Werteordnung gar ablehnt, auch sonst hat der Kläger bewiesen, dass er nicht vorhat, sich in Zukunft rechtstreu zu verhalten. Bereits die offene Bewährung konnte den Kläger nicht davon abhalten, weitere Straftaten zu begehen. Auch die derzeitige Inhaftierung scheint auf den Kläger keinerlei Eindruck zu machen. In der Haft ist der Kläger vielmehr durch eine Vielzahl an Disziplinarverstößen aufgefallen. Wiederholt hat er sich aggressiv und uneinsichtig verhalten. Auch diverse Ahndungen in der JVA ließen ihn völlig unbeeindruckt. Es drängt sich vielmehr der Eindruck auf, dass der Kläger Konflikten mit anderen Mitgefangenen jedenfalls nicht aus dem Weg geht, wenn er sie nicht sogar provoziert. Die hohe Rückfallgeschwindigkeit der vom Kläger begangenen Verfehlungen, ist ebenfalls zu berücksichtigen. Auch wirtschaftlich hat es der Kläger nicht vermocht, sich in der Bundesrepublik zu integrieren. Infolge der Inhaftierung musste er eine begonnene Ausbildung vorzeitig abbrechen.
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Das Vorbringen des Klägers, dass ihm im Irak aufgrund seines yezidischen Glaubens Verfolgung drohe, spielt für die Frage der Rechtmäßigkeit der Ausweisung keine Rolle. Selbst wenn der Kläger ein (zielstaatsbezogenes) Abschiebungsverbot gelten machen könnte, verlöre die Ausweisung dadurch nicht ihre ordnungsrechtliche Funktion, da sie jedenfalls den Aufenthaltstitel des Klägers zum Erlöschen bringt und ihn dadurch in seiner Reise- und Bewegungsfreiheit einschränkt (Vgl. BayVGH, U.v. 28.6.2016 - 10 B 15.1854 - juris).
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II. Auch die weiteren Anordnungen der Beklagten in den Nummern 2 und 3 des angefochtenen Bescheids sind rechtmäßig.
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Die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 2 AufenthG in Nr. 2 des Bescheids auf fünf Jahre unter der Bedingung der nachgewiesenen Straffreiheit, ansonsten sieben Jahre ist verhältnismäßig. Die Frist berücksichtigt die Anforderungen des § 11 Abs. 5 AufenthG, da sie zehn Jahre nicht übersteigt. Angesichts der wiederholten Straffälligkeit des Klägers ist sie auch angemessen.
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Auch die Androhung der Abschiebung des Klägers aus der Haft heraus ist rechtlich nicht zu beanstanden. Sie findet ihre Rechtsgrundlage in § 59 Abs. 5 Satz 1 AufenthG i.V.m. § 58 Abs. 3 Nr. 1 AufenthG. Die Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung für den Fall, dass die Abschiebung während der Haft nicht durchgeführt werden kann, sind ebenfalls rechtmäßig im Sinne des § 59 AufenthG. Der Kläger ist gemäß § 50 Abs. 1 AufenthG ausreisepflichtig; durch die Ausweisung ist sein Aufenthaltstitel erloschen (§ 51 Abs. 1 Nr. 5 i.V.m. § 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG).
B.
49
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
C.
50
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.