Inhalt

VGH München, Urteil v. 12.02.2020 – 14 B 19.50010
Titel:

Verlängerung der Überstellungsfrist bei (offenem) Kirchenasyl

Normenketten:
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1
Dublin III-VO Art. 29 Abs. 2 S. 1, S.2
RDGEG § 3, § 5
Leitsatz:
Allein der Umstand, dass ein Asylbewerber sich der Überstellung entziehen will und sich dazu in das (offene) Kirchenasyl begeben hat, führt nicht dazu, dass er flüchtig im Sinne des Art. 29 Abs. 2 Satz 2 der Dublin III-Verordnung ist (im Anschluss an OVG Bremen, B.v. 18.9.2019 - 1 LA 246/19 - juris; HessVGH, B.v. 12.9.2019 - 6 A 1495/19.Z.A - juris; OVG NW, B.v. 5.9.2019 - 13 A 2890/19.A -, B.v. 2.9.2019 - 11 A 2285/19.A - sowie B.v. 29.8.2019 - 11 A 2874/19.A -, jeweils juris; NdsOVG, B.v. 25.7.2019 - 10 LA 155/19 - juris). (Rn. 19 – 21)
Schlagworte:
Dublin-Verfahren, Ablehnung eines Asylantrags als unzulässig wegen Zuständigkeit eines anderen Mitgliedstaats, Verlängerung der Überstellungsfrist bei (offenem) Kirchenasyl (verneint), Aufenthaltsverbot, Abschiebungsverbot, Kirchenasyl, Wohnung, Einreise
Vorinstanzen:
VG Ansbach, Urteil vom 06.12.2018 – AN 17 K 18.50438
VG Ansbach, Urteil vom 06.12.2018 – 14 B 19.50010
Rechtsmittelinstanz:
BVerwG Leipzig, Beschluss vom 08.06.2020 – 1 B 19.20
Fundstellen:
DÖV 2020, 495
BeckRS 2020, 1946
LSK 2020, 1946

Tenor

I. Die Berufung wird zurückgewiesen.
II. Die Beklagte trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Berufungsverfahrens.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht die Kläger vor Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leisten.
IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

1
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Umstand, dass die Kläger sich in das Kirchenasyl begeben haben, für die Annahme ausreicht, sie seien flüchtig im Sinne des Art. 29 Abs. 2 Satz 2 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 (im Folgenden: Dublin III-Verordnung).
2
Die Kläger sind iranische Staatsangehörige. Sie reisten am 1. Februar 2018 über Rumänien in das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland ein und stellten am 12. Februar 2018 einen Asylantrag. Am 7. März 2018 stellte die Beklagte hinsichtlich der Kläger ein Wiederaufnahmegesuch nach Art. 18 Abs. 1 Buchst. b der Dublin III-Verordnung an Rumänien, das dieses unter dem 21. März 2018 dahingehend beantwortete, dass die Kläger am 31. Januar 2018 um internationalen Schutz nachgesucht hätten und die Rücknahme der Kläger gemäß Art. 18 Abs. 1 Buchst. c der Dublin III-Verordnung im Rahmen der Fristen dieser Verordnung zugesagt werde.
3
Mit dem streitgegenständlichen Bescheid vom 23. März 2018 lehnte die Beklagte die Anträge der Kläger auf Durchführung eines Asylverfahrens in der Bundesrepublik Deutschland als unzulässig ab (Nr. 1 des Bescheids), stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5, Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vorlägen (Nr. 2 des Bescheids), ordnete die Abschiebung nach Rumänien an (Nr. 3 des Bescheids) und legte das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot auf 12 Monate ab dem Tag der Abschiebung fest (Nr. 4 des Bescheids).
4
Mit Schreiben der Evangelischmethodistischen Kirche, Bezirk F.-E., vom 18. Mai 2018, bei der Beklagten eingegangen am 22. Mai 2018, wurde dieser mitgeteilt, dass sich die Kläger seit dem 18. Mai 2018, 18:45 Uhr, im Kirchenasyl der Evangelischmethodistischen Kirche Fürth befinden, und es wurde die genaue Adresse dieser Kirche mitgeteilt.
