Titel:
Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft einer aus dem Gazastreifen (Gaza-Stadt) stammenden Palästinenserin
Normenketten:
AsylG § 3, § 4 Abs. 1, § 38 Abs. 1
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7
Leitsätze:
1. Keine ernsthafte individuelle Bedrohung einer aus dem Gazastreifen (Gaza-Stadt) stammenden Palästinenserin aufgrund der bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen der Hamas und Israel insb. im Zuge der Grenzproteste ("Great March of Return") (Rn. 51 – 54)
2. Noch keine gegen Art. 3 EMRK verstoßende humanitäre Lage im Gazastreifen für eine Familie aus Vater, Mutter und minderjährigem Kind im Rahmen der anzunehmenden gemeinsamen Rückkehrperspektive bei Prüfung des § 60 Abs. 5 AufenthG (Rn. 58 – 60)
3. Abschiebungsandrohung mit Zielland Palästinensische Autonomiegebiete trotz umstrittenen völkerrechtlichen Status möglich (Rn. 66)
4. Beginn der Ausreisefrist von 30 Tagen nach § 38 Abs. 1 Satz 1 AsylG mit Bekanntgabe des Bescheides bei Verbindung von ablehnender Asylentscheidung und Rückkehrentscheidung objektiv europarechtswidrig; gleichwohl keine subjektive Rechtsverletzung im Falle der Klageerhebung, da nach § 38 Abs. 1 Satz 2 AsylG die Ausreisefrist dann 30 Tage nach unanfechtbarem Abschluss des Asylverfahrens endet und Europarechtskonformität mit den RL 2008/115/EG (Rückführungs-RL) und der RL 2013/32/EU (Asylverfahrens-RL) sowie Art. 18, 19 Abs. 2, 47 GRCh hergestellt wird (Anschluss an BVerwG, U.v. 20.2.2020 – 1 C 1.19 – juris). (Rn. 70 – 71)
5. Verletzung der Pflicht, den Ausländer über die ihm nach dem Unionsrecht bis zur Entscheidung über die Klage zustehenden Verfahrens-, Schutz- und Teilhaberechte zu unterrichten, führt nicht zur Rechtswidrigkeit einer Abschiebungsandrohung (Anschluss an BVerwG, U.v. 20.2.2020 – 1 C 1.19 – juris). (Rn. 72 – 73)
Schlagworte:
Palästinenserin, Gazastreifen, Abschiebungsandrohung, Abschiebungsverbot, Asylanerkennung, Asylantrag, Aufenthaltsverbot, Ausreisefrist, Einreise, erniedrigende Behandlung, individuelle Bedrohung, Lebensunterhalt, subsidiärer Schutzstatus, Versorgung, Vorverfolgung, innerstaatlicher bewaffneter Konflikt, Flüchtlingseigenschaft
Fundstelle:
BeckRS 2020, 18610
Tenor
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Tatbestand
1
Die Klägerin begehrt unter Aufhebung des ablehnenden Bescheides des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) die Anerkennung als Asylberechtigte und die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, hilfsweise subsidiären Schutz und weiter hilfsweise die Feststellung von Abschiebungsverboten.
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Die Klägerin ist nach eigenen Angaben … 1993 in …, Libyen, geboren, staatenlose Palästinenserin und sunnitisch-islamischen Glaubens. Sie ist Mutter eines … 2020 in Deutschland geborenen Kindes, Kindsvater ist der ebenfalls in Deutschland lebende Kläger im zur gemeinsamen Verhandlung verbundenen Verfahren AN 17 K 17.36034, … … Dessen Klage gegen die ihn betreffende ablehnende Asylentscheidung des Bundesamtes wurde abgewiesen. Eine urkundliche Erklärung beider Elternteile vom 4. November 2019 vor dem Landratsamt … über die gemeinsame Ausübung der elterlichen Sorge liegt vor. Ihre Reiseroute führte die Klägerin eigener Aussage nach, beginnend mit der Ausreise am Grenzübergang … im Gazastreifen am 25. Februar 2019 per Bus, nach … in Ägypten und von dort aus mit dem Flugzeug nach … in Deutschland mit Ankunft am 13. März 2019. In ihrem Reisepass befand sich ein von der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Tel Aviv am 11. Februar 2019 ausgestelltes Visum gültig für den Zeitraum vom 24. Februar 2019 bis zum 24. Mai 2019 zu Studienzwecken. Am 13. September 2019 stellte die Klägerin einen Asylantrag in Deutschland.
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Das Bundesamt hörte die Klägerin am 25. September 2019 nach § 25 AsylG an. Dort gab die Klägerin an, dass es keine Probleme bei der Beantragung ihres Reisepasses in … gegeben habe. Ihre letzte Anschrift im Heimatland sei im Stadtteil „…“ in …Stadt gewesen, Straßennamen oder ähnliches hätten sie nicht. Gegenüber des ihrer Familie gehörenden Hauses befinde sich ein von ihnen als „…“ bezeichneter Turm, direkt links vom Haus sei eine „…“ Apotheke. Im Haus lebten ihre 67-jährige Mutter, einer ihrer Brüder und seine Frau mit gemeinsamem Sohn und sie selbst seit dem Kindesalter. Ihr Vater sei bereits verstorben und drei Schwestern und zwei weitere Brüder bereits ausgezogen. Eine Schwester lebe mit ihrem Ehemann seit 20 Jahren in Spanien, die beiden anderen Schwestern seien verheiratet und würden mit ihren Familien im Gazastreifen leben. Die zwei Brüder seien in den Vereinigten Arabischen Emiraten. Bevor sie nach Verlassen des Gazastreifens von … aus nach Deutschland geflogen sei, habe sie sich in Ägypten bei ihrem Onkel in der Stadt „…“ im Stadtteil „…“ in der Straße „…“ aufgehalten. Die Reise nach Deutschland habe etwa 2000 Dollar gekostet, was sie durch Arbeit und Ersparnisse finanziert habe. Sie habe Abitur und danach vier Jahre Englische Literatur an der „…“ Universität in Gaza studiert mit Abschluss. An der Universität habe sie ursprünglich auch ihren mittlerweile in Deutschland lebenden und vor ihr eingereisten heutigen Partner und Kindsvater ihres … 2020 geborenen Kindes - …, Kläger im parallel geladenen Verfahren AN 17 K 17.36034 -kennengelernt. Im Juli 2016 habe sie begonnen für drei Monate in einer technischen Firma in Dubai, die für Juristen tätig sei, zu arbeiten und Sekretariatsarbeiten übernommen, wofür sie monatlich 2000 Dollar erhalten habe. Während dieser Zeit habe sie in Dubai bei ihrem Bruder gelebt. In Gaza habe sie von März 2017 bis Oktober 2018 in einem touristischen Hotel „… …“ in der Verwaltung für 500 Dollar im Monat gearbeitet, diese Tätigkeit aber aufgrund von Problemen mit der pünktlichen Gehaltsauszahlung beendet. Daraufhin habe sie ihre Ausreise nach Deutschland vorbereitet, um hier zu studieren und ihren Magister zu machen. Ihre Mutter habe sich nach Aufgabe der Arbeit um sie gekümmert und sie versorgt. Mit der Hamas habe sie oder ihre Familie keinen persönlichen Kontakt gehabt, auch sei ihr nichts Persönliches passiert und es habe keine Probleme mit den Behörden gegeben. Allerdings habe ihr Bruder sie, seit sie in Deutschland sei, mit dem Tod bedroht. Es habe angefangen, als sie in Dubai gewesen sei. Ihre Brüder hätten versucht, sie zu verheiraten, womit sie nicht einverstanden gewesen sei. Nach der Rückkehr aus Dubai nach Gaza habe der bei ihrer Mutter lebende Bruder gesagt, sie solle heiraten und nicht alleine sein. Auch ihre Onkel hätten das gesagt. Sie sei mehrere Male gefragt worden und es sei zum Beispiel auch eine ihren Brüdern und Onkeln väterlicherseits bekannte Familie gekommen, die um ihre Hand angehalten habe. Sie habe sich verweigert und ihren Wunsch weiter zu studieren geäußert. Wegen ihrer Verweigerung habe ihr Bruder sie geschlagen und auch ihre Onkel hätten sie Ende Sommer 2018 schlagen wollen, allerdings sei ihre Mutter dazwischen gegangen, worauf diese und sie selbst beleidigt und bedroht worden seien. Im Nachgang dieser Auseinandersetzung sei ihre Mutter zwei Mal geschlagen worden, worauf die Klägerin zu ihr gesagt habe, dass sie ausreisen würde. Ihre Mutter habe sie verstanden und ihr heimlich, auch finanziell, bei den Ausreisevorbereitungen geholfen. Der Onkel in … mütterlicherseits habe sie zwei Wochen bei sich wohnen lassen, er sei offener und habe zu ihrer Mutter gestanden. Als Onkel mütterlicherseits habe er nach dem Tod ihres Vaters nicht die Kontrolle ausgeübt, dies falle den Onkeln väterlicherseits zu. Nach ihrer Ankunft in Deutschland sei ihre Mutter gefragt worden, wo sie - die Klägerin - denn sei und gezwungen worden, alles zu berichten. Sie habe einmal mit ihrer Mutter telefoniert und erzählt, dass sie mit jemandem zusammen sei. Ihr Bruder zuhause in Gaza habe dies mitbekommen und sei wütend geworden, weil sie mit einem Mann unverheiratet zusammen sei und dies nicht ihrer Mentalität und Lebensweise entspreche und eine Schande für die ganze Familie sei. Er würde sie umbringen. Er habe auch ihren weiteren Bruder und den Onkel väterlicherseits informiert, die ebenfalls wütend seien und sie verstoßen hätten, da sie nicht mehr zur Familie gehöre und deren Ehre verletzt sei. Sie müssten die Klägerin finden und töten. In Gaza damals habe sie auch Kopftuch getragen und habe ihre Haare nicht zeigen dürfen, was sie eigentlich ablehne, aber wegen der Aussagen der männlichen Mitglieder ihrer Familie, dass ein Mädchen ohne Kopftuch moralisch nicht gut angesehen werde, und Schlägen des Bruders und Kontrollen habe sie die Anweisungen befolgen müssen. In der Anhörung trug die Klägerin kein Kopftuch.
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Das alles sei der Grund, warum sie einen Asylantrag gestellt habe, sie würde gerne weiterstudieren und sich um ihr Kind kümmern. Mitglieder ihrer Familie hätten nicht versucht Kontakt mit ihr aufzunehmen, da sie ihre Nummer nicht hätten, sondern nur ihre Mutter. Seit Juli 2019 habe sie nach zwei Telefonaten mit ihrer Mutter, in denen sie dieser von ihrer Schwangerschaft berichtet habe, nichts mehr von ihrer Familie gehört. Bei einer Rückkehr nach Gaza könne sie nirgends hingehen, von staatlicher Seite aus werde sie nicht geschützt.
