Inhalt

VG Augsburg, Urteil v. 09.07.2020 – Au 9 K 20.30566
Titel:

Offensichtlich unbegründeter Asylantrag

Normenketten:
VwGO § 113 Abs. 5 S. 1
AsylG § 3, § 3e, § 4 Abs. 1 Nr. 3, § 30 Abs. 1, Abs. 2, § 36
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7
Leitsätze:
1. In Nigeria besteht eine innerstaatliche Fluchtalternative. (Rn. 26) (redaktioneller Leitsatz)
2. Schlechte humanitäre Verhältnisse können nur in ganz besonderen Ausnahmefällen Art. 3 EMRK verletzen, in denen humanitäre Gründe zwingend gegen eine Aufenthaltsbeendigung sprechen. (Rn. 30) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Nigeria, Ablehnung des Asylantrages als offensichtlich unbegründet (bestätigt), teilweise offensichtlich frei erfundener Sachvortrag, Abschiebungshindernisse (verneint), Asylverfahren, offensichtlich unbegründet, schlechte humanitäre Verhältnisse, innerstaatliche Fluchtalternative, nicht glaubhafter Vortrag
Fundstelle:
BeckRS 2020, 18410

Tenor

I. Die Klage wird als offensichtlich unbegründet abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Tatbestand

1
Der Kläger begehrt mit seiner Klage die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, die Gewährung subsidiären Schutzes bzw. hilfsweise die Feststellung von nationalen Abschiebungsverboten nach Nigeria bzw. in einen anderen aufnahmebereiten Staat.
2
Der nach eigenen Angaben am * 1982 in * (Nigeria) geborene Kläger ist nigerianischer Staatsangehöriger mit Volkszugehörigkeit der Edo und christlichem Glauben (Pfingstbewegung).
3
Seinen Angaben zu Folge reiste der Kläger erstmalig am 3. Oktober 2015 in der Bundesrepublik Deutschland ein, wo er unter dem 7. April 2016 erstmalig Asylantrag stellte (Gz.: *). Der Asylantrag des Klägers wurde vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) als unzulässig abgelehnt und die Abschiebung des Klägers nach Italien angeordnet. Rechtsmittel des Klägers hiergegen blieben erfolglos.
4
Seit dem 16. Dezember 2016 galt der Kläger als unbekannt verzogen. Am 9. Juni 2017 tauchte der Kläger erneut in der Bundesrepublik Deutschland auf und stellte Asylfolgeantrag. Dieser wurde mit Bescheid des Bundesamts vom 31. Juli 2017 als unzulässig abgelehnt. Nach Ablauf der Überstellungsfrist wurde der vorgenannte Bescheid des Bundesamtes aufgehoben.
5
Der Kläger hat in Italien bereits Asylantrag gestellt. Dieser wurde abgelehnt. Der Kläger habe jedoch Rechtsmittel eingelegt und das entsprechende Gerichtsverfahren ist nicht abgeschlossen.
6
Eine Beschränkung des Asylantrages in der Bundesrepublik Deutschland auf die Zuerkennung internationalen Schutzes (Flüchtlingseigenschaft und subsidiärer Schutz) erfolgte im Verfahren nicht.
7
Die persönliche Anhörung des Klägers beim Bundesamt fand am 24. Januar 2019 statt. Der Kläger trug hierbei u.a., dass sein Vater im Jahr 2007 bzw. 2008 verstorben sei. Er sei nach dem Tod seines Vaters aufgefordert worden, dessen Rolle als „Chief“ in einer Geheimgesellschaft zu übernehmen. Weil er christlicher Glaubensangehöriger sei, sei er hiermit nicht einverstanden gewesen und sei von der Familie seines Vaters bedroht worden. Die Familie habe gedroht, ihn umzubringen, ihm sei jedoch nichts passiert. Nachts habe er geträumt, Geister zu sehen. Außerdem habe er nach der Arbeit in seinem Haus mit den Kindern gespielt. Dabei habe er mit einem acht oder neun Jahre alten Mädchen, ohne es zu wissen, wie es dazu gekommen sei, Geschlechtsverkehr gehabt. Ein Freund habe ihm mitgeteilt, dass die Mutter des Mädchens nach ihm suche und er sich melden solle. Die nigerianische Polizei suche nach ihm. Der Vorfall mit dem Mädchen habe sich im Jahr 2009 bzw. 2010 ereignet. Nigeria habe er im Jahr 2010 verlassen.