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Das Bayerische Verwaltungsgericht Ansbach gab der gegen den Bescheid vom 23. März 2018 erhobenen Klage durch Urteil vom 6. Dezember 2018 statt und hob diesen Bescheid auf. Der Bescheid vom 23. März 2018 sei rechtswidrig, da die Kläger einen Anspruch auf Durchführung des Asylverfahrens in der Bundesrepublik Deutschland hätten, nachdem die Zuständigkeit hierfür im Rahmen des Dublin-Verfahrens auf die Beklagte gemäß Art. 29 Abs. 2 Satz 1 der Dublin III-Verordnung übergegangen sei. Die Überstellungsfrist von sechs Monaten habe am 21. März 2018 mit der Annahme des Wiederaufnahmegesuchs durch Rumänien zu laufen begonnen und mit Ablauf des 21. September 2018 geendet. Eine wirksame Verlängerung der Frist gemäß Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Alt. 2 der Dublin III-Verordnung sei nicht eingetreten, weil die Kläger nicht „flüchtig“ im Sinne dieser Bestimmung gewesen seien. Zwar hätten sich die Kläger in das Kirchenasyl begeben, aber der Beklagten ihre neue Adresse im Kirchenasyl zeitnah mitgeteilt, sodass sie unter der neuen Anschrift für die Behörden jederzeit erreichbar gewesen seien.
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Hiergegen hat die Beklagte die vom Verwaltungsgerichtshof mit Beschluss vom 28. Februar 2019 zugelassene Berufung eingelegt und beantragt,
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unter Abänderung der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung die Klage abzuweisen.
8
Zur Begründung wird ausgeführt, die vorliegend maßgeblichen Fragen könnten nicht in der Weise beantwortet werden, wie dies das Verwaltungsgericht angenommen habe. Der Eintritt der Kläger in das Kirchenasyl stelle ein „Untertauchen“ in aufenthaltsrechtlicher Hinsicht dar, weil sich die Kläger insoweit der staatlichen Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland und der Europäischen Union nicht unterordneten, sondern sich dieser bewusst und solange entzögen, bis die Überstellungsfrist nach der Dublin III-Verordnung abgelaufen sei. Dabei sei unerheblich, dass den Behörden der Aufenthalt der Kläger jederzeit bekannt gewesen sei. Denn den Klägern sei geläufig, dass die bayerischen Ausländerbehörden aufgrund entsprechender Abreden mit den Kirchen und der bereits jahrelangen Praxis gegen vollziehbar ausreisepflichtige Ausländer im Kirchenasyl nicht vorgingen. Obwohl die Ausländerbehörden rechtlich nicht gehindert seien, auch aus dem Kirchenasyl abzuschieben, hätten die Kläger de facto die (nahezu) hundertprozentige Sicherheit, dass sie während des illegalen Kirchenasyls nicht überstellt würden. Ihr Status gegenüber der Ausländerbehörde sei damit kein anderer als der eines „unbekannt“ Untergetauchten, da sich die Kläger ebenfalls vorsätzlich dem Zugriff der Ausländerbehörde entzögen. Auch dadurch, dass die Kläger der Aufforderung in dem Schreiben der zentralen Ausländerbehörde Mittelfranken vom 5. September 2018, am 18. September 2018 in der Polizeiinspektion Zirndorf vorzusprechen, nicht Folge geleistet hätten, hätten sie sich aktiv durch Unterlassen dem Zugriff der Behörden entzogen.
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Die Kläger beantragen,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Es könne definitiv nicht zu Lasten der Asylbewerber gehen, wenn sie Kirchenasyl in Anspruch nähmen. Rechtlich sei es möglich, dass auch sich im Kirchenasyl befindliche Ausländer abgeschoben würden. Der Beklagten sei bewusst gewesen, wo sich die Kläger aufgehalten hätten, weshalb sie sie hätte abschieben können. Wenn sie das nicht tue, tue sie dies offensichtlich aus Scheu vor der Öffentlichkeit, was nicht zu Lasten der Betroffenen gehen könne.
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Mit Bescheid vom 14. März 2019 hat die Beklagte die Vollziehung der Abschiebungsanordnung aus dem Bescheid vom 23. März 2018 bis zum unanfechtbaren Abschluss des gegen diesen Bescheid anhängigen Rechtstreits ausgesetzt.
13
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichts- und die vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Die Berufung der Beklagten, über die mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entschieden werden konnte (§ 125 Abs. 1, § 101 Abs. 2 VwGO), hat keinen Erfolg.
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Das Verwaltungsgericht hat den Bescheid der Beklagten vom 23. März 2018 zu Recht gemäß § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO aufgehoben, da die Kläger einen Anspruch auf Durchführung des Asylverfahrens in der Bundesrepublik Deutschland haben. Die Zuständigkeit hierfür ist im Rahmen des Dublin-Verfahrens auf die Beklagte gemäß Art. 29 Abs. 2 Satz 1 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 (im Folgenden: Dublin III-Verordnung) übergegangen, sodass die Voraussetzungen des § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG (Zuständigkeit eines anderen Mitgliedstaats für die Durchführung des Asylverfahrens) nicht mehr vorlagen.
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1. Gemäß Art. 29 Abs. 2 Satz 1 der Dublin III-Verordnung ist der zuständige Mitgliedstaat nicht mehr zur Aufnahme oder Wiederaufnahme der betreffenden Person verpflichtet und geht die Zuständigkeit auf den ersuchenden Mitgliedstaat über, wenn die Überstellung nicht innerhalb der Frist von sechs Monaten, die mit der Annahme des Wiederaufnahmegesuchs durch den anderen Mitgliedstaat beginnt (vgl. Art. 29 Abs. 1 Satz 1 der Dublin III-Verordnung), durchgeführt wird. Die Frist von sechs Monaten hat vorliegend am 21. März 2018 zu laufen begonnen und ist am 21. September 2018 abgelaufen, ohne dass die Kläger nach Rumänien überstellt worden wären.
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2. Eine wirksame Verlängerung der Frist gemäß Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Alt. 2 der Dublin III-Verordnung ist entgegen der Annahme der Beklagten nicht erfolgt.
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Gemäß Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Alt. 2 der Dublin III-Verordnung kann die Überstellungsfrist auf bis zu 18 Monate verlängert werden, wenn die asylantragstellende Person flüchtig ist. Hieran fehlt es vorliegend, da allein der Umstand, dass sich die Kläger der Überstellung entziehen wollten und sich dazu in das (offene) Kirchenasyl begeben haben, nicht dazu führt, dass sie flüchtig im Sinne dieser Bestimmung gewesen sind.
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Nach der nach dem Zulassungsbeschluss des Senats vom 28. Februar 2019 ergangenen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ist zwischenzeitlich geklärt, dass ein Antragsteller „flüchtig“ i.S.d. Art. 29 Abs. 2 Satz 2 der Dublin III-Verordnung ist, wenn er sich den für die Durchführung seiner Überstellung zuständigen nationalen Behörden gezielt entzieht, um die Überstellung zu vereiteln. Dies kann angenommen werden, wenn die Überstellung nicht durchgeführt werden kann, weil ein Asylantragsteller die ihm zugewiesene Wohnung verlassen hat, ohne die zuständigen nationalen Behörden über seine Abwesenheit zu informieren, sofern er über die ihm insoweit obliegende Pflichten unterrichtet wurde (vgl. EuGH, U.v. 19.3.2019 - C-163/17 - ECLI:ECLI:EU:C:2019:218 Rn. 70).
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Dies zugrunde gelegt ist nicht davon auszugehen, dass ein Asylbewerber, der sich in das Kirchenasyl begeben hat, flüchtig ist, wenn - wie im vorliegenden Fall der Kläger - den Behörden seine ladungsfähige Anschrift bekannt ist (sog. offenes Kirchenasyl; ebenso OVG Bremen, B.v. 18.9.2019 - 1 LA 246/19 - juris; HessVGH, B.v. 12.9.2019 - 6 A 1495/19.Z.A - juris; OVG NW, B.v. 5.9.2019 - 13 A 2890/19.A -, B.v. 2.9.2019 - 11 A 2285/19.A - sowie B.v. 29.8.2019 - 11 A 2874/19.A -, jeweils juris; NdsOVG, B.v. 25.7.2019 - 10 LA 155/19 - juris). Durch die Bekanntgabe der ladungsfähigen Anschrift handelt es sich bei ihm entgegen der Annahme der Beklagten gerade nicht um einen „unbekannt“ Untergetauchten. Auch reicht es nicht aus, dass die Kläger sich vorsätzlich dem Zugriff der Ausländerbehörde entziehen wollten und der Aufforderung im Schreiben der zentralen Ausländerbehörde Mittelfranken vom 5. September 2018, am 18. September 2018 in der Polizeiinspektion Zirndorf vorzusprechen, nicht Folge geleistet haben. Erforderlich für die Annahme eines „Flüchtigseins“ wäre vielmehr gewesen, dass eine Überstellung der Kläger nach Rumänien aufgrund des Umstands, dass sie sich in das Kirchenasyl begeben haben, unmöglich geworden ist. Denn der Europäische Gerichtshof hat, wie sich aus seinen Ausführungen („wenn die Überstellung nicht durchgeführt werden kann, weil der Antragsteller die ihm zugewiesene Wohnung verlassen hat“) eindeutig ergibt, festgestellt, dass nur derjenige flüchtig i.S.d. Art. 29 Abs. 2 Satz 2 der Dublin III-Verordnung ist, der die ihm zugewiesene Wohnung verlassen hat und dies zur Folge hat, dass die Überstellung nicht durchgeführt werden kann. Die Flucht muss also kausal für die Nichtdurchführbarkeit der Überstellung sein.
21
An der somit erforderlichen Kausalität fehlt es aber mangels Nichtdurchführbarkeit der Überstellung regelmäßig - so auch hier - im Fall des sog. offenen Kirchenasyls, wenn also den Behörden die Adresse des Asylbewerbers bekannt ist (ebenso OVG Bremen, B.v. 18.9.2019 - 1 LA 246/19 - juris Rn. 7; OVG NW, B.v. 29.8.2019 - 11 A 2874/19.A - juris Rn. 16; NdsOVG, B.v. 25.7.2019 - 10 LA 155/19 - juris Rn. 14). Der Staat ist durch das Kirchenasyl nämlich weder rechtlich noch tatsächlich daran gehindert, die Überstellung durchzuführen, was auch die Beklagte nicht bestreitet. Vielmehr verzichtet der Staat bewusst darauf, das Recht durchzusetzen. Ein Sonderrecht der Kirchen, aufgrund dessen die Behörden bei Aufnahme einer Person in das sog. Kirchenasyl gehindert wären, eine Überstellung durchzuführen und hierzu gegebenenfalls unmittelbaren Zwang anzuwenden, existiert nicht (vgl. auch OVG Bremen, B.v. 18.9.2019 a.a.O.; OVG NW, B.v. 29.8.2019 a.a.O. Rn. 18). Die am 24. Februar 2015 zwischen dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) mit Vertretern der evangelischen und katholischen Kirche getroffene Vereinbarung zum Kirchenasyl stellt nur eine rechtlich nicht verbindliche Verfahrensabsprache dar (vgl. auch BT-Drs. 19/2349 S. 1).
22
Da nach alledem die Voraussetzungen des § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG - also die Zuständigkeit Rumäniens für die Durchführung des Asylverfahrens - mit Ablauf des 21. September 2018 nicht mehr vorlagen, hat das Verwaltungsgericht der Klage zu Recht stattgegeben.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, § 83b AsylG.
24
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO, § 708 Nr. 10, § 711 ZPO.
25
Die Revision war nicht zuzulassen, weil kein Zulassungsgrund i.S.d. § 132 Abs. 2 VwGO vorliegt. Die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache ist seit Ergehen der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 19. März 2019 - C-163/17 - (ECLI:ECLI:EU:C:2019:218) nicht mehr gegeben.