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Mit Bescheid vom 28. November 2019 erkannte das Bundesamt die Flüchtlingseigenschaft nicht zu (Ziffer 1), lehnte den Antrag auf Asylanerkennung ab (Ziffer 2), erkannte den subsidiären Schutzstatus nicht zu (Ziffer 3), stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorlägen (Ziffer 4), forderte die Klägerin auf, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe der Entscheidung und im Falle der Klageerhebung 30 Tage nach unanfechtbarem Abschluss des Asylverfahrens zu verlassen und drohte andernfalls die Abschiebung in die palästinensischen Autonomiegebiete an (Ziffer 5) und ordnete das Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG an und befristete es auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung (Ziffer 6).
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Zur Begründung führte das Bundesamt aus, dass der Klägerin mangels begründeter Furcht vor Verfolgung die Flüchtlingseigenschaft im Sinne des § 3 AsylG nicht zuzuerkennen sei. Sie habe eigenen Angaben zufolge ihr Heimatland unverfolgt verlassen und in Deutschland zu leben und zu arbeiten beabsichtigt. Die vorgetragenen Auseinandersetzungen mit den Onkeln zuletzt im Sommer 2018 stünden in keinem unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang zur Ausreise am 25. Februar 2019. Überdies erreichten sie nicht die für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach der Rechtsprechung notwendige Schwere, da die zweimaligen körperlichen Angriffe nicht mehrere Stunden am Stück gedauert hätten und keine erhebliche Verletzung zugefügt worden seien. Auch bei einer Rückkehr in die palästinensischen Autonomiegebiete sei nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit einer Verfolgung zu rechnen. Bei unverfolgt Ausgereisten müssten stichhaltige Gründe vorliegen, weshalb ihnen gleichwohl die Gefahr einer Verfolgung drohe. Der Vortrag, sie würde durch den Bruder mit dem Tod bedroht, sei nicht glaubhaft. In Gaza sei sie stets selbstständig gewesen, habe die Universität abgeschlossen, in Gaza und in Dubai gearbeitet und sei nicht zuletzt nach Deutschland ausgereist. Diesen modernen Lebensstil habe der Bruder anscheinend akzeptiert. Zwar werde nicht verkannt, dass in Gaza Berichten zufolge Frauen von männlichen Verwandten im Namen der Familienehre ermordet würden, allerdings scheine der Bruder die Religion nicht über alles gestellt und der Klägerin ein relativ liberales Leben ermöglicht zu haben. Nicht zuletzt habe sie, ohne, dass Schlimmeres passiert wäre, dem Drängen auf Heirat widerstanden. Die Todesdrohung habe der Bruder im Eifer des Gefechts ausgesprochen, es bestehe aber keine beachtliche Wahrscheinlichkeit, dass er sie in die Tat umsetzen würde. Da die Voraussetzungen des Flüchtlingsschutzes nach § 3 AsylG nicht vorlägen, sei auch die enger gefasste Asylanerkennung nach Art. 16a Abs. 1 GG abzulehnen.
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Auch die Voraussetzungen für den subsidiären Schutzstatus lägen nicht vor. Der Klägerin drohe in den palästinensischen Autonomiegebieten weder die Todesstrafe noch Folter oder eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne der § 4 Abs. 1 Nr. 1, Nr. 2 AsylG. Insofern werde auf die Ausführungen zur fehlenden Verfolgung verwiesen.
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Eine Schutzgewährung nach § 4 Abs. 1 Nr. 3 AsylG scheide ebenfalls aus, da der Klägerin keine ernsthafte individuelle Bedrohung ihres Lebens oder ihrer Unversehrtheit infolge eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts drohe. Ein solcher innerstaatlicher Konflikt bestehe in den palästinensischen Autonomiegebieten jedenfalls gegenwärtig nicht mehr. Die Auseinandersetzungen zwischen der Hamas und gemäßigteren Organisationen wie der Fatah seien nach Abschluss eines Versöhnungsabkommens weitgehend eingestellt. Hinsichtlich der Auseinandersetzung zwischen Israel und der Hamas fehle es jedenfalls an gefahrerhöhenden Umständen in der Person der Klägerin. Auch liege keine Ausnahmesituation vor, die durch einen so hohen Gefahrengrad gekennzeichnet sei, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit im betroffenen Gebiet einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre. So seien nach den gut dokumentierten Zahlen im Jahr 2014 im Gazastreifen noch 2.256 Todesfälle zu verzeichnen gewesen (einschließlich Westjordanland 2.314), davon 1.492 Zivilisten. Nach einer unbefristeten Waffenruhe am 26. August 2014 seien im Jahr 2015 noch 25 Todesfälle (einschließlich Westjordanland 183) berichtet worden. Die Zahl der Verletzten habe im Jahr 2014 im Gazastreifen bei 11.097 (einschließlich Westjordanland 17.125) gelegen, im Jahr 2015 bei 1.375 (einschließlich Westjordanland 14.925). Eine Verschlechterung der Lage zeichne sich nicht ab. Setze man die Zahlen für das Jahr 2015 ins Verhältnis zur Gesamtbevölkerung von etwa 1,8-1,9 Millionen im Gazastreifen, fehle es bei einem Verhältnis von deutlich weniger als 0,1% im Jahr auseinandersetzungsbedingt Getöteter oder Verletzter ersichtlich an der erforderlichen Dichte der willkürlichen Übergriffe für jeden dort Lebenden.
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Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 AufenthG lägen ebenso wenig vor. Eine Verletzung des Art. 3 EMRK durch Folter oder relevante unmenschliche oder erniedrigende Behandlung drohe, wie schon zu § 4 Abs. 1 Nr. 2 AsylG festgestellt, nicht. Auch lägen nicht so schlechte humanitäre Verhältnisse im Gazastreifen vor, dass die Schwelle der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK erfüllt wäre. Es gebe keine Hinweise darauf, dass die Grundbedürfnisse der Bevölkerung in den palästinensischen Autonomiegebieten unter Berücksichtigung der Unterstützung von Hilfsorganisationen nicht auf einem Niveau gesichert wären, das eine generelle Leibes- oder Lebensgefahr für die Bevölkerung ausschließt. Im Übrigen sei davon auszugehen, dass die Klägerin ihren eigenen Lebensunterhalt durch Einsatz ihrer Arbeitskraft und notfalls mit Unterstützung der Familie werde bestreiten können. Sie habe bereits vor ihrer Ausreise gearbeitet und Geld verdient, außerdem habe sie eine sehr gute schulische Bildung. Nicht zuletzt stehe ihr frei, mit ihrem Lebensgefährten zurückzukehren, so dass sie zusätzlich auf dessen Unterstützung für sich und ihr Kind zu verweisen sei. Es drohte der Klägerin auch keine individuelle Gefahr für Leib oder Leben, die zu einem Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG führen würde.
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Für eine Einreise in den Gazastreifen komme nach Angaben des Auswärtigen Amtes der Landweg über Ägypten über den Grenzübergang Rafah in Betracht, der außer an Wochenenden und islamischen Feiertagen grundsätzlich geöffnet sei.
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Somit sei die Abschiebungsandrohung gemäß § 34 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 59 AufenthG zu erlassen gewesen, die Ausreisefrist von 30 Tagen ergebe sich aus § 38 Abs. 1 AsylG. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot sei gemäß § 11 AufenthG anzuordnen gewesen, dessen Befristung auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung sei angemessen. Da der Lebensgefährte der Klägerin über kein dauerhaftes Bleiberecht verfüge und mangels ehelicher Gemeinschaft nicht Teil der Kernfamilie sei, könne er nicht fristverkürzend berücksichtigt werden. Ansonsten lägen keine schutzwürdigen Belange der Klägerin für eine Fristverkürzung vor.
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Gegen diesen Bescheid hat die Klägerin durch ihre Prozessbevollmächtigte am 16. Dezember 2019 Klage erhoben. Zur Klagebegründung führt sie aus, dass die Annahme des Bundesamts, es bestünde kein zeitlicher Zusammenhang zwischen den Auseinandersetzungen mit den Onkeln und dem Bruder der Klägerin und ihrer Ausreise, nicht zutreffe. Sie habe in ihrer Anhörung angegeben, dass es auch nach den Auseinandersetzungen im Sommer 2018 noch weitere der gleichen Art gegeben habe. Ihr Bruder sei sehr aggressiv und auch mit den Nachbarn im Streit. Dessen Versuche, sie zu verheiraten, seien unerträglich geworden, da sie bei Ablehnung körperliche Übergriffe habe fürchten müssen. Ihre Familie sei konservativ und streng gläubig. Die Beurteilung des Bundesamts, dass die durch Bruder und Onkeln erlittenen Schläge nicht die erforderliche Schwere für eine körperliche oder psychische Verletzung erreicht hätten, werde in Abrede gestellt, insbesondere da die Klägerin mehr als zwei Mal geschlagen worden sei. Selbst eine einmalige Körperverletzung stelle eine Straftat dar. Weiter sei die Schlussfolgerung des Bundesamts fraglich, dass ihr zu Hause in Gaza lebender Bruder ihren liberalen Lebensstil akzeptiert habe. Bei ihrer Arbeit in Dubai habe sie nämlich nicht selbständig alleine, sondern bei einem weiteren Bruder gewohnt. Die Einordnung der Todesdrohung ihres Bruders als im Eifer des Gefechts erfolgt und die Annahme, es bestehe keine beachtliche Wahrscheinlichkeit deren Verwirklichung, sei nicht nachzuvollziehen. Gewalt gegen Frauen herrsche im Gazastreifen in allen Gesellschaftsschichten, die Zahl der Ehrenmorde habe zugenommen. Nach Angaben der palästinensischen Nichtregierungsorganisation Women’s Centre for Legal Aid und Counselling habe es zehn Tötungen im Gazastreifen und 13 im Westjordanland gegeben, Amnesty International spreche von mindestens 28 getöteten Frauen und Mädchen. Das Handeln jeder Person einer Großfamilie stehe für diese, insbesondere vom Verhalten der Frauen hänge die Ehre der Familie ab. Die Tatsache, dass die Klägerin eine außereheliche Beziehung eingegangen sei und ein Kind bekomme, erledige sich nicht durch ihren Aufenthalt in Deutschland. Bei Rückkehr bekomme sie die Strafe in aller Härte zu spüren. Schutz vor den Todesdrohungen habe sie im Gazastreifen von der Hamas nicht zu erwarten, da auch nach deren Auffassung ihre Tötung durch die Verletzung der Familienehre gerechtfertigt sei. Eine inländische Fluchtalternative bestehe in den gesamten palästinensischen Autonomiegebieten nicht. Zumindest liege ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG und Art. 3 EMRK vor.
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Die Klägerin beantragt,
- 1.
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den Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 28. November 2019 aufzuheben,
- 2.
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das Bundesamt zu verpflichten, die Klägerin als Asylberechtigte anzuerkennen und die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 AsylG zuzuerkennen und hilfsweise subsidiären Schutz gemäß § 4 AsylG zu gewähren, weiter hilfsweise festzustellen, dass Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG vorliegen.