8
Für den weiteren Vortrag des Klägers wird auf die über die persönliche Anhörung gefertigte Niederschrift des Bundesamtes Bezug genommen.
9
Mit Bescheid des Bundesamts vom 30. April 2020 (Gz.: *) wurden die Anträge des Klägers auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft bzw. auf Asylanerkennung als offensichtlich unbegründet abgelehnt (Nrn. 1 und 2 des Bescheids). In Nr. 3 des Bescheids wird der Antrag des Klägers auf Gewährung subsidiären Schutzes als offensichtlich unbegründet abgelehnt. Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) liegen nicht vor (Nr. 4). In Nr. 5 wird der Kläger aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe der Entscheidung zu verlassen. Für den Fall der nicht fristgerechten Folgeleistung wurde dem Kläger die Abschiebung nach Nigeria bzw. in einen anderen aufnahmebereiten Staat angedroht. Nr. 6 ordnet das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG an und befristet es auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung.
10
Zur Begründung seiner Entscheidung führt das Bundesamt u.a. aus, dass beim Kläger die Voraussetzungen für die Zuerkennung des internationalen Schutzes und die Anerkennung als Asylberechtigter nicht vorlägen. Der Kläger sei kein Flüchtling i.S.d. § 3 AsylG. Er habe seine begründete Furcht vor Verfolgung oder einen ernsthaften Schaden nicht glaubhaft gemacht. Bezüglich der Behauptung, der Kläger werde von den Geistern/Vorfahren seiner Familie verrückt gemacht und auf diese Art von ihnen verfolgt, sei darauf hinzuweisen, dass es sich um reinen Aberglauben handle. Im Übrigen sei das Vorbringen des Klägers vollkommen inhaltsleer und unglaubhaft. Überdies bestehe für den Kläger offensichtlich eine inländische Fluchtalternative i.S.d. § 3e AsylG. Nigeria sei das bevölkerungsreichste Land Afrikas. Es sei vollkommen abwegig, dass irgendwer den Kläger und seine Familie zwischen über 180 Mio. Einwohnern finden könne. Es gebe auch keine Hinweise auf eine überregionale Bekanntheit des Klägers. Auch die Voraussetzungen für die Gewährung subsidiären Schutzes i.S.d. § 4 AsylG lägen nicht vor. Insbesondere bestehe in Nigeria kein landesweiter innerstaatlicher Konflikt i.S.d. § 4 Abs. 1 Nr. 3 AsylG. Der Asylantrag des Klägers werde überdies als offensichtlich unbegründet abgelehnt. Insoweit seien die Voraussetzungen des § 30 Abs. 3 Nr. 1 AsylG gegeben, wonach ein unbegründeter Asylantrag als offensichtlich unbegründet abzulehnen sei, wenn in wesentlichen Punkten das Vorbringen des Ausländers nicht substantiiert oder in sich widersprüchlich sei, offenkundig den Tatsachen nicht entspreche oder auf gefälschte oder verfälschte Beweismittel gestützt werde. Der Sachvortrag des Klägers sei durchgehend unsubstantiiert, widersprüchlich und lebensfremd. Überdies habe der Kläger Nigeria bereits im Jahr 2010 verlassen. Abschiebungsverbote lägen ebenfalls nicht vor. Die Abschiebung trotz schlechter humanitärer Verhältnisse könne nur in sehr außergewöhnlichen Einzelfällen als unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu bewerten sein und die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) erfüllen. Die derzeitigen humanitären Bedingungen in Nigeria führten nicht zu der Annahme, dass bei einer Abschiebung des Klägers eine Verletzung des Art. 3 EMRK vorliege. Die hierfür vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) geforderten hohen Anforderungen an den Gefahrenmaßstab seien nicht erfüllt. Auch unter Berücksichtigung der individuellen Umstände des Klägers sei die Wahrscheinlichkeit einer Verletzung des Art. 3 EMRK durch eine Abschiebung nicht beachtlich. Auch die Verletzung anderer Menschenrechte oder Grundfreiheiten der EMRK komme nicht in Betracht. Es drohe dem Kläger auch keine individuelle Gefahr für Leib oder Leben, die zur Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 AufenthG führe. Die Abschiebungsandrohung sei nach § 34 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 59 AufenthG zu erlassen. Die Ausreisefrist von einer Woche ergebe sich aus § 36 Abs. 1 AsylG. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot werde gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG angeordnet und nach § 11 Abs. 2 AufenthG auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet. Diese Befristung sei vorliegend angemessen.
