Inhalt

VG München, Urteil v. 22.07.2020 – M 2 K 19.50619
Titel:

Keine systemischen Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen in Frankreich

Normenketten:
Dublin III-VO Art. 3 Abs. 1, Abs 2 UAbs. 2, UAbs. 3, Art. 17 Abs. 1, Art. 18 Abs. 1d, Art. 23 Abs. 3
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1a, § 34a Abs. 1 S. 1, § 77 Abs. 1
Leitsatz:
Das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen in Frankreich weisen keine systemischen Schwachstellen auf, die die Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union mit sich bringen. (Rn. 27) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Dublin-Verfahren, Zielstaat Frankreich, Zuständigkeitswechsel nach Durchführung eines erfolglosen vorherigen nationalen Asyl-Erstverfahrens, Inhaltlich unrichtiges Wiederaufnahmegesuch (Zweifel an der Identität des Antragstellers), somalischer Staatsbürger, Dublin-Bescheid, Asylantrag, Eurodac-Abfrage, Abschiebung nach Frankreich, Asylfolgeverfahren, Wiederaufnahmeersuchen, Überstellung, Übernahmebereitschaft, Überstellungsfrist
Fundstelle:
BeckRS 2020, 18796

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

1
Der Kläger wendet sich mit seiner Klage gegen einen „Dublin-Bescheid“. Er ist somalischer Staatsbürger und hat in Deutschland bereits ein Asyl-Erstverfahren durchgeführt. Eine gegen den im Erstverfahren ergangenen ablehnenden Bescheid der Beklagten vom 25. Januar 2017 (Az. …*) erhobene Klage blieb erfolglos (vgl. VG München, U.v. 22.2.2018 - M 11 K 17.31551).
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Am 14. Mai 2019 stellte der Kläger in Deutschland einen weiteren Asylantrag. Im Rahmen einer Eurodac-Abfrage stellte die Beklagte einen Treffer der Kategorie 1 fest, wonach der Kläger am 9. Mai 2018 in Frankreich Asyl beantragt hat. Mit Schreiben vom 15. Mai 2019 richtete die Beklagte ein Übernahmeersuchen an Frankreich, das von den französischen Behörden mit Schreiben vom 20. Mai 2019 akzeptiert wurde.
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Daraufhin lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 21. Mai 2019, zugestellt mit Schreiben vom 6. Juni 2019, den Antrag auf Asyl als unzulässig ab (Nr. 1), stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) nicht vorliegen (Nr. 2), ordnete die Abschiebung nach Frankreich an (Nr. 3) und befristete das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG auf neun Monate ab dem Tag der Abschiebung (Nr. 4).
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Mit am 12. Juni 2019 erhobener Klage beantragt der Kläger,
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den Bescheid vom 21. Mai 2019 aufzuheben.
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Zugleich beantragte er, die aufschiebende Wirkung seiner Klage anzuordnen.
7
Mit Schriftsatz vom 24. Juni 2019 trug der Kläger vor, dass die Zustimmung Frankreichs zur Übernahme auf Basis eines von der Beklagten unvollständigen Sachverhalts erfolgte. Die Beklagte habe Frankreich nicht mitgeteilt, dass sie bereits ein (erfolgloses) Erstverfahren hinsichtlich des Klägers durchgeführt habe. Hätte sie dies mitgeteilt, hätte Frankreich erkannt, dass es nicht selbst, sondern wegen Art. 18 Abs. 1 Buchst. d Dublin-III-VO die Beklagte für das (dann Asylfolge-)Verfahren des Klägers zuständig sei.
8
Mit Beschluss vom 8. Juli 2019 hat das Gericht die aufschiebende Wirkung angeordnet (M 2 S 19.50618), weil sich die Zuständigkeit der Beklagten aus Art. 18 Abs. 1 Buchst. d Dublin-III-VO ergebe.
9
Mit Schreiben vom 17. Juli 2019 trug die Beklagte vor, dass Frankreich bereits am 14. Mai 2018 anlässlich dort gestellten Asylantrags des Klägers vom 9. Mai 2018 ein Wiederaufnahmeersuchen an Deutschland gestellt habe. Dieses sei wegen Zweifeln an der Identität der betroffenen Person von der Beklagten abgelehnt worden. Frankreich habe diese Ablehnung akzeptiert und - seine Zuständigkeit bekräftigend - auf das Ersuchen der Beklagten vom 15. Mai 2019 positiv reagiert. Das Gericht sei in seinem Beschluss vom 8. Juli 2019 zwar im Grundsatz zurecht davon ausgegangen, dass die Beklagte wegen Art. 18 Abs. 1 Buchst. d Dublin-III-VO für das Asylfolgeverfahren des Klägers zuständig sei. Jedoch sei dadurch, dass die Beklagte das Wiederaufnahmeersuchen Frankreichs vom 14. Mai 2018 fristgerecht abgelehnt habe, die Zuständigkeit Frankreichs begründet worden.
10