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Die Beklagte beantragt,
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Sie verweist zur Begründung auf den angefochtenen Bescheid.
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Das Gericht hat dieses Verfahren und das Verfahren des Lebensgefährten der Klägerin und Kindsvaters des gemeinsamen Kindes, Az. AN 17 K 17.36034, zur gemeinsamen Verhandlung verbunden. In der mündlichen Verhandlung gab die Klägerin auf Frage des Gerichts an, deshalb erst sechs Monate nach ihrer Ankunft in Deutschland einen Asylantrag gestellt zu haben, weil sie schlimme Dinge erlitten habe und hier weiter lernen und frei leben wolle. Auf die Frage, wie genau die Todesdrohung gegen sie ausgesprochen worden sei, antwortete die Klägerin, ihr Bruder habe gesagt: „Wir werden dich bei Rückkehr umbringen, dich und deinen Sohn“. Nach Rückfrage erläuterte sie, dass mit „Wir“ ihr Bruder und die Onkel väterlicherseits gemeint seien. Weitere Todesdrohungen habe sie nicht erhalten, da kein Kontakt mehr bestehe. Nur ihre Mutter verfüge über ihre Telefonnummer, gebe sie aber nicht an ihren Bruder oder Onkel heraus.
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Der Tenor der Entscheidung wurde am 11. März 2020 der Geschäftsstelle übergeben und am 4. Mai 2020 von der Klägerbevollmächtigten telefonisch abgerufen. Mit beim Verwaltungsgericht Ansbach am 12. Juni 2020 eingegangenem Schriftsatz trug die Klägerbevollmächtigte neu zur westlichen Prägung des Lebensstils der Klägerin vor.
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Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhaltes wird auf den Inhalt der in elektronischer Form beigezogenen Bundesamtsakten und der Gerichtsakten Bezug genommen. Für den Verlauf der mündlichen Verhandlung am 10. März 2020 wird auf die Sitzungsniederschrift verwiesen.
Entscheidungsgründe
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Die Klage ist zulässig, aber unbegründet. Der ablehnende Bescheid der Beklagten vom 28. November 2019 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1, Abs. 1 Satz 1 VwGO).
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Der Klägerin steht weder ein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG, noch auf Anerkennung als Asylberechtigte nach Art. 16a GG, noch auf Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus nach § 4 Abs. 1 AsylG oder auf Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu. Auch im Übrigen stößt der angegriffene Bescheid auf keine rechtlichen Bedenken.
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1. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG, weil es an einer begründeten Furcht vor Verfolgung fehlt. Daher besteht auch kein Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigte im Sinne des Art. 16a GG.
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a) Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will, oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will. Hierzu bestimmt § 3a AsylG näher die Verfolgungshandlungen, § 3b AsylG die Verfolgungsgründe, § 3c AsylG die Akteure, von denen Verfolgung ausgehen kann, § 3d AsylG die Akteure, die Schutz bieten können und § 3e AsylG den internen Schutz. Zwischen den in § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG in Verbindung mit § 3b AsylG genannten Verfolgungsgründen und den in § 3a Abs. 1, Abs. 2 AsylG als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen muss gemäß § 3a Abs. 3 AsylG eine Verknüpfung bestehen. Die Handlung muss darauf gerichtet sein, den Betroffenen gerade in Anknüpfung an einen oder mehrere Verfolgungsgründe zu treffen. Ob die Verfolgung in diesem Sinne „wegen“ eines Verfolgungsgrundes erfolgt, ist anhand ihres inhaltlichen Charakters nach der erkennbaren Gerichtetheit der Maßnahme zu beurteilen, nicht hingegen nach den subjektiven Gründen oder Motiven, die den Verfolger leiten (BVerwG, U.v. 4.7.2019 - 1 C 33/18 - NVwZ 2020, 161 Rn. 13).
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Die begründete Furcht vor Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG kann gemäß § 28 Abs. 1a AsylG auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Ausländer das Herkunftsland verlassen hat, insbesondere auch auf einem Verhalten des Ausländers, das Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung ist.
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Maßstab für die Beurteilung der Furcht des Klägers vor Verfolgung als begründet im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG ist das Vorliegen einer tatsächlichen Gefahr („real risk“) der Verfolgung. Erforderlich ist also, dass dem Kläger mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit bei einer angenommenen Rückkehr Verfolgung droht (BVerwG, U.v. 4.7.2019 - 1 C 33/18 - NVwZ 2020, 161 Rn. 15; BVerwG, U.v. 20.2.2013 - 10 C 23/12 - NVwZ 2013, 936 Rn. 32; BVerwG, U.v. 22.11.2011 - 10 C 29/10 - NVwZ 2012, 1042 Rn. 23 ff.; BVerwG, U.v. 27.4.2010 - 10 C 5/09 - NVwZ 2011, 51 Rn. 22). Die Bejahung einer solchen beachtlichen Wahrscheinlichkeit der Verfolgung setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (BVerwG, U.v. 4.7.2019 - 1 C 33/18 - NVwZ 2020, 161 Rn. 15; BVerwG, U.v. 20.2.2013 - 10 C 23/12 - NVwZ 2013, 936 Rn. 32).
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Diesbezüglich gewährt Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Qualifikations-RL) eine Beweiserleichterung: Für Vorverfolgte wird vermutet, dass ihre Furcht vor Verfolgung begründet ist. Die Vermutung ist widerleglich. Hierfür sind stichhaltige Gründe erforderlich, die dagegen sprechen, dass dem Antragsteller eine erneute derartige Verfolgung droht (BVerwG, U.v. 4.7.2019 - 1 C 33/18 - NVwZ 2020, 161 Rn. 16).
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Hinsichtlich der Geltendmachung des Verfolgungsschicksals befindet sich der Asylbewerber allerdings in einem sachtypischen Beweisnotstand, da es sich um Vorgänge außerhalb des Gastlandes handelt. Insofern ist für die nach § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO erforderliche Überzeugungsbildung den glaubhaften Erklärungen des Asylsuchenden größere Bedeutung zuzumessen als dies sonst in der Prozesspraxis bei Beteiligtenbekundungen der Fall ist (BVerwG, B.v. 29.11.1996 - 9 B 293/96 - juris Rn. 2). Das Gericht darf also keine unerfüllbaren Beweisanforderungen stellen, sondern muss sich in tatsächlich zweifelhaften Fällen mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad an Gewissheit begnügen, der Zweifeln Schweigen gebietet, auch wenn sie nicht vollends auszuschließen sind (SächsOVG, B.v. 21.9.2018 - 5 A 88/18.A - juris Rn. 4). Andererseits muss der Asylbewerber von sich aus unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt schildern. Bei erheblichen Widersprüchen oder Steigerungen im Sachvortrag kann ihm nur bei einer überzeugenden Auflösung der Unstimmigkeiten geglaubt werden (BVerwG, U.v. 12.11.1985 - 9 C 27/85 - juris Rn. 17).
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b) Unter Berücksichtigung dieses Maßstabes ist das Gericht zum maßgeblichen Zeitpunkt des Schlusses der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 AsylG) nicht davon überzeugt, dass der Klägerin im Falle einer Rückkehr in die Palästinensischen Autonomiegebiete mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG droht.
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aa) In Betracht kommt zum einen eine Verfolgung aufgrund der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe im Sinne der § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG, im Fall der Klägerin zu der der Frauen, § 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbs. 4 AsylG, durch die vorgetragene Bedrohung mit dem Tode als Verfolgungshandlung gemäß § 3a Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1, 6, Abs. 3 AsylG durch ihren Bruder und die Onkel väterlicherseits als nichtstaatliche Akteure nach § 3c Nr. 3 AsylG in Folge des Eingehens einer nichtehelichen Beziehung nach der Flucht nach Deutschland und des aus ihr hervorgegangenen Kindes. Eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe kann nämlich gemäß § 3b Abs. 1 Halbs. 4 AsylG auch vorliegen, wenn sie alleine an das Geschlecht oder die geschlechtliche Identität anknüpft. Dies kann etwa dann der Fall sein, wenn die Verfolgungsakteure Frauen und Männer unterschiedlich behandeln, sie also alleine das Geschlecht zum Maßstab ihrer Verfolgungshandlung erheben, unter anderem in der Fallgruppe der Ehrenmorde an Frauen bei außerehelichen Beziehungen und Kindern (Möller in Hofmann, Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 3b AsylG Rn. 19 ff. m.w.N.; a.A. wohl VG Göttingen, U.v. 21.4.2020 - 2 A 917/17 - juris Rn. 24 ff., allerdings für den Irak). Im Gazastreifen ist auch nicht davon auszugehen, dass im Sinne der § 3c Nr. 3, § 3d AsylG effektiver staatlicher Schutz oder Schutz durch (internationale) Parteien oder Organisationen vor Diskriminierung von und Gewalttaten gegen Frauen gewährleistet ist (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl Österreich, Länderinformationsblatt Palästinensische Gebiete - Gaza, Stand 12.9.2018, S. 21 f.).
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Letztlich kann die Frage der Zugehörigkeit der Klägerin zu einer sozialen Gruppe im Sinne der § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG als Verfolgungsgrund aber offen bleiben, da die Klägerin das Gericht bereits nicht von einer ihr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohenden Verfolgungshandlung im Sinne des § 3a AsylG überzeugen konnte, insbesondere was die vorgetragene gegen sie gerichtete telefonische Todesdrohung durch ihren Bruder und ihre Onkel anbelangt, die nach ihrer Einreise nach Deutschland erfolgt sein soll. Zwar kann gemäß § 28 Abs. 1a AsylG auch ein Nachfluchttatbestand zur Schutzgewährung führen. Allerdings ergeben die Angaben der Klägerin bei der Anhörung vor dem Bundesamt und die Schilderungen in der mündlichen Verhandlung keinen in sich stimmig vorgetragenen Verfolgungssachverhalt:
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So erfolgte die Schilderung der telefonischen Todesdrohung als ein Kerngeschehen der Verfolgung in der mündlichen Verhandlung isoliert mit nur einem Satz - „Wir [ein Bruder und die Onkel] werden dich bei Rückkehr umbringen, dich und deinen Sohn“ -, ohne dass begleitend noch der weitere Gesprächsverlauf dargestellt wurde. Überdies wirkte die Klägerin während der Fragen und ihren Aussagen zu dieser Drohung abgeklärt und in keiner Weise emotional ergriffen. Nicht plausibel ist in diesem Zusammenhang auch die Angabe der Klägerin, dass nach dem besagten Telefonat im Juli 2019 keine weiteren Drohungen durch den Bruder und die Onkel erfolgt seien, weil diese nicht über ihre Telefonnummer verfügten. Diese habe nur ihre Mutter und gebe sie nicht an andere Familienmitglieder heraus. Andererseits berichtete die Klägerin in ihrer Anhörung vor dem Bundesamt von einem patriarchalisch geprägten Familienumfeld, insbesondere durch den bei der Mutter lebenden Bruder und die Onkel väterlicherseits, in dem sowohl sie als auch ihre Mutter mehrfach beleidigt, bedroht und geschlagen worden seien. Dass die Mutter der Klägerin unter diesen Umständen dauerhaft in der Lage ist, die ihr bekannten Kontaktdaten der Tochter zurückzuhalten, erscheint nicht glaubhaft. Schließlich wurde sie den Angaben der Klägerin vor dem Bundesamt nach bereits gezwungen, den Aufenthaltsort der Klägerin nach deren Ausreise nach Deutschland bekannt zu geben und tat dies auch.
