Inhalt

VG München, Gerichtsbescheid v. 21.07.2020 – M 10 K 19.3268
Titel:

Ermessensfehlerhafte Beseitigungsanordnung von Mängeln an der Grundstücksentwässerungsanlage

Normenketten:
EWS § 12 Abs. 4, § 22 Abs. 1
BayVwVfG Art. 40
VwGO § 114
Leitsätze:
1. Sieht eine Entwässerungssatzung vor, dass die Gemeinde zur Erfüllung der nach der Entwässerungssatzung bestehenden Verpflichtungen Anordnungen für den Einzelfall erlassen kann, handelt es sich um eine Ermessensvorschrift und nicht lediglich ein Kompetenz-Kann. (Rn. 21) (redaktioneller Leitsatz)
2. Werden zwei Anordnungen zur Mängelbeseitigung einer Grundstücksentwässerungsanlage getroffen, muss aus einer darauf bezogenen Zwangsgeldandrohung deutlich werden, ob das Zwangsgeld anfällt, wenn beide Verpflichtungen nicht erfüllt werden, oder ob ein Zwangsgeld auch fällig wird, wenn nur einer der Verpflichtungen nicht nachgekommen wird. (Rn. 34) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Verpflichtung zur Beseitigung von Mängeln an der Grundstücksentwässerungsanlage, Ermessensausfall, Unbestimmtheit der Zwangsgeldandrohung, Aufhebung, Bestimmtheit, Ermessen, Beseitigungsanordnung, Grundstücksentwässerungsanlage, Zwangsgeldandrohung
Fundstelle:
BeckRS 2020, 19486

Tenor

I. Der Bescheid des Beklagten vom 18. Juni 2019 wird aufgehoben.
II. Der Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Der Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 110% des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Klägerin vorher Sicherheit in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrags leistet.