11
Auf den weiteren Inhalt des Bescheids des Bundesamts vom 30. April 2020 wird ergänzend verwiesen.
12
Der Kläger hat gegen den vorbezeichneten Bescheid mit Schriftsatz vom 4. Mai 2020 Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht Augsburg erhoben und beantragt,
13
1. Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft anzuerkennen,
14
hilfsweise dazu, ihm subsidiären Schutz zu gewähren,
15
hilfsweise dazu, Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG festzustellen,
16
hilfsweise das Einreise- und Aufenthaltsverbot aufzuheben bzw. kürzer zu befristen.
17
2. Der Bescheid der Beklagten vom 30. April 2020, Gz:, wird aufgehoben, soweit er der o.g. Verpflichtung entgegensteht.
18
Eine Begründung der Klage ist nicht erfolgt.
19
Die Beklagte hat die einschlägige Verfahrensakte vorgelegt; ein Antrag wurde nicht gestellt.
20
Ein vom Kläger angestrengtes Verfahren vorläufigen Rechtsschutzes (Az: Au 9 S 20.30568) wurde mit Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichts Augsburg vom 12. Mai 2020 abgelehnt. Auf die Gründe dieser Entscheidung wird Bezug genommen.
21
Mit weiterem Gerichtsbeschluss vom 14. Mai 2020 wurde der Rechtsstreit dem Einzelrichter zur Entscheidung übertragen.
22
Am 9. Juli 2020 fand die mündliche Verhandlung statt. Für den Hergang der Sitzung, in der der Kläger informatorisch angehört wurde, wird auf das hierüber gefertigte Protokoll Bezug genommen.
23
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakte und auf die von der Beklagten vorgelegten Verfahrensakten verwiesen.

Entscheidungsgründe

24
Der Einzelrichter (§ 76 Abs. 1 AsylG) konnte über die Klage des Klägers verhandeln und entscheiden, ohne dass die Beklagte an der mündlichen Verhandlung vom 9. Juli 2020 teilgenommen haben. Auf den Umstand, dass bei Ausbleiben eines Beteiligten auch ohne ihn verhandelt und entschieden werden kann, wurden die Beteiligten ausweislich der Ladung ausdrücklich hingewiesen (§ 102 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO).
25
Die zulässige Klage bleibt in der Sache ohne Erfolg. Es bestehen vorliegend keine Zweifel an der Rechtmäßigkeit der mit Bescheid des Bundesamtes vom 30. April 2020 erfolgten Ablehnung des Asylantrags des Klägers als offensichtlich unbegründet (§ 30 Abs. 1, 2 AsylG). Im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 AsylG) bestehen an der Richtigkeit der tatsächlichen Feststellung des Bundesamts vernünftigerweise keine Zweifel, so dass sich die Ablehnung des Asylantrags nach allgemein anerkannter Rechtsauffassung geradezu aufdrängt (vgl. BVerfG [Kammer], B.v. 20.9.2001 - 2 BvR 1392/00; BVerfG [Kammer], B.v. 3.9.1996 - 2 BvR 2353/95 - beide juris). Der Asylantrag des Klägers war als offensichtlich unbegründet abzulehnen und die Klage entsprechend abzuweisen, weil beim Kläger offensichtlich keine Gründe vorliegen, die für die Zuerkennung von Asyl- oder internationalem Schutz relevant sind und auch (zielstaatsbezogene) Abschiebungshindernisse nicht vorliegen.