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Des Weiteren spricht auch das Verhalten der Klägerin nach dem behaupteten Erhalt der telefonischen Todesdrohung im Juli 2019 gegen eine mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohende Verfolgung. Die Stellung des Asylantrages erfolgte erst am 13. September 2019, also etwa zwei Monate nach der vorgetragenen Bedrohung.
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bb) Auch hinsichtlich der vorgetragenen, bezüglich Häufigkeit und Intensität nicht näher spezifizierten Schläge und angedrohten Schläge durch den bei der Mutter lebenden Bruder der Klägerin, hauptsächlich wegen der Ablehnung einer Heirat durch die Klägerin noch während ihrer Zeit im Gazastreifen, wird deren Glaubwürdigkeit durch die späte Asylantragsstellung erschüttert. Die Klägerin reiste am 13. März 2019 nach Deutschland ein, stellte aber erst am 13. September 2019, sprich ein halbes Jahr später, einen Asylantrag. Selbst wenn man zu Grunde legt, dass sie über ein vom 24. Februar 2019 bis 24. Mai 2019 gültiges Visum verfügte, sind dies nach Ablauf dessen Gültigkeit immer noch etwa vier Monate bis zur Stellung des Asylantrages. Ihre Angabe in der mündlichen Verhandlung, dass sie den Asylantrag deshalb so spät gestellt habe, weil sie schlimme Dinge erlitten habe und frei leben wollte, sowie in Deutschland einen neuen Lebenspartner kennengelernt habe, von dem sie auch schwanger geworden sei, vermag die verstrichenen langen Zeiträume nicht zu erklären. Gerade durch den Asylantrag wird, bei positiver Verbescheidung, das gewünschte freie Leben im Zielstaat ermöglicht. Hinsichtlich der Schwangerschaft wurden durch die Klägerin keine gesundheitlichen Beschwerden geschildert, die eine etwaige Verzögerung bei der Antragstellung erklären könnten. Zu dem tritt, dass die Klägerin, ihrer Angabe vor dem Bundesamt nach, den Asylantrag wegen der erst nach ihrer Einreise nach Deutschland erfolgten telefonischen Todesdrohung durch ihren Bruder gestellt hat, nicht aber aufgrund der vorgetragenen (angedrohten) Schläge noch während ihrer Zeit im Gazastreifen. All dies spricht gegen einen asylrelevanten Ausreisegrund und gegen eine tatsächliche und empfundene Notsituation im asylrechtlichen Sinne.
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Davon abgesehen erfordert der Vortrag einer die Flüchtlingseigenschaft begründenden Verfolgungshandlung im Sinne der § 3a AsylG, dass sie auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend ist, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellt, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 der EMRK keine Abweichung zulässig ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG) oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, besteht, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG). Als Verfolgung im Sinne des § 3a Abs. 1 AsylG kann nach § 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt, und gemäß § 3a Abs. 2 Nr. 6 AsylG auch eine Handlung, die an die Geschlechtszugehörigkeit anknüpft, gelten. Angesichts des Wortlautes des § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG, der eine schwerwiegende Verletzung grundlegender Menschenrechte fordert, der Bezugnahme des § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG auf Art. 15 Abs. 2 EMRK und das dort genannte Recht auf Leben nach Art. 2 EMRK sowie des Verbots der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung nach Art. 3 EMRK und der Tatsache, dass die durch die Menschenrechte geschützten Rechtsgüter und Interessen breit gefasst sind, ist es überzeugend, eine Verfolgungshandlung im Sinne des § 3a AsylG nur bei einer schwerwiegenden Verletzung grundlegender Menschenrechte zu bejahen und nicht jede Menschenrechtsverletzung genügen zu lassen (Kluth in BeckOK Ausländerrecht, 25. Edition Stand 1.3.2020, § 3a AsylG Rn. 5 f.). Maßgeblich ist, wie gravierend die Maßnahmen unter Berücksichtigung der persönlichen Umstände sind, die gegenüber dem Betroffenen ergriffen werden (EuGH, U.v. 5.9.2012 - Y + Z, C-71/11, C-99/11 - NVwZ 2012, 1612 Rn. 66, 68). Für eine Verletzung des Art. 3 EMRK verlangt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte bei Misshandlungen ein Mindestmaß an Schwere und hat eine unmenschliche Behandlung etwa dann bejaht, „wenn sie vorsätzlich erfolgte, über Stunden ohne Unterbrechung angewendet wurde und entweder eine tatsächliche Körperverletzung oder starkes körperliches und seelisches Leiden verursachte. Eine Behandlung wurde dann als „erniedrigend“ erachtet, wenn sie bei den Opfern Gefühle der Angst, Qual und Unterlegenheit hervorrief, die geeignet waren, sie zu demütigen und zu entwürdigen und möglicherweise ihren körperlichen oder moralischen Widerstand zu brechen“ (EGMR, U.v. 7.7.2011 - 20999/05 - juris Rn. 51).
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Diesen Maßstab zu Grunde gelegt, genügte der klägerische Vortrag, nicht den genannten Anforderungen, weil er zu oberflächlich und detailarm ist. Die Klägerin berichtete zwar von Schlägen durch ihren Bruder und angedrohten Schlägen durch die Onkel väterlicherseits, letzteres Ende des Sommers 2018. Allerdings fehlt es an Angaben zur genaueren zeitlichen Einordnung und vor allem zur Intensität etwaiger Schläge, insbesondere, ob die Klägerin körperliche Verletzungen erlitten hat. Die Einordnung als „schwerwiegende Verletzung grundlegender Menschenrechte“ im Sinne des § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG erfordert mehr als die abstrakte Angabe von Schlägen. Dabei ist ausdrücklich nicht erforderlich, dass eine Verletzung des Art. 3 EMRK und dessen hoher tatbestandlicher Hürden vorliegt, da § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG diesen über Art. 15 Abs. 2 EMRK nur „insbesondere“ in Bezug nimmt. Allerdings bleibt es gemäß § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG, unabhängig von Art. 3 EMRK, beim Erfordernis der schwerwiegenden Verletzung grundlegender Menschenrechte, welches durch einen entsprechenden Vortrag der Klägerin ausgefüllt sein müsste. Aufgrund des insoweit unzureichenden Vortrages scheidet auch § 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG aus, da keine Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen dargelegt ist, die so gravierend ist, dass die Klägerin in ähnlicher wie der in § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG beschrieben Weise betroffen ist.
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cc) Ebenso wenig kommt mangels eines das Gericht überzeugenden Vortrags eine mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohende Verfolgung aufgrund einer verfestigten westlichen Prägung der Identität der Klägerin in Betracht. Zwar ist grundsätzlich die Möglichkeit einer drohenden Verfolgung bei Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe von Frauen, deren Identität aufgrund eines längeren Aufenthalts in Europa so stark westlich geprägt ist, dass sie entweder nicht mehr in der Lage wären, bei einer Rückkehr in ein islamisch geprägtes Land ihren Lebensstil den dort herrschenden Verhaltensweisen und Traditionen anzupassen oder denen dies infolge des erlangten Grades ihrer westlichen Identitätsprägung nicht mehr zugemutet werden kann, in Teilen der Rechtsprechung anerkannt (etwa NdsOVG, U.v. 21.9.2015 - 9 LB 20/14 - juris Rn. 26 ff.; vgl. auch VG Karlsruhe, U.v. 26.9.2019 - A 19 K 3124/17 - Ls. 2, allerdings zu einer religiös motivierten Verfolgung; Möller in Hofmann, Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 3b AsylG Rn. 18 ff.). Allerdings ist ein westlicher Lebensstil, wenn man dieser Meinung folgen würde, nur beachtlich, wenn er die betreffende Frau maßgeblich prägt, also auf einer ernsthaften und nachhaltigen inneren Überzeugung beruht und die Aufgabe dieser Lebenseinstellung nicht mehr möglich oder zumutbar ist (NdsOVG, a.a.O. Rn. 38).
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Da die Klägerin eigenen Angaben nach im Gazastreifen bereits ein Studium abgeschlossen hat und auch selbstständig, sogar außerhalb des Gazastreifens in Saudi-Arabien, gearbeitet hat, können die Aspekte der Bildung und der Erwerbstätigkeit kein Zeichen einer einen Verfolgungsgrund bildenden westlichen Prägung sein, weil die Klägerin diesbezüglich schon nichts aufgeben müsste.
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Hinsichtlich des in Deutschland, zumindest bei der Anhörung vor dem Bundesamt und in der mündlichen Verhandlung nicht mehr getragenen Kopftuches, erfolgte kein ausreichender Vortrag für eine diesbezügliche Identitätsprägung, deren Aufgabe unzumutbar ist. Der gesteigerte, nach Schluss der mündlichen Verhandlung am 10. März 2020 erfolgte Vortrag mit am 12. Juni 2020 beim Verwaltungsgericht Ansbach per Fax eingegangenem Schriftsatz konnte für die Entscheidung nicht mehr berücksichtigt werden. Der am 11. März 2020 der Geschäftsstelle übergebene Entscheidungstenor wurde durch die Klägerbevollmächtigte telefonisch am 4. Mai 2020 abgerufen. Damit ist gemäß § 173 S. 1 VwGO i.V.m. § 318 ZPO Bindungswirkung eingetreten (Kopp/Schenke, VwGO, 25. Aufl. 2019, § 116 Rn. 3; Kraft in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 116 Rn. 16, 23, 28, jeweils m.w.N.).
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c) Mangels drohender Verfolgung im Sinne des § 3 AsylG scheidet auch die Anerkennung als Asylberechtigte nach Art. 16a GG aus.
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2. Der Klägerin hat keinen Anspruch auf Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 4 AsylG.
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Nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG ist der Ausländer subsidiär schutzberechtigt, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AsylG die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe, gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG Folter oder un-menschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung oder gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen be-waffneten Konflikts.
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a) Die Verhängung oder die Vollstreckung der Todesstrafe (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AsylG) droht der Klägerin nicht. Zwar wurde laut mehrerer Erkenntnismittel in den Jahren 2017 und 2018 im Gazastreifen die Todesstrafe verhängt und vollstreckt (Amnesty International, Human Rights in the Middle East and North Africa: Review in 2018, Palestine, Stand 26.2.2019, S. 3: Zwölf Mal verhängt in 2018; Amnesty International, Report Palästina 2017/18, Stand 23. Mai 2018, S. 5 f.: Sechs Mal verhängt und vollstreckt in 2017; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Palästinensische Gebiete - Gaza, Stand 12.9.2018, S. 21: Anstieg der Todesurteile auf 31 im Jahr 2017, sechs Vollstreckungen im Jahr 2017; hingegen werden keine Hinrichtungen für das Jahr 2019 vermeldet: Human Rights Watch, World Report 2020 - Israel and Palestine, S. 3).