Tatbestand

1
Die Klägerin wendet sich gegen den Bescheid des Beklagten, mit dem sie unter Zwangsgeldandrohung verpflichtet wird, Mängel an ihrer Grundstücksentwässerungsanlage zu beseitigen.
2
Der Beklagte, ein Abwasserverband, betreibt eine öffentliche Einrichtung zur Abwasserbeseitigung, § 1 Abs. 1 Satzung für die öffentliche Entwässerungseinrichtung des Beklagten vom 16. Dezember 2013 in der Fassung der Änderungssatzung vom 21. April 2016 (Entwässerungssatzung - EWS). Wenn bei der Überwachung oder Untersuchung der Grundstücksentwässerungsanlagen Mängel festgestellt werden, die den ordnungsgemäßen Betrieb der von den Grundstückseigentümern zu unterhaltenden Anlagenteile beeinträchtigen, sind die Grundstückseigentümer gemäß § 12 Abs. 4 EWS verpflichtet, festgestellte Mängel zu beseitigen. Nach § 11 Abs. 2 Satz 4 EWS haben die Grundstückseigentümer festgestellte Mängel binnen angemessener Frist beseitigen zu lassen. Nach § 22 Abs. 1 EWS kann der Beklagte zur Erfüllung der nach der Entwässerungssatzung bestehenden Verpflichtungen Anordnungen für den Einzelfall erlassen.
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Die Klägerin ist Eigentümerin des Grundstücks …-Str. 8 in … (Fl.Nr. …, Gemarkung …*). Sie errichtet auf diesem Grundstück als Bauträgerin ein Mehrfamilienhaus mit Tiefgarage. Bei einem Ortstermin des Beklagten am 13. Juni 2019 wurde festgestellt, dass bei der Umsetzung des Vorhabens die Entwässerungsrinne vor der Garage an den Niederschlagswasserkanal angeschlossen sowie der Regenwasserkanal nicht frostsicher verlegt worden ist.
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Mit Bescheid des Beklagten vom 18. Juni 2019, ausweislich der Postzustellungsurkunde zugestellt am 21. Juni 2019, wurde die Klägerin in Ziffer 1 verpflichtet, „folgende[n] Mangel“ an der Grundstücksentwässerungsanlage zu beseitigen: „Niederschlagswasserkanal ist nicht frostsicher eingebaut, Entwässerungsrinne vor Tiefgaragenabfahrt ist nicht am Schmutzwasserkanal angeschlossen.“ Zur „Ausführung dieser Anordnung“ wurde der Klägerin in Ziffer 2 eine Frist von 6 Wochen ab Unanfechtbarkeit des Bescheids gesetzt. Gemäß Ziffer 3 wird, falls die Klägerin „der Anordnung unter der Nummer 1 nicht fristgerecht nachkommen“ sollte, „folgendes Zwangsgeld zur Zahlung fällig: 6.500 EUR.“
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Zur Begründung wird in tatsächlicher Hinsicht (Ziffer I der Bescheidsgründe) ausgeführt, die Inbetriebnahme der Grundstücksentwässerungsanlage der Klägerin sei bei einer Begehung am 13. Juni 2019 untersagt worden, da der Niederschlagswasserkanal nicht frostsicher eingebaut sowie die Entwässerungsrinne vor der Tiefgaragenabfahrt nicht am Schmutzwasserkanal angeschlossen worden sei. Diese Mängel beeinträchtigten den ordnungsgemäßen Betrieb der Grundstücksentwässerungsanlage, weil Frostsicherheit nicht gegeben sei und Schmutzwasser nicht in den Niederschlagswasserkanal eingeleitet werden dürfe.
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In rechtlicher Hinsicht (Ziffer II der Bescheidsgründe) wird als Grundlage für den Erlass des Bescheids § 22 Abs. 1 EWS angeführt und zitiert. Die Anordnung unter Ziffer 1 des Bescheids beruhe auf § 11 Abs. 2 Satz 4 und § 12 Abs. 4 EWS. Danach setze der Beklagte dem Grundstückseigentümer eine angemessene Nachfrist für die Beseitigung festgestellter Mängel. Eine weitere Begründung für die Anordnung in Ziffer 1 des Bescheids erfolgte nicht.