26
1. Mit dem Bundesamt ist das erkennende Gericht der Auffassung, dass sich beim Kläger die Ablehnung des Antrags auf Gewährung internationalen Schutzes (Flüchtlingseigenschaft und subsidiärer Schutz) geradezu aufdrängt. Der Kläger hat bei seiner persönlichen Anhörung beim Bundesamt am 24. Januar 2019 ausgeführt, dass er Nigeria bereits im Jahr 2010 dauerhaft verlassen habe. Die Ablehnung des Asylantrags als offensichtlich unbegründet erweist sich als zutreffend, da das gesamte Vorbringen des Klägers beim Bundesamt vor dem Hintergrund der §§ 3, 3b AsylG asylrechtlich ohne Relevanz bleibt. Soweit der Kläger auf familiäre Probleme wegen der Nachfolge seines Vaters in einem Geheimbund verweist, ist dieser Vortrag offensichtlich nicht geeignet, asylbegründend für den Kläger zu sein. Auch die vom Kläger geschilderte Bedrohung aufgrund seiner Weigerung, dem Geheimbund beizutreten, stellt sich allenfalls als kriminelles Unrecht dar, welches asylrechtlich ohne Relevanz bleibt. Gleiches gilt in Bezug auf die vom Kläger selbst geschilderte Vergewaltigung. In Bezug auf den letztgenannten Umstand hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung selbst eingeräumt, dass dieser Vortrag frei erfunden sei. Die rechtliche Beurteilung des Bundesamts, dass der Vortrag vollkommen unglaubwürdig sei, ist deshalb nicht zu beanstanden. Jedenfalls besteht für den Kläger eine innerstaatliche Fluchtalternative i.S. des § 3e AsylG. Auch die Voraussetzungen für die Gewährung subsidiären Schutzes (§ 4 AsylG) liegen beim Kläger nicht vor. Insbesondere besteht in Nigeria kein landesweiter innerstaatlicher Konflikt im Sinne des § 4 Abs. 1 Nr. 3 AsylG. In Bezug auf eventuelle lokale Konflikte im Norden des Landes ist der Kläger, der selbst aus dem Süden Nigerias (Benin City, Bundesstat Edo State) stammt, auf eine inländische Fluchtalternative zu verweisen (§ 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG, § 3e AsylG entsprechend). Bezogen auf den Zielstaat der Abschiebung Nigeria ist der Asylantrag des Klägers vom Bundesamt daher zutreffend als offensichtlich unbegründet abgelehnt worden. Gemäß § 30 Abs. 1 AsylG ist ein Asylantrag offensichtlich unbegründet, wenn die Voraussetzungen für die Anerkennung als Asylberechtigter und die Voraussetzungen für die Zuerkennung des internationalen Schutzes offensichtlich nicht vorliegen. Wegen der Begründung im Einzelnen folgt das Gericht dabei den Ausführungen in dem mit der Klage angefochtenen Bescheid des Bundesamts vom 30. April 2020 und sieht deshalb von einer Darstellung der weiteren Entscheidungsgründe ab (§ 77 Abs. 2 AsylG).
27
2. Auch an der Rechtmäßigkeit der Feststellung, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen, bestehen im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 AsylG) keine Zweifel. Der Kläger besitzt keinen Anspruch auf Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots auf der Grundlage des § 60 Abs. 5 bzw. Abs. 7 Satz 1 AufenthG.
28
Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten - EMRK - ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Gemäß Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung unterworfen werden. Im Falle einer Abschiebung wird eine Verantwortlichkeit der Bundesrepublik Deutschland nach Art. 3 EMRK dann begründet, wenn erhebliche Gründe für die Annahme bestehen, dass der Betroffene im Fall der Abschiebung tatsächlich Gefahr läuft, einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu sein. Eine Art. 3 EMRK widersprechende Behandlung kann sich aus einer allgemeinen Situation der Gewalt im Zielstaat ergeben, einem besonderen Merkmal des Ausländers oder einer Verbindung von beidem (vgl. BayVGH, U.v. 21.11.2018 - 13a B 18.30632 - juris Rn. 26; BVerwG, U.v. 31.1.2013 - 10 C 15.12 - juris Rn. 25).
29
Auch schlechte humanitäre Verhältnisse können in ganz außergewöhnlichen Einzelfällen als unmenschliche Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK darstellen. Dies ist immer dann anzunehmen, wenn diese Verhältnisse ganz oder überwiegend auf staatlichem Handeln, auf Handlungen von Parteien eines innerstaatlichen Konflikts oder auf Handlungen sonstiger nichtstaatlicher Akteure, die dem Staat zurechenbar sind, beruhen, weil er der Zivilbevölkerung keinen ausreichenden Schutz bieten kann oder will (EGMR, U.v. 21.1.2011 - 30696/09 - NVwZ 2011, 413; U.v. 28.6.2011 - 8319/07 und 11449/07 - NVwZ 2012, 681). Aber auch dann, wenn diese Voraussetzungen nicht gegeben sind, weil es an einem verantwortlichen Akteur fehlt und „nichtstaatliche“ Gefahren für Leib und Leben im Zielgebiet aufgrund prekärer Lebensbedingungen vorliegen, können schlechte humanitäre Bedingungen im Zielgebiet dennoch in ganz außergewöhnlichen Einzelfällen im Rahmen des § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK als unmenschliche Behandlung zu qualifizieren sein (VGH BW, U.v. 24.7.2013 - A 11 S 697/13 - juris Rn. 79 ff.).
30
Schlechte humanitäre Verhältnisse können somit nur in ganz „besonderen Ausnahmefällen“ Art. 3 EMRK verletzen, in denen humanitäre Gründe zwingend gegen eine Aufenthaltsbeendigung sprechen (vgl. BayVGH, U.v. 21.11.2018 - 13a B 18.30632 - juris Rn. 26).
31
Dabei können Ausländer aber grundsätzlich kein Recht aus der Konvention auf Verbleib in einem Konventionsstaat geltend machen, um dort weiter medizinische, soziale oder andere Hilfe und Unterstützung zu erhalten. Der Umstand, dass im Fall einer Aufenthaltsbeendigung die Lage des Betroffenen einschließlich seiner Lebenserwartung erheblich beeinträchtigt würde, reicht nach der Rechtsprechung allein nicht aus, um einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK anzunehmen. Denn Art. 3 EMRK verpflichtet die Staaten nicht, Unterschiede im Fortschritt in der Medizin sowie Interschiede in sozialen und wirtschaftlichen Standards durch freie und unbegrenzte Versorgung von Ausländern ohne Bleiberecht zu beseitigen (vgl. BVerwG, U.v. 31.1.2013 - 10 C 15/12 - juris Rn. 23). Nur in ganz außergewöhnlichen Fällen können auch schlechte humanitäre Verhältnisse Art. 3 EMRK verletzen, wenn die humanitären Gründe zwingend gegen eine Aufenthaltsbeendigung sprechen, wie beispielsweise im Fall einer tödlichen Erkrankung im fortgeschrittenen Stadium, wenn im Zielstaat diesbezüglich keine Unterstützung besteht (vgl. BVerwG, U.v. 31.1.2013 - 10 C 15/12 - juris Rn. 23 ff.).