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Allerdings sind keine Gründe ersichtlich oder glaubhaft vorgetragen, dass der Klägerin bei Rückkehr in den Gazastreifen die Verhängung und gegebenenfalls Vollstreckung der Todesstrafe droht. Die Todesdrohung durch den Bruder der Klägerin und ihre Onkel väterlicherseits wurde unter 1. b) aa) als nicht glaubhaft eingestuft, überdies fielen Tötungen durch nichtstaatliche Akteure nicht unter § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AsylG (Kluth in in BeckOK Ausländerrecht, 25. Edition Stand 1.3.2020, § 4 AsylG Rn. 9).
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b) Auch droht der Klägerin keine Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG) bei einer angenommenen Rückkehr in den Gazastreifen. Wie ausgeführt wird die Todesdrohung gegen die Klägerin als nicht glaubhaft eingestuft. Gleiches gilt für die (angedrohten) Schläge durch den Bruder und die Onkel väterlicherseits, die im Übrigen, den Vortrag als wahr unterstellt, nicht die Schwelle der Folter oder unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung im Sinne des Art. 3 EMRK erreichen würden (s.o. 1. b) bb).
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c) Ebenso wenig ist die Klägerin einer ernsthaften individuellen Bedrohung ihres Lebens oder ihrer Unversehrtheit als Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts ausgesetzt (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG).
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aa) Ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG und Art. 15 Buchst. c der Qualifikations-RL 2011/95/EU liegt bereits tatsächlich nicht vor, da sich die den Gazastreifen beherrschende Hamas und die in der Westbank regierende Fatah nach früheren gewaltsamen Auseinandersetzungen am 23. März 2014 auf die Bildung einer Einheitsregierung geeinigt haben, die der erste Schritt auf dem Weg zu einer Aussöhnung sein sollte. Die für Anfang 2015 angedachten Präsidentschafts- und Parlamentswahlen fanden jedoch bislang nicht statt. Am 12. Oktober 2017 folgte ein weiteres Versöhnungsabkommen zwischen Hamas und Fatah. Nachdem der Premier der Einheitsregierung, Rami Hamdalla, bei einem Besuch im Gazastreifen beinahe Opfer eines Attentats geworden wäre, fror die Fatah die Finanzen für den Gazastreifen ein und forderte die Übergabe der Sicherheitsverantwortung für den Gazastreifen, was die Hamas ablehnte. Zwar stagnieren die Versöhnungsbemühungen derzeit, gleichwohl wird nicht von einem Wiederaufflammen gewaltsamer Auseinandersetzungen zwischen Hamas und Fatah berichtet (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Palästinensische Gebiete - Gaza, Stand 12.9.2018, S. 6 ff.).
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Schwieriger ist die Frage nach dem Vorliegen eines bewaffneten internationalen Konflikts im Sinne der § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG und Art. 15 Buchst. c der Qualifikations-RL 2011/95/EU zwischen Israel und Palästina, beziehungsweise der den Gazastreifen beherrschenden Hamas, zu beantworten. Zwar wurden im Jahr 2019, Stand November, 1378 Raketen durch bewaffnete palästinensische Gruppen aus dem Gazastreifen auf Israel abgeschossen und bei Angriffen vier israelische Zivilisten getötet und 123 verletzt (Human Rights Watch, World Report 2020 - Israel and Palestine, S. 3 Druckversion). Umgekehrt kamen beim Einsatz tödlicher Gewalt durch die israelischen Streitkräfte im Gazastreifen 2019 108 Palästinenser ums Leben und wurden 11.845 verletzt (UN OCHA, Protection of Civilians Report, 24.12.2019 - 6.1.2020), so dass in tatsächlicher Hinsicht ein bewaffneter Konflikt bejaht werden könnte, was offen bleiben kann. Ob es, bei unterstelltem Vorliegen eines bewaffneten Konfliktes, auch ein internationaler bewaffneter Konflikt wäre, der zumindest in Anlehnung an den gleichlautenden Art. 2 Abs. 1 der vier Genfer Abkommen vom 12. August 1949 (im Einzelnen Weber in Creifelds, Rechtswörterbuch, 23. Edition 2019, Stichwort Genfer Konventionen) als Krieg oder bewaffneter Konflikt mindestens zweier Staaten definiert werden kann (Dietz, Ausländer- und Asylrecht, 3. Aufl. 2020, Rn. 384), erscheint zum einen mit Blick auf die völkerrechtlich umstrittene Einordnung Palästinas als Staat problematisch (gegen eine Staatlichkeit etwa Benoliel/Perry, Israel, Palestine and the ICC, Michigan Journal of International Law 2010, S. 73 (79 ff.); dafür etwa Quigley, Michigan Journal of International Law 2011, S. 749; weitere Nachweise zum Streitstand bei Stegmiller, ZaöRV 2015, 435, 438 ff., Fn. 7). Zum anderen stellt der Gazastreifen neben dem Westjordanland nur einen Teil Palästinas dar, der nur de facto durch die Hamas beherrscht wird, obschon an sich für Gesamt-Palästina eine Einheitsregierung, getragen durch die Hamas und die das Westjordanland kontrollierende Fatah, die Exekutivgewalt innehaben soll (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Palästinensische Gebiete - Gaza, Stand 12.9.2018, S. 6 ff.). Hingegen drängt der Europäische Gerichtshof jedenfalls für den innerstaatlichen bewaffneten Konflikt im Sinne des Art. 15 Buchst. c der Qualifikations-RL 2011/95/EU eine völkerrechtliche Auslegung zurück und betont den im betreffenden Gebiet herrschenden Grad an Gewalt als maßgebliches Kriterium (EuGH, U.v. 30.1.2014 - Diakité, C-285/12 - NVwZ 2014, 573 Leitsatz und Rn. 35). Eine Übertragung dieser Wertung auch auf den internationalen bewaffneten Konflikt liegt zumindest nahe.
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bb) Jedoch kann die Frage nach dem Vorliegen eines internationalen bewaffneten Konflikts im Sinne der § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG und Art. 15 Buchst. c der Qualifikations-RL 2011/95/EU zwischen Israel und Palästina, respektive der den Gazastreifen beherrschenden Hamas, offen-bleiben. Denn es fehlt jedenfalls an einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit der Klägerin als Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt.
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Die ernsthafte individuelle Bedrohung setzt nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zu Art. 15 Buchst. c der Qualifikations-RL 2011/95/EU nicht zwingend voraus, dass die subsidiären Schutz begehrende Person beweist, dass sie auf Grund ihrer persönlichen Situation innewohnenden Umständen spezifisch betroffen ist. Das Vorliegen einer solchen Bedrohung kann vielmehr ausnahmsweise auch dann angenommen werden, wenn der den bewaffneten Konflikt kennzeichnende Grad willkürlicher Gewalt ein so hohes Niveau erreicht, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass eine Zivilperson bei Rückkehr in das Herkunftsland oder gegebenenfalls in die betroffene Region allein durch ihre Anwesenheit in diesem Gebiet tatsächlich Gefahr liefe, einer solchen Bedrohung ausgesetzt zu sein (EuGH, U.v. 17.2.2009 - Elgafaji, C-465/07 - NVwZ 2009, 705, Leitsatz und Rn. 33 ff.; EuGH, U.v. 30.1.2014 - Diakité, C-285/12 - NVwZ 2014, 573 Rn. 30; s.a. BVerwG, U.v. 14.7.2009 - 10 C 9/08 - NVwZ 2010, 196 Rn. 13 ff.: „Verdichtung der allgemeinen Gefahr“).
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In der Person der Klägerin selbst liegen keine individuellen gefahrerhöhenden Umstände vor. So ist sie insbesondere keinen berufstypisch bedingten sachlichen oder örtlichen Gefährdungen ausgesetzt.
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Auch weist der Konflikt zwischen Israel und der Hamas kein so hohes Niveau an willkürlicher Gewalt auf, dass die Klägerin bereits alleine durch ihre Anwesenheit im Gazastreifen oder in Gaza-Stadt ernsthaft und individuell bedroht wäre und sich die allgemeine Gefahr in ihrer Person zum beachtlichen Risiko verdichten würde (BVerwG, U.v. 14.7.2009 - 10 C 9/08 - NVwZ 2010, 196 Rn. 13). Zur Ermittlung der Gefahrendichte in der Herkunftsregion der Klägerin sind jedenfalls näherungsweise quantitative Feststellungen zur Gesamtzahl der in dem betreffenden Gebiet lebenden Zivilpersonen und der Akte willkürlicher Gewalt, die von den Konfliktparteien gegen Leib und Leben dieser Zivilpersonen verübt werden, zu treffen, sowie schließlich eine wertende Gesamtbetrachtung mit Blick auf die Anzahl der Opfer und die Schwere der Schädigungen (Todesfälle und Verletzungen) bei der Zivilbevölkerung vorzunehmen. Insoweit können auch die Kriterien zur Feststellung einer Gruppenverfolgung des Flüchtlingsrechts herangezogen werden (BVerwG, U.v. 27.4.2010 - 10 C 4/09 - NVwZ 2011, 56 Rn. 33; Bergmann in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 4 AsylG Rn. 16). Das Bundesverwaltungsgericht hat in seinem Urteil vom 17.11.2011 (10 C 13/10 - NVwZ 2012, 454 Rn. 22 f.) ein Risiko für eine Zivilperson, im Zuge eines bewaffneten Konflikts verletzt oder getötet zu werden, von 1:800 auf Jahresbasis als „so weit von der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entfernt [angesehen], dass sich der Mangel im Ergebnis nicht auszuwirken vermag“.
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Diesen Maßstab zugrunde gelegt liegt keine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit der Klägerin im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG alleine durch ihre Anwesenheit im Gazastreifen beziehungsweise in Gaza-Stadt vor.