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Die Klägerin hat mit Schriftsatz ihres Verfahrensbevollmächtigten vom 9. Juli 2019, eingegangen bei dem Verwaltungsgericht München am gleichen Tag, Klage gegen diesen Bescheid erhoben und beantragt,
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Der Beanstandungsbescheid des Beklagten vom 18. Juni 2019, bei der Klägerin am 21. Juni 2019 zugegangen, bezüglich der Grundstücksentwässerungsanlage …-Str. 8 in …, Fl.Nr. …, Gemarkung …, wird vollumfänglich aufgehoben.
9
Eine Begründung der Klage erfolgte nicht.
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Die Bevollmächtigten des Beklagten beantragen mit Schriftsatz vom 14. Oktober 2019:
11
Die Klage wird abgewiesen.
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Auf die Begründung des Klageabweisungsantrags, die im Wesentlichen die Mängel der Grundstücksentwässerungsanlage darlegt, wird Bezug genommen.
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Mit Schreiben vom 19. Februar 2020 wies das Gericht darauf hin, dass der angefochtene Bescheid nach vorläufiger Bewertung der Rechtslage rechtswidrig sein dürfte. Für die in Ziffer 1 des angegriffenen Bescheids getroffenen Anordnungen im Einzelfall sei entgegen § 22 Abs. 1 EWS kein Ermessen ausgeübt worden. Ziffer 3 des streitgegenständlichen Bescheids sei rechtswidrig, da die Zwangsgeldandrohung nicht hinreichend bestimmt formuliert sei. Angesichts dessen werde dem Beklagten die Aufhebung des Bescheids anheimgestellt.
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Mit Schriftsatz vom 30. März 2020 teilte der Beklagte mit, dass der Bescheid aufrechterhalten werde, da er rechtmäßig sei. Es liege kein Ermessensausfall vor. Der Beklagte habe im Bescheid auf die „Kann“-Vorschrift des § 22 Abs. 1 EWS Bezug genommen. Zudem fänden sich Ermessenserwägungen unter Ziffer I der Bescheidsbegründung. Zum einen werde dort hervorgehoben, dass die Beseitigung der Mängel für den ordnungsgemäßen Betrieb der Grundstücksentwässerungsanlage erforderlich sei. Zum anderen werde zur Begründung der Anordnung auf das satzungsmäßige Einleitungsverbot nach §§ 14 f. EWS hingewiesen, das aus wasserwirtschaftlichen Gründen eine Einleitung von Schmutzwasser in die Niederschlagswasserkanalisation untersage. Damit habe der Beklagte die zentralen Erwägungen für seine Anordnungen im angefochtenen Bescheid zum Ausdruck gebracht. Für eine darüber hinausgehende Ermessensausübung habe kein Anlass bestanden, da die Entscheidung mit Blick auf das Satzungsrecht des Beklagten vorgezeichnet gewesen sei. Ein Ermessensausfall liege nicht vor; der Beklagte könne seine Ermessenserwägungen auch noch im verwaltungsgerichtlichen Verfahren ergänzen. Die Zwangsgeldandrohung sei nicht unbestimmt; sie beziehe sich erkennbar auf jede einzelne der in Ziffer 1 des Bescheids getroffenen Verpflichtungen.
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Die Beteiligten sind mit Schreiben vom 14. April 2020, zugestellt am 17. bzw. 20. April 2020, zur beabsichtigten Entscheidung des Gerichts durch Gerichtsbescheid angehört worden. Während die Klagepartei sich mit einer Entscheidung durch Gerichtsbescheid einverstanden erklärt hat, haben die Bevollmächtigten des Beklagten mitgeteilt, dass insoweit wegen der divergierenden Rechtsauffassungen hinsichtlich der Ermessensausübung und der Bestimmtheit des Zwangsgeldes kein Einverständnis bestehe.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte sowie die vorgelegte Akte des Beklagten verwiesen.

Entscheidungsgründe

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1. Über die Klage konnte nach vorheriger Anhörung der Beteiligten durch Gerichtsbescheid entschieden werden, da sie keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist (§ 84 Abs. 1 Satz 1 Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO).
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2. Die zulässige Klage ist begründet. Der Bescheid des Beklagten vom 18. Juni 2019 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Er war daher aufzuheben.
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a) Ziffer 1 des angefochtenen Bescheids ist rechtswidrig, da für die dort getroffenen Mängelbeseitigungsanordnungen entgegen § 22 Abs. 1 EWS kein Ermessen ausgeübt worden ist.
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Nach § 22 Abs. 1 EWS kann der Beklagte zur Erfüllung der nach der Entwässerungssatzung bestehenden Verpflichtungen Anordnungen für den Einzelfall erlassen.
21
Diese Vorschrift räumt dem Beklagten bei Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen ein Ermessen ein; das Wort „kann“ ist nicht lediglich als Kompetenz-Kann zu verstehen. Dem steht auch nicht entgegen, dass die Vorschriften in § 11 Abs. 2 Satz 4 und § 12 Abs. 4 EWS, die hier zur (tatbestandlichen) Begründung der Mängel sowie von deren Beseitigung herangezogen werden, eine zwingende Mängelbeseitigungspflicht der Grundstückseigentümer statuieren. Denn der Wortlaut des § 22 Abs. 1 EWS ist insoweit eindeutig: Auch wenn gegen eine (zwingende) „Verpflichtung“ der Satzung verstoßen wird, darf aufgrund der Verwendung des Wortes „kann“ eine Anordnung im Einzelfall nur nach Ausübung pflichtgemäßen Ermessens getroffen werden. Dafür, dass der Satzungsgeber im Fall des Zusammentreffens von einer satzungsmäßigen Verpflichtung und § 22 Abs. 1 EWS den Ermessensmaßstab - etwa in Richtung auf ein intendiertes Ermessen - verändern wollte, ist nichts ersichtlich.
22
Ist die Behörde ermächtigt, nach ihrem Ermessen zu handeln, hat sie gemäß Art. 40 Bayerisches Verwaltungsverfahrensgesetz ihr Ermessen entsprechend dem Zweck der Ermächtigung auszuüben und die gesetzlichen Grenzen des Ermessens einzuhalten. Im Fall der Ermessensentscheidung prüft das Gericht nach § 114 Satz 1 VwGO auch, ob der Verwaltungsakt oder die Ablehnung oder Unterlassung des Verwaltungsakts rechtswidrig ist, weil die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht ist. Gemäß § 114 Satz 2 VwGO kann die Verwaltungsbehörde ihre Ermessenserwägungen hinsichtlich des Verwaltungsaktes auch noch im verwaltungsgerichtlichen Verfahren ergänzen.
23
Vorliegend hat der Beklagte im angegriffenen Bescheid bezogen auf die getroffenen Anordnungen zur Mängelbeseitigung kein Ermessen ausgeübt. In den Bescheidsgründen finden sich keine entsprechenden Erwägungen. Öffentliche Interessen für die Mängelbeseitigungsanordnungen werden nicht thematisiert, geschweige denn gegen private Interessen, die entsprechenden Anordnungen entgegenstehen könnten, abgewogen.
24
Entgegen der Rechtsauffassung der Bevollmächtigten des Beklagten lässt die bloße Bezugnahme auf die Vorschrift des § 22 Abs. 1 EWS unter Ziffer II 1 der Gründe des Bescheids nicht den Schluss zu, dass der Beklagte erkannt hat, dass ihm ein Ermessen zusteht, und dieses ausgeübt hat. Der Verweis auf § 22 Abs. 1 EWS unter Ziffer II 1 der Bescheidsgründe ist lediglich als Bezeichnung der Rechtsgrundlage für die Mängelbeseitigungsanordnungen einschließlich der Wiedergabe des Wortlauts der Vorschrift, nicht aber als Ermessensausübung zu verstehen.
25
Auch die Ausführungen unter Ziffer I der Bescheidsgründe, dass die Mängel den ordnungsgemäßen Betrieb der Grundstücksentwässerungsanlage beeinträchtigten, stellen keine Ermessenserwägungen dar. Abgesehen davon, dass diese im Rahmen der Sachverhaltsdarstellung erfolgt sind, handelt es sich hierbei um eine Begründung, warum die tatbestandlichen Voraussetzungen für die Mängelbeseitigung nach § 12 Abs. 4 EWS vorliegen. Denn nach dieser Vorschrift besteht eine Verpflichtung zur Mängelbeseitigung nur, wenn die festgestellten Mängel den ordnungsgemäßen Betrieb der Grundstücksentwässerungsanlage beeinträchtigen.
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Der von den Bevollmächtigten des Beklagten mit Schriftsatz vom 30. März 2020 weiter ins Feld geführte Verweis auf das satzungsmäßige Einleitungsverbot nach §§ 14 f. EWS und die diesbezüglichen wasserwirtschaftlichen Gründe findet sich im Bescheid nicht.
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Da eine Ermessensausübung insoweit vollständig fehlt, kann diese auch nicht im gerichtlichen Verfahren durch eine Ergänzung der Ermessenserwägungen nach § 114 Satz 2 VwGO geheilt werden.
28
b) Ziffer 2 des angefochtenen Bescheids war aufzuheben, da die dort verfügte Frist für die Beseitigung der unter Ziffer 1 genannten Mängel nach Aufhebung der Verpflichtung zur Mängelbeseitigung ins Leere geht und damit sinnlos geworden ist.
29
c) Die Zwangsgeldandrohung in Ziffer 3 des streitgegenständlichen Bescheids, die auf § 22 Abs. 2 EWS i.V.m. Art. 29 Abs. 2 Nr. 1, 31, 36 Abs. 1 Satz 1 Bayerisches Verwaltungszustellungs- und Vollstreckungsgesetz (VwZVG) gestützt ist, ist rechtswidrig, da sie nicht hinreichend bestimmt ist.
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Nach Art. 36 Abs. 3 Satz 1 VwZVG muss ein bestimmtes Zwangsmittel angedroht werden. Gemäß Art. 36 Abs. 5 VwZVG ist der Betrag des Zwangsgelds in bestimmter Höhe anzudrohen.
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Die Zwangsgeldandrohung in Ziffer 3 des angegriffenen Bescheids genügt diesen Bestimmtheitsanforderungen nicht.
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Nach Ziffer 3 des Bescheids wird ein Zwangsgeld in Höhe von 6.500 EUR zur Zahlung fällig, wenn die Klagepartei „der Anordnung unter der Nummer 1“ nicht fristgerecht nachkommt.
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In Ziffer 1 des Bescheids werden jedoch zwei Anordnungen zur Mängelbeseitigung getroffen, zum einen hinsichtlich der nicht frostsicheren Ausgestaltung des Niederschlagswasserkanals und zum anderen hinsichtlich des fehlenden Anschlusses der Entwässerungsrinne vor der Tiefgaragenabfahrt an den Schmutzwasserkanal.
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Es ist aus der Zwangsgeldandrohung daher nicht klar, ob das Zwangsgeld in Höhe von 6.500 EUR nur anfällt, wenn beide Verpflichtungen aus Ziffer 1 nicht erfüllt werden, oder ob ein Zwangsgeld auch fällig wird, wenn nur einer der Verpflichtungen aus Ziffer 1 nicht nachgekommen wird. Falls Letzteres der Fall sein sollte, wäre überdies unbestimmt, wie hoch das Zwangsgeld für den Verstoß gegen (nur) eine Mängelbeseitigungsanordnung jeweils wäre.
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3. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung fußt auf § 167 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.