Mit Schriftsatz vom 30. Juli 2019 ergänzte der Kläger sein bisheriges Vorbringen und führte aus, dass die Ablehnung des Wiederaufnahmeersuchens Frankreichs durch die Beklagte zurecht erfolgt sei, weil die von Frankreich genannten Daten nicht zu denen des Klägers gepasst hätten. Es habe sich offenbar um zwei verschiedene Personen gehandelt. Infolgedessen könne aber auch die Zuständigkeit Frankreichs nicht dadurch begründet werden, dass Frankreich die Ablehnung durch die Beklagte hingenommen habe. Der Kläger erklärte ferner sein Einverständnis mit der Durchführung eines schriftlichen Verfahrens.
11
Die Beklagte erwiderte mit Schriftsatz vom 20. August 2019, dass der Eurodac-Treffer in Frankreich für den 9. Mai 2018 angesichts des Fingerabdrucks eindeutig dem Kläger zuzuordnen sei. Das in diesem Zusammenhang erfolgte fehlerhafte Wiederaufnahmeersuchen Frankreichs sei durch die Beklagte zurückzuweisen gewesen, so dass - da Frankreich hiergegen nicht nach den Regeln der Dublin III-Verordnung vorgegangen sei - Frankreich zuständig sei. Dem Kläger entstehe hierdurch kein Nachteil, da er nun in Frankreich ein (weiteres) Asyl-Erstverfahren durchlaufen könne.
12
Mit Schreiben vom 3. Juli 2020 verzichtete die Beklagte auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung.
13
Mit Beschluss vom 13. Juli 2020 wurde der Rechtsstreit zur Entscheidung auf den Einzelrichter übertragen.
14
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten im hiesigen und im Verfahren M 2 S 19.50618 sowie auf die vorgelegten Akten der Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Über den Rechtsstreit konnte ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung entschieden werden, weil hierauf der Kläger mit Schriftsatz vom 30. Juli 2019 und die Beklagte mit Schreiben vom 3. Juli 2020 verzichtet haben (§ 101 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO).
I.
16
Die zulässige Klage hat keinen Erfolg. Der Bescheid der Beklagten vom 21. Mai 2019 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
17
Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung ist gemäß § 77 Abs. 1 AsylG der Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung.
18
1. Die Beklagte ist zu Recht davon ausgegangen, dass Frankreich der zuständige Mitgliedstaat für die Durchführung des (weiteren) Asylverfahrens des Klägers ist. Der Asylantrag durfte daher als unzulässig abgelehnt werden.
19
Nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AsylG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat nach der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (ABl. L 180 v. 29.6.2013, S. 31) - im Folgenden: Dublin III-VO - für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist.
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Art. 3 Abs. 1 Dublin III-VO sieht vor, dass der Asylantrag von dem Mitgliedstaat geprüft wird, der nach den Kriterien des Kapitels III der Dublin III-VO als zuständiger Staat bestimmt wird. Bei Anwendung dieser Kriterien ist Frankreich für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig.
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a) Grundsätzlich ergibt sich eine Zuständigkeit der Beklagten für das Asyl(folge) verfahren des Klägers aus Art. 18 Abs. 1 Buchst. d Dublin-III-VO. Der Kläger hat in Deutschland erfolglos ein Asylverfahren durchgeführt und anschließend in einem anderen Mitgliedsstaat, nämlich Frankreich, einen Asylantrag gestellt. Art. 18 Abs. 1 Buchst. d Dublin-III-VO regelt für diese Konstellationen eine Pflicht Deutschlands, den Kläger wiederaufzunehmen, und setzt damit die Zuständigkeit der Beklagten voraus.
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b) Diese Zuständigkeit ist nicht infolge der von Frankreich akzeptierten Ablehnung seines Wiederaufnahmeersuchens vom 14. Mai 2018 durch die Beklagte auf Frankreich übergegangen. Zwar ist zutreffend, dass im Falle einer Ablehnung eines Ersuchens ohne Durchführung einer weiteren Überprüfung nach Art. 5 der Durchführungsverordnung (EG Nr. 1560/2003) der ersuchende Staat für die betreffenden Antragsteller zuständig wird. Im vorliegenden Fall ist aber gerade unklar, ob sich das Ersuchen Frankreichs tatsächlich auf den Kläger im hiesigen Verfahren bezog. Die Beklagte hat das Ersuchen mit der Begründung abgelehnt, dass die Identität der von Frankreich genannten Person nicht mit den der Beklagten verfügbaren Daten übereinstimmt („The data you provide does not match the data registered in the Federal Republic of Germany. In addition to the personal data, the photo also identifies another person registerend here with the Eurodac hit“). Angesichts dieser geäußerten Zweifel an der Identität kann sich die Beklagte nicht auf einen Zuständigkeitswechsel hinsichtlich des Klägers berufen.