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Im Jahr 2019 wurden im Gazastreifen durch israelische Kräfte 108 Palästinenser getötet und 11.845 verletzt. Ein Jahr zuvor, 2018, waren 260 getötete und 25.177 verletzte Palästinenser zu verzeichnen (UN OCHA, Protection of Civilians Report, 24.12.2019 - 6.1.2020). Daraus ergibt sich bei einer Bevölkerungszahl im Gazastreifen von etwa 1,9 Millionen (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Palästinensische Gebiete - Gaza, Stand 12.9.2018, S. 7), wenn man unterstellt, dass sämtliche Opfer keine Kombattanten waren, für palästinensische Zivilisten im Gazastreifen ein Risiko durch israelische Streitkräfte getötet oder verletzt zu werden von etwa 1,3% im Jahr 2018 und von etwa 0,6% im Jahr 2019. Betrachtet man nur die Zahlen für das Gouvernement Gaza, in dem die Heimatstadt der Klägerin, Gaza-Stadt, liegt, so sind im Jahr 2019 etwa 28 Tote und 2138 Verletzte festzustellen, im Jahr 2018 etwa 52 Tote und 6537 Verletzte (UN OCHA, Data on Casualties, interaktive online abrufbare Grafik: https://www.ochaopt.org/data/casualties). Bei einer ungefähren Einwohnerzahl von 625.000 im Gouvernement Gaza ergibt sich für das Jahr 2019 ein Risiko dort durch israelische Streitkräfte getötet oder verletzt zu werden von etwa 0,35%, für das Jahr 2018 von etwa 1,05%. Damit liegen sämtliche Werte deutlich über dem genannten Verhältnis von 1:800 (0,125%), allerdings handelt es sich dabei um keinen starren Richtwert des Bundesverwaltungsgerichts dergestalt, dass bei einem Überschreiten automatisch eine ernsthafte individuelle Bedrohung im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG anzunehmen wäre. Zum einen sah das Bundesverwaltungsgericht ein Risiko von 1:800 als weit weg von der Schwelle der Erheblichkeit an (BVerwG, U.v. 17.11.2011 - 10 C 13/10 - NVwZ 2012, 454 Rn. 22 f.), weshalb ein Überschreiten dieses Wertes nicht sogleich zur Erheblichkeit führt. Zum anderen ist die quantitative Betrachtung, wie oben bereits ausgeführt, in eine wertende (qualitative) Gesamtbetrachtung einzubetten. Dabei ist zunächst zu berücksichtigen, dass das Risiko getötet zu werden für den gesamten Gazastreifen weit unterhalb der genannten Werte liegt, nämlich für das Jahr 2018 bei etwa 0,014% und für das Jahr 2019 bei etwa 0,006%, sprich die Gefahr (nicht tödlich) verletzt zu werden, im Vordergrund steht. Ähnliche Zahlen ergeben sich, wenn man nur das Gouvernement Gaza betrachtet. Im Jahr 2018 lag das Risiko dort im Zuge des Konflikts zwischen Israel und der Hamas getötet zu werden bei etwa 0,008%, im Jahr 2019 bei 0,004%. Des Weiteren steht das Risiko getötet oder verletzt zu werden in signifikantem Zusammenhang mit den Massenprotesten („Great March of Return“) am Grenzzaun zwischen dem Gazastreifen und Israel. Der Bau des Grenzzauns durch Israel begann 1994. Nachdem er im Jahr 2000 im Zuge der zweiten Intifada angegriffen wurde, ersetzte Israel den Zaun durch eine Sicherheitsbarriere mitsamt einer Pufferzone im Bereich des Gazastreifens, die bis zu 300 Metern breit sein kann und variabel festgelegt wird. In sie darf nach israelischen Einsatzregeln scharf hineingeschossen werden (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Palästinensische Gebiete - Gaza, Stand 12.9.2018, S. 10). Die Proteste („Great March of Return“) an dieser Grenzanlage zu Israel begannen am 30. März 2018 (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Palästinensische Gebiete - Gaza, Stand 12.9.2018, S. 10) und zielen auf ein Rückkehrrecht vertriebener Palästinenser in heute zum israelischen Staat gehörende Gebiete sowie die Blockade des Gazastreifens durch Israel (Amnesty International, Human Rights in the Middle East and North Africa: Review of 2018 - Israel and the Occupied Palestinian Territories, Stand 26. Februar 2019, S. 2). Zwar wurden die Proteste am 26. Dezember 2019 durch das Organisationskomitee ausgesetzt, allerdings nur bis zum 30. März 2020, dem zweiten Jahrestag des Protestbeginns. Danach sollen sie auf monatlicher Basis und auch als Adhoc Proteste fortgeführt werden (UN OCHA, Protection of Civilians Report, 24.12.2019 - 6.1.2020). Im Rahmen der Grenzproteste kommt es zu gewaltsamen Konfrontationen mit Todesopfern zwischen der israelischen Armee und den Demonstranten, wobei inzwischen von einer Kontrolle der Proteste durch die Hamas auszugehen ist, die zur Gewaltausübung animiert (United States Department of State, Country Report on Human Rights Practices 2018 - West Bank and Gaza, S. 1 [S. 61 d. Gesamtversion zu Israel, Golan Heights, West Bank and Gaza]; s.a. United Kingdom Home Office, Country Policy and Information Note, Occupied Palestinian Territories, Stand Dezember 2018, S. 15: Die Hamas hat eingeräumt, dass eigene Mitglieder bei den Protesten getötet wurden). Etwa werden seitens der Palästinenser mit Brandsätzen ausgestattete Drachen und Molotov-Cocktails eingesetzt (Amnesty International, Human Rights in the Middle East and North Africa: Review of 2018 - Israel and the Occupied Palestinian Territories, Stand 26. Februar 2019, S. 2; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Palästinensische Gebiete - Gaza, Stand 12.9.2018, S. 10).
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So wurden im Zuge der Grenzproteste im Jahr 2019 33 Palästinenser getötet und 11.523 verletzt, bei einer Gesamtzahl im Gazastreifen getöteter Palästinenser in 2019 von 108 und einer Gesamtzahl verletzter Palästinenser in 2019 von 11.845 (UN OCHA, Protection of Civilians Report, 24.12.2019 - 6.1.2020). Fasst man die Jahre 2018 und 2019 zusammen, so liegt die Zahl der bei den Protesten am Grenzzaun getöteten Palästinenser seit deren Beginn am 30. März 2018 bei 212, die der Verletzten bei 36.134, bei einer Gesamtzahl getöteter Palästinenser im Gazastreifen in 2018 und 2019 von insgesamt 368 und einer Gesamtzahl verletzter Palästinenser von 37.022 (UN OCHA, Protection of Civilians Report, 24.12.2019 - 6.1.2020). Bei einer wertenden Betrachtung zeigt sich somit, dass zwar das Risiko durch israelische Streitkräfte getötet, insbesondere aber verletzt zu werden, vor allem in der Nähe des Grenzzauns zu Israel und in Zusammenhang mit dem „Great March of Return“ erhöht ist, jedoch nicht auf den Gazastreifen als Ganzes bezogen. Gerade das erhöhte Verletzungsrisiko, welches erst die Signifikanz des Gesamtrisikos verletzt oder getötet werden mit Blick auf § 4 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 AsylG begründet, ist nahezu vollständig auf die Auseinandersetzungen anlässlich der Zaunproteste zurückzuführen und somit räumlich isoliert. Lässt man die bei den Grenzzaunprotesten Getöteten und Verletzten bei der Betrachtung außen vor, bleiben für den gesamten Gazastreifen im Jahr 2019 75 Tote und 322 Verletzte. Selbst wenn man zugunsten der Klägerin diese Opferzahl allein dem Gouvernement Gaza, in dem Gaza-Stadt liegt, als ihrer Herkunftsregion zuordnen würde, ergibt sich ein Risiko, Schaden an Leib oder Leben zu erleiden, das weit unterhalb der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit liegt. Bei einer Einwohnerzahl im Gouvernement Gaza von etwa 625.000 liegt das Risiko durch israelische Streitkräfte verletzt oder getötet zu werden unter Zugrundelegung dessen bei ca. 0,052% (verletzt) beziehungsweise 0,012% (getötet) im Jahr 2019.
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Insofern muss sich die Klägerin darauf verweisen lassen, sich nicht unmittelbar in die Pufferzone zum Grenzzaun hin zu begeben, beziehungsweise jedenfalls innerhalb des Gazastreifens mit größerem Abstand zur Grenze als ihr Heimatort Gaza-Stadt Schutz zu suchen, etwa in den größeren Städten Khan Yunes oder Rafah im Süden des Gazastreifens an der Grenze zu Ägypten. Die Hamas unterbindet die interne Bewegungsfreiheit im Gazastreifen, von wenigen Ausnahmen abgesehen, nicht (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Palästinensische Gebiete - Gaza, Stand 12.9.2018, S. 23). Dies ergibt sich auch aus den Regelungen zur inländischen Fluchtalternative des § 4 Abs. 3 i.V.m. § 3e AsylG, die dem Ausländer grundsätzlich zumuten, in einem Teil seines Herkunftslandes Aufenthalt zu nehmen, in dem ihm keine tatsächliche Gefahr eines ernsthaften Schadens droht (§ 3e Abs. 1 Nr. 1 AsylG), in den er sicher und legal reisen kann, in dem er aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (§ 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG, vgl. hierzu auch die Ausführungen unter 3.).
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3. Auch besteht kein nationales Abschiebungsverbot zugunsten der Klägerin.
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a) Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Die Abschiebung ist nach der EMRK insbesondere dann unzulässig, wenn dem Kläger in der Zielregion eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK droht. Schlechte humanitäre Verhältnisse im Zielland rechtfertigen nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) nur ausnahmsweise ein Abschiebungsverbot. Denn Art. 3 EMRK kann, so der EGMR, nicht dahin ausgelegt werden, dass er die Vertragsstaaten dazu verpflichtet, allen ihrer Hoheitsgewalt unterstehenden Personen eine Unterkunft oder finanzielle Unterstützung zu gewähren, damit sie einen gewissen Lebensstandard haben (EGMR, U.v. 21.1.2011 - M.S.S./Belgien u. Griechenland, 30696/09 - NVwZ 2011, 413 Rn. 249; s.a. BVerwG, B.v. 8.8.2018 - 1 B 25/18 - NVwZ 2019, 61 Rn. 10). Gleichwohl ist eine Verantwortlichkeit nach Art. 3 EMRK nicht ausgeschlossen, wenn eine vollständig von staatlicher Unterstützung abhängige Person, die behördlicher Gleichgültigkeit gegenübersteht, sich in so ernsthafter Armut und Bedürftigkeit befindet, dass dies mit der Menschenwürde unvereinbar ist (EGMR, U.v. 21.1.2011 - M.S.S./Belgien u. Griechenland, 30696/09 - NVwZ 2011, 413 Rn. 253). Zudem muss die unmenschliche oder erniedrigende Behandlung ein Mindestmaß an Schwere erreichen. Dessen Beurteilung ist relativ und hängt von den jeweiligen Umständen des Einzelfalls ab, etwa der Dauer der erniedrigenden Behandlung, ihren physischen und psychischen Wirkungen, sowie von Geschlecht, Alter und Gesundheitszustand des Ausländers (EGMR, U.v. 21.1.2011 - M.S.S./Belgien u. Griechenland, 30696/09 - NVwZ 2011, 413 Rn. 219; s.a. EGMR, U.v. 13.12.2015 - Paposhvili/Belgien, 41738/10 - NVwZ 2017, 1187 Rn. 174).
