Inhalt

VG München, Beschluss v. 06.08.2020 – M 21a M 18.30789
Titel:

Erinnerung gegen einen Kostenfestsetzungsbeschluss: Fiktive Terminsgebühr bei stattgebendem Gerichtsbescheid

Normenketten:
VwGO § 84, §87a Abs. 2, Abs. 3, § 165
AsylG § 76 Abs. 5
VV-RVG Anl. 1 Nr. 3104 Abs. 1 Nr. 2
Leitsatz:
Die fiktive Terminsgebühr fällt nicht nur in den Verfahren an, bei denen gegen den Gerichtsbescheid ausschließlich die mündliche Verhandlung als Rechtsbehelf zulässig ist. Eine derartige Beschränkung ist nicht mit dem Zweck der Vorschrift vereinbar, für den Anwalt einen gebührenrechtlichen Anreiz zu schaffen, nicht auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu bestehen. (Rn. 15) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Erinnerung gegen Kostenfestsetzung (erfolgreich), fiktive Terminsgebühr auch bei stattgebendem Gerichtsbescheid, Zulässigkeit des Antrags auf mündliche Verhandlung nicht erforderlich, Umfassende Lenkungs- und Steuerungswirkung der fiktiven Terminsgebühr, Ablehnung, Abschiebungsanordnung, Erinnerung, Migration, Kostenfestsetzung, fiktive Terminsgebühr, Proberichter
Fundstelle:
BeckRS 2020, 18800

Tenor

I. Der Kostenfestsetzungsbeschluss vom 1. Februar 2018 wird dahingehend abgeändert, dass die vom Klägerbevollmächtigten in Ansatz gebrachte fiktive Terminsgebühr nach Nr. 3104 Abs. 1 Nr. 2 VV-RVG in Höhe von 363,60 EUR als erstattungsfähig anerkannt wird. Die dem Kläger zu erstattenden Rechtsanwaltskosten werden daher auf insgesamt 925,22 EUR festgesetzt.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Erinnerungsverfahrens zu tragen.
III. Das Erinnerungsverfahren ist gerichtsgebührenfrei.