32
Dies zugrunde gelegt ist zu Gunsten des Klägers kein Abschiebeverbot auf der Grundlage des § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK gegeben. Dies gilt insbesondere unter Berücksichtigung der Tatsache, dass der Kläger durchaus erwerbsfähig ist. So hat der Kläger bei seiner persönlichen Anhörung beim Bundesamt am 24. Januar 2019 ausgeführt, dass er zwar keinen Beruf erlernt habe, jedoch bereits als Elektriker gearbeitet habe. Auch könne er einen achtjährigen Schulbesuch vorweisen. Zu Verwandten befragt hat der Kläger ausgeführt, dass in Nigeria noch zwei Stiefschwestern und seine Großfamilie lebten. Deshalb ist beim Kläger davon auszugehen, dass dieser bei einer Rückkehr nach Nigeria in der Lage sein sollte, ein Existenzminimum zu erwirtschaften. Bei einer aktuellen Analphabetenquote in Nigeria bei Männern von etwa 30% erweist sich auch der Schulbesuch des Klägers als überdurchschnittlich. Nennenswerte gesundheitliche Einschränkungen sind beim Kläger nicht bekannt geworden. Zwar hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung auf eine vermutete Depression verwiesen, ärztliche Atteste wurden jedoch nicht vorgelegt. Gleiches gilt in Bezug auf die vom Kläger geltend gemachten Rückenbeschwerden bzw. seine Appetitlosigkeit.
33
Überdies kann allgemein festgestellt werden, dass auch eine nach Nigeria zurückgeführte Person, die - wie der Kläger vortragen lässt - in keinem privaten Verband soziale Sicherheit findet, bei einer Rückkehr keiner lebensbedrohlichen Situation überantwortet wird. Derartige Personen können ihre existenziellen Grundbedürfnisse aus selbstständiger Arbeit sichern, insbesondere dann, wenn im Konventionsstaat - Bundesrepublik Deutschland - Rückkehrhilfe angeboten wird (vgl. Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich - BFA - Nigeria, Gesamtaktualisierung vom 12. April 2019, Nr. 19.1, S. 50).
34
Schließlich liegen auch die Voraussetzungen für ein Abschiebeverbot auf der Grundlage des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vor. Diesbezüglich fehlt es bereits an einem berücksichtigungsfähigen Vortrag des Klägers. Nennenswerte gesundheitliche Einschränkungen sind im Verfahren nicht geltend gemacht worden. Ärztliche Atteste wurden für den Kläger nicht vorgelegt. Überdies gewährt § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG unter dem Gesichtspunkt der extremen Gefahrenlage keinen weitergehenden Schutz als es § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK tut. Liegen also - wie hier - die Voraussetzungen eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK wegen schlechter humanitärer Bedingungen nicht vor, so scheidet auch eine im Rahmen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG relevante, extreme Gefahrenlage aus.
35
3. Die auf die Ablehnung des Asylantrags als offensichtlich unbegründet beruhende Ausreiseaufforderung der einwöchigen Ausreisefrist und die gleichzeitig erfolgte Abschiebungsandrohung nach §§ 34, 36 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 59 AufenthG sind demnach ebenfalls nicht zu beanstanden. Bedenken bestehen auch nicht im Hinblick auf die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 20. Februar 2020 (Az: 1 C 19/19), nachdem der Kläger bereits mit der ablehnenden Entscheidung im gerichtlichen Eilverfahren (Az: Au 9 S 20.30568) vom 12. Mai 2020 vollziehbar ausreisepflichtig ist.
36
Auch das in Nr. 6 des angegriffenen Bescheids angeordnete gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot begegnet keinen rechtlichen Bedenken. Die Beklagte hat insoweit die erforderliche Grundentscheidung nach § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG getroffen, als auch das hier hinsichtlich der Befristung zukommende Ermessen (§ 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG) zutreffend erkannt. Die getroffene Befristungsentscheidung erweist sich vor dem Hintergrund der gerichtlichen eingeschränkten Überprüfung des § 114 VwGO als ermessensfehlerfrei.
37
4. Nach allem war die Klage daher mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen. Als im Verfahren unterlegen hat der Kläger die Kosten des Verfahrens zu tragen. Die Gerichtskostenfreiheit folgt aus § 83b AsylG.
38
Die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 Abs. 2 VwGO.
39
Dieses Urteil ist gemäß § 78 Abs. 1 Satz 1 AsylG unanfechtbar.