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Hinsichtlich der Rückkehrperspektive im Rahmen des § 60 Abs. 5 AufenthG ist für die Klägerin nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts von einer gemeinsamen Rückkehr als Kernfamilie auszugehen, zusammen mit ihrem Lebensgefährten und Kindsvater sowie mit dem gemeinsamen, … 2020 in Deutschland geborenen Kind. Zwischen Vater, Mutter und Kind liegt auch eine gelebte familiäre Gemeinschaft vor. Zum einen liegt eine urkundliche Erklärung beider Elternteile vom 4. November 2019 vor dem Landratsamt … über die gemeinsame Ausübung der elterlichen Sorge vor. Zum anderen lebten die Klägerin und ihr Lebensgefährte zwar zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung noch nicht zusammen, was allerdings der Zuweisung der Klägerin mit Bescheid der Regierung … vom 5. Dezember 2019 zur Unterkunft in der … Straße … in … geschuldet war, die immerhin am Wohnort ihres Lebensgefährten liegt. Des Weiteren äußerte der Lebensgefährte der Klägerin in der zur gemeinsamen Verhandlung verbundenen mündlichen Verhandlung (Az. des Verfahrens des Lebensgefährten: AN 17 K 17.36034), dass sich beide vorstellten, in Zukunft zusammenwohnen und gegebenenfalls heiraten zu wollen. Zudem sei bereits ein Antrag der Klägerin auf Auszug in eine gemeinsame Privatwohnung gestellt worden. Auch die Klägerin gab an zu planen mit ihrem Lebensgefährten zusammenzuleben. Die Klage des ebenfalls aus dem Gazastreifen stammenden Lebensgefährten der Klägerin (Az. AN 17 K 17.36034) gegen den ablehnenden Asylbescheid des Bundesamtes wurde ebenso wie die der Klägerin abgewiesen. Davon abgesehen wäre nach der neuen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts wohl selbst dann auf eine gemeinsame Rückkehrperspektive abzustellen, wenn einem Mitglied der Kernfamilie bereits Schutzstatus zuerkannt oder ein nationales Abschiebungsverbot festgestellt worden wäre (zum Ganzen BVerwG, U.v. 4.7.2019 - 1 C 45/18 - NVwZ 2020, 158 Ls. 2, 3, Rn. 15 ff.).
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Unter Berücksichtigung der Rückkehrperspektive als Familie sind die oben dargelegten strengen Voraussetzungen für ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK nicht erfüllt. Zunächst sind sowohl die Klägerin als auch ihr Lebensgefährte und Kindsvater jung (Geburtsjahr jeweils 1993), gesund und arbeitsfähig. Beide verfügen über eine akademische Ausbildung, die Klägerin erwarb nach einem Studium an der … Universität in Gaza-Stadt einen Bachelor-Abschluss in Anglistik und Englische Literatur und ihr Lebensgefährte studierte dort Medienwissenschaften. Zudem arbeitete er nach seiner Ankunft in Deutschland etwa eineinhalb Jahre als Bühnenbauer und seither nach einer IHK-Schulung als Security. Die Klägerin wiederum erzielte noch während ihrer Zeit im Gazastreifen durch die Arbeit in einer Hotelverwaltung 500 US-Dollar im Monat. Als ein als Familie zusammenlebendes Paar mit einem kleinen Kind steht ein Erwachsener als Erwerbstätiger zur Verfügung und ist der andere Elternteil in der Lage, für die Angelegenheiten des täglichen Lebens und vor allem die notwendige Kinderbetreuung zu sorgen. Darüber hinaus ist jedenfalls durch die Mutter der Klägerin oder die Verwandten ihres Lebensgefährten, die teilweise in der Türkei, in Italien und noch im Gazastreifen leben, eine finanzielle Unterstützung und durch die noch im Gazastreifen lebenden Onkel und Tanten des Lebensgefährten auch hinsichtlich einer Unterkunft nicht ausgeschlossen. Jedenfalls bliebe für eine erste Übergangszeit die Möglichkeit, eine Unterkunft anzumieten. All dies zusammengenommen ist noch nicht davon auszugehen, dass der Klägerin und ihrer mit zurückkehrenden Kernfamilie im Gazastreifen im Sinne des Art. 3 EMRK eine so ernsthafte Armut und Bedürftigkeit droht, dass dies mit der Menschenwürde unvereinbar ist.
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Dabei verkennt das Gericht nicht die schlechten Lebensbedingungen im Gazastreifen allgemein. So sind im Gazastreifen 80% der Bevölkerung auf humanitäre Hilfe angewiesen (Amnesty International, Human Rights in the Middle East and North Africa: Review in 2018, Palestine, 26.2.2019, S. 1). Es gibt wegen der Stromknappheit Probleme mit der Wasserversorgung und dem Abwasserkreislauf (Human Rights Watch, World Report 2020 - Israel and Palestine, S. 2). Einigen Erkenntnismitteln nach haben 95% der Bevölkerung keinen Zugang zu sauberem Wasser (Report of the Special Rapporteur on the situation of human rights in the Palestinian territories occupied since 1967, 15.3.2019, S. 3 f.). Hinsichtlich der Abwasserbelastung soll jedoch eine 2018 fertiggestellte neue Kläranlage Abhilfe schaffen (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Palästinensische Gebiete - Gaza, Stand 12.9.2018, S. 28). Wegen der schlechten wirtschaftlichen Lage sowie hoher Lebensmittelpreise sind circa 39% der Haushalte im Gazastreifen von schwerer oder moderater Lebensmittelunsicherheit betroffen (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, a.a.O., S. 27). Im Gazastreifen lag die Arbeitslosenquote im 2. Quartal 2018 bei 53,7%, das Durchschnittseinkommen pro Tag bei 14,64 Euro (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, a.a.O., S. 27), das moderate Wirtschaftswachstum reicht nicht aus, die Arbeitslosenquote zu senken, sondern führt vielmehr zu einem weiteren Anstieg (United Kingdom Home Office, Country Policy and Information Note, Occupied Palestinian Territories, Stand Dezember 2018, S. 26). Hinsichtlich der gesundheitlichen Versorgung sinken zwar die Kapazitäten des medizinischen Sektors im Allgemeinen, gleichwohl funktionieren die wesentlichen Abteilungen in den Krankenhäusern im Gazastreifen. Nichtsdestotrotz sind Patienten häufig auf eine Behandlung im Ausland angewiesen, weil etwa Medikamente, medizinische Ausrüstung und Personal fehlen. So waren Ende Januar 2018 40% der lebensnotwendigen Medikamente des Basisgesundheitskorbs der WHO ausverkauft, für weitere 43% bestanden nur Vorräte bis zu einem Monat (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Palästinensische Gebiete - Gaza, Stand 12.9.2018, S. 29 f.). Wegen der genannten erheblichen Defizite bei der Versorgung der Bevölkerung kommt den Hilfsleistungen der United Nations Relief and Works Agency for Palestine Refugees in the Near East (UNRWA) große Bedeutung bei der Gewährleistung eines Minimalstandards zu. Das UNRWA agiert, was die Versorgung anbelangt, als de facto Regierung und betreibt im Gazastreifen acht Flüchtlingslager, 267 Schulen, 21 Gesundheitszentren, 16 Unterstützungs- und Sozialeinrichtungen, drei Büros zur Vergabe von Mikrokrediten und zwölf Verteilungszentren für Nahrungsmittel (United Kingdom Home Office, Country Policy and Information Note, Occupied Palestinian Territories, Stand Dezember 2018, S. 30 ff.).
60
In einer Gesamtschau der persönlichen Umstände der Klägerin sowie der vor allem durch das UNRWA gewährleisteten Grundversorgung ist bei ihrer angenommenen Rückkehr mit dem Lebensgefährten und dem gemeinsamen Kind in den Gazastreifen nicht mit einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK zu rechnen. Ein Verstoß gegen Art. 3 EMRK folgt auch nicht aus einer der Klägerin bei Rückkehr drohenden allgemeinen Situation der Gewalt, die der EGMR nur in äußerst extremen Fällen annimmt (EGMR, U.v. 28.6.2011 - Sufi u. Elmi/Vereinigtes Königreich, 8319/07 - NVwZ 2012, 681 Rn. 218). Diese Voraussetzungen liegen nach den Ausführungen unter 2. nicht vor (vgl. BayVGH, U.v. 8.11.2018 - 13a B 17.31960 - juris Rn. 38). Ebenso wenig kann schon mangels glaubhaften Vortrags hinsichtlich der Todesdrohung und der (angedrohten) Schläge durch den Bruder und die Onkel der Klägerin ein Verstoß gegen Art. 3 EMRK folgen, hinsichtlich der Schläge fehlte es überdies an einer die die Verletzung von Art. 3 EMRK erforderlichen Intensität (s.o. unter 1. b)).
61
Es besteht kein Abschiebungsverbot zugunsten der Klägerin nach § 60 Abs. 5 AufenthG.
62
b) Ferner kann die Klägerin kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG geltend machen. Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für ihn eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Die Norm setzt voraus, dass der Ausländer bei einer Rückkehr mit hoher - und nicht nur beachtlicher - Wahrscheinlichkeit einer extremen Gefahrenlage hinsichtlich der genannten Rechtsgüter ausgesetzt wäre (BVerwG, U.v. 8.8.2018 - 1 B 25/18 - NVwZ 2019, 61 Rn. 13). Er müsste „gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert“ werden (BayVGH, U.v. 8.11.2018 - 13a B 17.31960 - juris Rn. 60).
63
Unter Berücksichtigung dieses Maßstabs sind die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 AufenthG nicht erfüllt. Etwaige gesundheitliche Beschwerden hat die Klägerin weder für sich noch ihr Kind vorgetragen, ebenso wenig ihr Lebensgefährte. Im Übrigen wird auf die Ausführungen zu § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK verwiesen. Insbesondere sind hinsichtlich allgemeiner Gefahren im Zielstaat die Anforderungen an den Wahrscheinlichkeitsmaßstab in § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG höher als in § 60 Abs. 5 AufenthG, so dass, wenn die Voraussetzungen von § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK nicht erfüllt sind, es diejenigen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG erst recht nicht sind (vgl. BayVGH, U.v. 8.11.2018 - 13a B 17.31960 - juris Rn. 61).
64
Was eine mögliche Gefahr durch das Coronavirus SARS-CoV-2 anbelangt, so war diese zum einen im gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt noch nicht ansatzweise verdichtet, zum anderen stellt sie, von der oben genannten Extremgefahr abgesehen, nur eine im Rahmen des § 60 Abs. 7 AufenthG grundsätzlich nicht berücksichtigungsfähige Allgemeingefahr dar, § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG.
65
4. Die im angefochtenen Bescheid ergangene Ausreiseaufforderung und die Abschiebungsandrohung sind gemäß § 38 Abs. 1 AsylG und § 34 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 59 AufenthG rechtmäßig.
66
Das Gericht schließt sich der Auffassung des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts an, dass eine Abschiebungsandrohung auch hinsichtlich der Palästinensischen Autonomiegebiete erfolgen kann, obschon deren völkerrechtlicher Status als Staat wenigstens umstritten ist (NdsOVG, U.v. 14.12.2017 - 8 LC 99/17 - BeckRS 2017, 138723 Rn. 27 ff.).