Gründe

I.
1
Der Erinnerungsführer wendet sich gegen einen Kostenfestsetzungsbeschluss.
2
Im Verfahren M 21 K 14.30456 wandte sich der Kläger (und Erinnerungsführer) über seinen Bevollmächtigten gegen die Ablehnung seines Asylantrags sowie gegen eine Abschiebungsanordnung nach Ungarn. Mit Gerichtsbescheid vom 25. November 2014 folgte das Gericht diesem Antrag und hob den Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 24. Februar 2014 auf. Die Kosten des Verfahrens wurden der Beklagten auferlegt.
3
Mit Schreiben vom 11. Dezember 2017 beantragte der Kläger über seinen Bevollmächtigten, seine Kosten aus diesem Verfahren (1,3-fache Verfahrensgebühr, 1,2-fache Terminsgebühr, Postpauschale sowie Mehrwertsteuer) in Höhe von insgesamt 925,22 EUR vollstreckbar festzusetzen.
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Mit Kostenfestsetzungsbeschluss vom 1. Februar 2018 setzte der Urkundsbeamte der Geschäftsstelle zugunsten des Klägers die von der Beklagten zu erstattenden Aufwendungen - ohne Berücksichtigung der Terminsgebühr - auf 492,54 EUR fest.
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Mit Schriftsatz vom 6. Februar 2018 beantragte der Kläger gegen diesen Beschluss die Entscheidung des Gerichts.
6
Der Urkundsbeamte der Geschäftsstelle half dieser Erinnerung nicht ab und legte sie dem Gericht zur Entscheidung vor.
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Mit Schriftsatz vom 27. Juli 2020 bzw. vom 3. August 2020 haben die Beteiligten ihr Einverständnis mit einer Entscheidung durch den Berichterstatter erklärt.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten in diesem sowie in dem Verfahren M 21 K 14.30456 verwiesen.
II.
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Die nach § 165 VwGO i.V.m. § 151 VwGO zulässige, insbesondere fristgerecht erhobene Erinnerung hat Erfolg, weil sie begründet ist.
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1. Über die Erinnerung konnte mit Einverständnis der Beteiligten durch den Berichterstatter entschieden werden (§ 87a Abs. 2 und 3 VwGO). Zwar entscheidet über die Erinnerung das Gericht in der Besetzung, in der die zu Grunde liegende Kostengrundentscheidung getroffen wurde, im vorliegenden Fall also durch den Einzelrichter (Kunze in BeckOK-VwGO, 53. Edition 1.4.2020, § 165 Rn. 8; Happ in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 165 Rn. 7; vgl. auch BVerwG, B.v. 29.12.2004 - 9 KSt 6/04 - NVwZ 2005, 466; BayVGH, B.v. 3.12.2003 - 1 N 01.1845 - NVwZ-RR 2004, 309), allerdings bedarf es aufgrund des Einverständnisses der Beteiligten keiner weiteren Klärung, ob ein Richter auf Probe im ersten Jahr in Anknüpfung an das asylrechtliche Ausgangsverfahren nach § 76 Abs. 5 AsylG als Einzelrichter auch über die diesbzgl. Erinnerung entscheiden kann - wofür vieles spricht - oder aber in diesen Fällen die Regelung des § 6 Abs. 1 Satz 2 VwGO zur Anwendung kommt.
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2. Im Rahmen des Kostenfestsetzungsverfahrens gemäß §§ 164, 173 VwGO i.V.m. §§ 103 ff. ZPO werden auf Antrag durch Kostenfestsetzungsbeschluss des Urkundsbeamten des ersten Rechtszugs die zwischen den Beteiligten des Rechtsstreits untereinander zu erstattenden Kosten festgesetzt, § 164 VwGO. Die im Kostenfestsetzungsverfahren gemäß §§ 164, 173 VwGO i.V.m. §§ 103 ff. ZPO zu erstattenden Kosten sind die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Aufwendungen der Beteiligten.
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Im vorliegenden Kostenfestsetzungsbeschluss vom 1. Februar 2018 wurde die fiktive Terminsgebühr jedoch zu Unrecht nicht festgesetzt.
13
Das Rechtsanwaltsvergütungsgesetz sieht in seiner Anlage 1 unter Nr. 3104 Abs. 1 Nr. 2 VV-RVG für den Fall, dass gemäß § 84 Abs. 1 Satz 1 VwGO durch Gerichtsbescheid entschieden wird, grundsätzlich ein fiktive Terminsgebühr vor. Dies gilt ausweislich des Wortlauts der Vorschrift allerdings nur in den Fällen, in denen eine mündliche Verhandlung beantragt werden kann.
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Einen solchen Antrag konnte der Kläger hier gemäß § 84 Abs. 2 Nr. 2 VwGO stellen.
15
a) Entgegen einer in der Rechtsprechung zum Teil vertretenen Auffassung (vgl. etwa VG Regensburg, B.v. 27.6.2016 - RO 9 M 16.929 - juris Rn. 12) lässt sich aus dem Wortlaut der Vorschrift nicht folgern, dass die fiktive Terminsgebühr nur in den Verfahren anfällt, bei denen gegen den Gerichtsbescheid gemäß § 84 Abs. 2 Nr. 5 VwGO ausschließlich die mündliche Verhandlung als Rechtsbehelf zulässig ist. Eine derartige Beschränkung ist nicht mit dem Zweck der Vorschrift vereinbar, für den Anwalt einen gebührenrechtlichen Anreiz zu schaffen, nicht auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu bestehen. Eine solche kann nämlich auch nach § 84 Abs. 2 Nr. 2 und Nr. 4 VwGO erzwungen werden (vgl. BayVGH, B.v. 27.02.2020 - 8 C 18.1889 - juris Rn. 9 ff.).
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b) Auch kommt es für die Abrechenbarkeit der fiktiven Terminsgebühr nicht darauf an, dass der im zugrundeliegenden Rechtsstreit vollumfänglich obsiegende Kläger keinen zulässigen Antrag auf mündliche Verhandlung stellen kann, weil er durch den Gerichtsbescheid nicht beschwert ist (ebenso jüngst BayVGH, B.v. 27.02.2020 - 8 C 18.1889 - juris Rn. 15; a.A. bisher aber BayVGH, B.v. 24.10.2018 - 5 C 18.1932 - juris Rn. 10 ff.; OVG Lüneburg, B.v. 16.8.2018 - 2 OA 1541/17 - juris Rn. 10 ff.).
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Zwar entsteht die fiktive Terminsgebühr nicht schon bei jeder tatsächlichen und offensichtlich unzulässigen Stellung eines Antrags auf mündliche Verhandlung. Vielmehr knüpft die Norm mit dem Begriff „kann“ an die Statthaftigkeit eines solchen Antrags an, die etwa in den Fällen des § 84 Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 3 VwGO bereits nicht gegeben ist (BayVGH B.v. 27.02.2020 - 8 C 18.1889 - juris Rn. 14 unter Hinweis auf VG Minden, B.v. 17.8.2018 - 12 K 6379/16.A - juris Rn. 14).
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Dem Entstehen der Gebühr steht indes nicht entgegen, dass der Kläger aufgrund seines Obsiegens keinen zulässigen Antrag auf mündliche Verhandlung stellen kann, weil er durch den Gerichtsbescheid nicht beschwert ist und ihm demzufolge das Rechtschutzbedürfnis für einen entsprechenden Antrag fehlt.
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Dies ergibt sich nicht nur daraus, dass durchaus umstritten ist, ob ein unzulässiger Antrag auf mündliche Verhandlung durch Beschluss verworfen werden kann oder ob hierüber stets durch Urteil zu entscheiden ist, was wiederum eine mündliche Verhandlung voraussetzen würde (vgl. BayVGH, B.v. 27.02.2020 - 8 C 18.1889 - juris Rn.16 ff.).
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Das Abstellen auf die Beschwer würde darüber hinaus einen Anreiz dafür schaffen, durch Stellung ausufernder Klageanträge eine Klageabweisung in einem minimalen Teil zu erreichen, nur um im Anschluss daran die fiktive Terminsgebühr abrechnen zu können (VG Minden, B.v. 17.8.2018 - 12 K 6379/16.A - juris Rn. 16), wodurch der Zweck der Regelung, eine prozessökonomische Verfahrensführung seitens der Beteiligten auf Gebührenebene zu honorieren, gerade ins Gegenteil verkehrt würde. Denn es ist ausweislich der Gesetzesbegründung zum Zweiten Kostenrechtsmodernisierungsgesetz (BT-Drs. 17/11471, S. 275) erklärtes Ziel des Gesetzgebers gewesen, den Anwalt durch gebührenrechtliche Anreize zu einem wirtschaftlichen Prozessverhalten zu bewegen, indem eine Verfahrensbeendigung ohne mündliche Verhandlung herbeigeführt wird.
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Dabei kommt die beabsichtigte Steuerungswirkung auch nicht erst im Anschluss an die gerichtliche Entscheidung, d. h. hier nach Erlass des Gerichtsbescheides mit der prozesstaktischen Überlegung des Bevollmächtigten, ob die mündliche Verhandlung beantragt werden soll, zum Tragen, sondern kann sich auch schon im Zeitpunkt der Anhörung der Beteiligten zum Erlass eines Gerichtsbescheides (§ 84 Abs. 1 Satz 2 VwGO) auswirken. Denn bereits in diesem Stadium können die Weichen für eine vom Gesetzgeber beabsichtigte zeit- und kostensparende Prozessführung durch den Anwalt gestellt werden. Zwar kann ein Beteiligter eine Entscheidung im Wege des Gerichtsbescheides nicht verhindern, wenn die Voraussetzungen des § 84 Abs. 1 Satz 1 VwGO vorliegen. Er kann aber - und bereits an diesem Punkt knüpft die gewollte Steuerungswirkung an - durchaus gegenüber dem Gericht signalisieren, mit einer Entscheidung durch Gerichtsbescheid einverstanden zu sein und das Verfahren ohne mündliche Verhandlung zu beenden. Es soll nach dem Telos der Regelung somit kein Grund bestehen, nur aufgrund des Gebühreninteresses, eine Verfahrensweise nach § 84 Abs. 1 VwGO abzulehnen und auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu drängen. Vielmehr soll bereits in diesem frühen Stadium ein Anreiz gesetzt werden, in geeigneten Fällen sowie unter den Voraussetzungen des § 84 Abs. 1 Satz 1 VwGO das Verfahren ohne mündliche Verhandlung zu beenden.
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3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Zu verteilen sind dabei die Auslagen des Gerichts und ggf. außergerichtlich angefallenen Rechtsanwaltskosten. Gerichtsgebühren werden für das Erinnerungsverfahren mangels eines Gebührentatbestandes nicht erhoben (BayVGH, B.v. 27.02.2020 - 8 C 18.1889 - juris Rn. 21).
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4. Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG), weil der Beschwerdeausschluss auch selbständige und unselbständige Nebenverfahren im Zusammenhang mit dem Asylgerichtsverfahren umfasst (vgl. BayVGH, B.v. 28.5.2020 - 13a C 20.30392 - BeckRS 2020, 14582).