23
c) Allerdings bestehen keine Zweifel daran, dass der Kläger in Frankreich einen Asylantrag gestellt hat. Es ist nicht erkennbar, dass die bei Stellung des Asylantrags abgenommenen Fingerabdrücke, die Frankreich zu dem Wiederaufnahmeersuchen an Deutschland veranlasst haben, nicht vom Kläger stammen. Der Kläger hat in seinen Schriftsätzen auch nicht grundsätzlich bestritten, in Frankreich einen Asylantrag gestellt zu haben. Seine Ausführungen sind (erfolgreich) darauf gerichtet, zu bezweifeln, dass die Person, die im Wiederaufnahmegesuch benannt ist, mit der des Klägers identisch ist. Dass der Kläger aber einen Antrag in Frankreich gestellt hat, ist nicht bestritten worden. Die benannten Termine des Klägers, die er in Deutschland wahrgenommen haben will, schließen eine Antragstellung zum fraglichen Zeitpunkt in Frankreich auch nicht aus.
24
Da das fehlerhafte Ersuchen Frankreichs sich nicht (sicher) auf den Kläger bezog, hat Frankreich im Ergebnis hinsichtlich des Klägers gar kein Wiederaufnahmeersuchen an die Beklagte gerichtet. In einem solchen Fall wechselt nach Ablauf der Frist allerdings die Zuständigkeit gemäß Art. 23 Abs. 3 Dublin III-VO auf Frankreich.
25
d) An der Zuständigkeit Frankreichs hat sich wiederum durch die Antragstellung in der Bundesrepublik am 14. Mai 2019 nichts geändert. Die Beklagte hat anlässlich des Asyl(folge) antrags zu Recht - und fristgemäß - ein Ersuchen an Frankreich gerichtet, dem die französischen Behörden zugestimmt hat.
26
e) Die Zuständigkeit ist auch nicht gemäß Art. 3 Abs. 2 UAbs. 3 der Dublin III-VO auf die Beklagte übergegangen, weil eine Überstellung an Frankreich als den zuständigen Mitgliedsstaat an Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 der Dublin III-VO scheitern würde.
27
Dies würde voraussetzen, dass es wesentliche Gründe für die Annahme gäbe, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen in Frankreich systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (EU-Grundrechtecharta) mit sich bringen. Dies ist nicht der Fall (vgl. VG Augsburg, B.v. 25.6.2018 - Au 6 S 18.50604 - juris Rn. 27 ff.).
28
f) Die demnach bestehende Zuständigkeit Frankreichs ändert sich schließlich auch nicht deshalb, weil individuelle, außergewöhnliche humanitäre Gründe die Ausübung des Selbsteintrittsrechts nach Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO notwendig machen würden. Hierfür ist vorliegend nichts ersichtlich.
29
g) Die Zuständigkeit der Beklagten wurde bislang auch nicht durch Fristablauf begründet, da die sechsmonatige Überstellungsfrist (fristauslösendes Ereignis ist das Wiederaufnahmegesuch) durch die stattgebende Entscheidung des Gerichts durch Beschluss vom 8. Juli 2019 bis zum vorliegenden Urteil unterbrochen war (Art. 29 Abs. 1 i.V.m. Art. 27 Abs. 3 Buchst. c) Dublin III-VO).
30
2. Die Überstellung an Frankreich ist auch tatsächlich möglich und rechtlich zulässig, die Abschiebung kann daher im Sinne des § 34a AsylG durchgeführt werden.
31
a) Die französischen Behörden haben ihre Übernahmebereitschaft mit Schreiben vom 20. Mai 2019 erklärt.
32
b) Inlandsbezogene Abschiebungshindernisse, die im Rahmen einer Abschiebungsanordnung gemäß § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG angesichts des Wortlauts der Norm („feststeht“) von der sonst allein auf die Prüfung zielstaatsbezogener Abschiebungsverbote beschränkten Antragsgegnerin zu prüfen sind (vgl. BVerfG, B.v. 17.9.2014 - 2 BvR 732/14 - juris Rn. 11; NdsOVG, B.v. 30.1.2019 - 10 LA 21/19 - juris Rn. 10; OVG NW, U.v. 18.7.2016 - 13 A 1859/14.A - juris Rn. 125), sind nicht ersichtlich.
33
c) Zielstaatsbezogene Abschiebungsverbote sind ebenfalls nicht ersichtlich.
34
3. Auch gegen die Anordnung der Abschiebung sowie die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots bestehen keine rechtlichen Bedenken.
II.
35
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Gerichtskostenfreiheit ergibt sich aus § 83b AsylG.
III.
36
Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 Abs. 1, 2 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 Satz 1 ZPO.