67
Die Abschiebungsandrohung ist auch nicht deshalb rechtswidrig, weil sich die tatsächliche Durchführung der Abschiebung wegen der Restriktionen bei der (Wieder) Einreise in den Gazastreifen oder in das Westjordanland als problematisch erweisen könnte. Zum einen ist die tatsächliche Durchführung der Abschiebung im Asylverfahren nicht durch das Bundesamt zu prüfen, sondern durch die Ausländerbehörde (Pietzsch in Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, § 34 AsylG Rn. 31 m.w.N.). Zum anderen ist, wenn auch derzeit eine Einreise in das Westjordanland für in Gaza ansässige Palästinenser durch Israel nur im absoluten Ausnahmefall gestattet wird (Auskunft des Auswärtigen Amtes an das Bundesamt vom 7.3.2019, S. 1), eine Einreise in den Gazastreifen über den Grenzübergang Rafah über Ägypten und über den Grenzübergang Erez von Israel aus, wenn auch unter Einschränkungen und Voraussetzungen, mit gültigen Ausweispapieren der palästinensischen Behörden jedenfalls grundsätzlich möglich (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Palästinensische Gebiete - Gaza, Stand 12.9.2018, S. 24).
68
Auch ist die Verbindung der ablehnenden Asylentscheidung mit dem Erlass der Abschiebungsandrohung als Rückkehrentscheidung europarechtlich grundsätzlich nicht zu beanstanden (EuGH, U.v. 19.6.2018 - Gnandi, C-181/16 - NVwZ 2018, 1625). Allerdings muss nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) im Lichte der Richtlinie 2008/115/EG (Rückführungs-RL) und der Asylverfahrensrichtlinie (heute RL 2013/32/EU) sowie des Grundsatzes der Nichtzurückweisung und des Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf nach Art. 18, Art. 19 Abs. 2 und Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRCh) durch das nationale Recht gewährleistet sein, „dass alle Rechtswirkungen der Rückkehrentscheidung bis zur Entscheidung über den Rechtsbehelf gegen die Ablehnung ausgesetzt werden, dass der Antragsteller während dieses Zeitraums in den Genuss der Rechte aus der RL 2003/9/EG [heute: RL 2013/33/EU] des Rates vom 27.1.2003 zur Festlegung von Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern in den Mitgliedstaaten kommen kann und dass er sich auf jede nach Erlass der Rückkehrentscheidung eingetretene Änderung der Umstände berufen kann, die im Hinblick auf die RL 2008/115/EG und insbesondere ihren Art. 5 erheblichen Einfluss auf die Beurteilung seiner Situation haben kann; dies zu prüfen ist Sache des nationalen Gerichts“ (EuGH, U.v. 19.6.2018 - Gnandi, C-181/16 - NVwZ 2018, 1625 Rn. 67).
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Diese Vorgaben sind hier nach nationalem Recht erfüllt (im Einzelnen: BVerwG, U.v. 20.2.2020 - 1 C 1.19 - BeckRS 2020, 8202 Rn. 15 ff.). Die Klage gegen den Bescheid des Bundesamtes vom 28. November 2019, durch den der Asylantrag der Klägerin als einfach unbegründet abgelehnt wurde, hat gemäß § 75 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 38 Abs. 1 AsylG aufschiebende Wirkung. Durch die aufschiebende Wirkung wiederum wird, so lange sie anhält, wegen § 67 Abs. 1 S. 1 Nr. 6 AsylG das Erlöschen der Aufenthaltsgestattung verhindert. Für die Dauer der aufschiebenden Wirkung können weiter Leistungen nach dem AsylbLG bezogen werden. Zudem kann sich die Klägerin wegen § 77 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 AsylG bis zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung grundsätzlich auch auf neue Umstände, die nach Erlass der Rückkehrentscheidung eingetreten sind, berufen.
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Unschädlich ist im Ergebnis auch, dass die Ausreisefrist von 30 Tagen in Ziffer 5 des Bescheides Bundesamtes vom 28. November 2019 zunächst mit Bekanntgabe des Bescheides in Lauf gesetzt worden ist. Dies widerspricht zwar den Vorgaben der Gnandi-Entscheidung des EuGH, der zufolge zunächst alle Rechtswirkungen der Rückkehrentscheidung bis zur Entscheidung über den Rechtsbehelf gegen die Ablehnung ausgesetzt werden müssen, wovon auch die Frist für die Einlegung des Rechtsbehelfs umfasst ist. Die vorgesehene Frist zu freiwilligen Ausreise darf nicht beginnen, solange der Betroffene ein Bleiberecht hat (U.v. 19.6.2018 - Gnandi, C-181/16 - NVwZ 2018, 1625 Rn. 61 f., 67). Rechtsmittelfrist und Ausreisefrist dürfen also nicht gleichzeitig laufen. Diese Grundsätze kollidieren mit der Vorgabe des § 38 Abs. 1 Satz 1 AsylG, der erkennbar an die Bekanntgabe des ablehnenden Bescheides des Bundesamtes anknüpft und ab dann die Frist von 30 Tagen in Gang setzt, sowie mit Ziffer 5 des Bescheides des Bundesamtes vom 28. November 2019, nach dem die Klägerin zunächst aufgefordert wird, „die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe dieser Entscheidung zu verlassen (…)“ (BVerwG, U.v. 20.2.2020 - 1 C 1.19 - BeckRS 2020, 8202 Rn. 27).
71
Allerdings ist die Klägerin durch die anfängliche objektive Unionsrechtswidrigkeit der Fristsetzung zur freiwilligen Ausreise nach § 38 Abs. 1 Satz 1 AsylG in Ziffer 5 des angefochtenen Bescheides seit Klageerhebung nicht mehr beschwert. Denn nach § 38 Abs. 1 Satz 2 AsylG und der im Bescheid formulierten Bedingung, dass im Falle einer Klageerhebung die Ausreisefrist von 30 Tagen erst nach unanfechtbarem Abschluss des Asylverfahrens beginnt, wird nachträglich Unionsrechtskonformität hergestellt und die Klägerin ist nicht mehr im Sinne des § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO in ihren Rechten verletzt (BVerwG, U.v. 20.2.2020 - 1 C 1.19 - BeckRS 2020, 8202 Rn. 28).
72
Schließlich führt auch die unionsrechtliche vorgegebene, aber nicht vollständig erfüllte Informationspflicht im Falle der Verbindung der ablehnenden Asylentscheidung mit der Rückkehrentscheidung nicht zur (teilweisen) Rechtswidrigkeit der Abschiebungsandrohung. Die Klägerin hätte nach den Vorgaben der Gnandi-Entscheidung des EuGH in transparenter Weise über die oben genannten Garantien - unter anderem die Aussetzung aller Wirkungen der Rückkehrentscheidung, den Nichtlauf der freiwilligen Ausreisefrist, solange ein Bleiberecht besteht, ein Bleiberecht bis zur Entscheidung über den Rechtsbehelf gegen die Ablehnung, den Ausschluss der Abschiebehaft, den Genuss der Rechte aus der Aufnahmerichtlinie sowie die Möglichkeit, sich auf jede nach Erlass der Rückkehrentscheidung eingetretene Änderung der Umstände berufen zu können, die in Anbetracht insbesondere des Art. 5 der Rückführungs-Richtlinie erheblichen Einfluss auf die Beurteilung ihrer Situation haben kann - informiert werden müssen (BVerwG, U.v. 20.2.2020 - 1 C 1.19 - BeckRS 2020, 8202 Rn. 28; EuGH, U.v. 19.6.2018 - Gnandi, C-181/16 - NVwZ 2018, 1625 Rn. 65). Eine so weitreichende Unterrichtung enthalten die Rechtsbehelfsbelehrung des Bescheides des Bundesamtes vom 28. November 2019 und sonstige aktenkundig ausgehändigte Informationsblätter nicht.
73
Die Nichterfüllung der unionsrechtlichen Informationspflicht hat indes nicht die Rechtswidrigkeit der Abschiebungsandrohung nach §§ 34, 38 Abs. 1 AsylG zur Folge, weil sie nicht zu deren tatbestandlichen Voraussetzungen gehört, auch sonst nicht in einem Rechtmäßigkeitszusammenhang mit ihr steht und zudem nicht geeignet ist, die Rechtsstellung der Klägerin nach Klageerhebung zu beeinträchtigen (BVerwG, U.v. 20.2.2020 - 1 C 1.19 - BeckRS 2020, 8202 Ls. 4 und Rn. 34 ff.). Insbesondere ist ausgeschlossen, dass die Rückkehrentscheidung ohne eine Verletzung der Informationspflicht hätte anders ausfallen können oder von ihrem Erlass abgesehen worden wäre. Auch ist nicht erkennbar, dass die Verletzung der europarechtlichen Informationspflicht die Klägerin, die auf Basis der nationalen Rechtsbehelfsbelehrung:bereits Klage erhoben und ihre Rechte umfassend gewahrt hat, in irgendeiner Art in ihrer Rechtsverteidigung beschränkt oder ihr gar einen Rechtsbehelf nähme. Daran zeigt sich, dass die europarechtlichen Garantien und erst recht die Information über sie lediglich unterstützende Funktion haben. Zudem hat der EuGH selbst in der Gnandi-Entscheidung keine Verknüpfung der Informationspflichten mit den tatbestandlichen Voraussetzungen der Rückkehrentscheidung vorgenommen, was sich in die Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger als Priorität für die Mitgliedstaaten nach der Rückführungs-Richtlinie einpasst (BVerwG, U.v. 20.2.2020 - 1 C 1.19 - BeckRS 2020, 8202 Rn. 43 ff., 47).
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5. Die Anordnung und Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung gemäß §§ 11 Abs. 1, Abs. 2, 75 Nr. 12 AufenthG begegnet keinen rechtlichen Bedenken.
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Die Entscheidung über die Befristung hat gemäß § 11 Abs. 2 Satz 3 AufenthG von Amts wegen bei Erlass des Einreise- und Aufenthaltsverbots zu ergehen und ist nach § 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG eine Ermessensentscheidung. Das Gericht prüft die Festsetzung in zeitlicher Hinsicht nur auf Ermessensfehler hin (§ 114 Satz 1 VwGO). Solche sind nicht ersichtlich, insbesondere bestehen keine Bindungen der Klägerin an die Bundesrepublik Deutschland, die fristverkürzend zu berücksichtigen wären. Zwar befinden sich ihr Lebensgefährte, der Kläger im gemeinsam verhandelten Verfahren AN 17 K 17.36034, und das gemeinsame Kind ebenfalls in Deutschland. Allerdings verfügen weder der Lebensgefährte noch das Kind über einen gesicherten Aufenthaltsstatus; die Klage des Lebensgefährten wurde ebenfalls abgewiesen.
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6. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 161 Abs. 1, 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben.