Inhalt

VG Augsburg, Urteil v. 16.06.2020 – Au 3 K 18.1530
Titel:

Kostenerstattung für ausländischen Minderjährigen

Normenketten:
BayAGSG Art. 52a
SGB VIII § 89d
Leitsätze:
1. Für eine analoge Anwendung der Kostenerstattungsregelung des § 89d Abs. 1 S. 1 SGB VIII auf ursprünglich gemeinsam mit den Sorgeberechtigten einreisende Minderjährige, die danach im Bundesgebiet von diesen verlassen wurden, fehlt es an einer vergleichbaren Interessenlage. (Rn. 23 – 27) (redaktioneller Leitsatz)
2. Norminterpretierende Vorgaben des Landesjugendamts sind für die Gerichte nicht verbindlich. (Rn. 28) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Erstattungsanspruch, Unbegleiteter Minderjähriger, Kostenerstattung, unbegleiteter ausländischer Minderjähriger, Auslegung, Flüchtlingseigenschaft, Inobhutnahme, Jugendhilfe, analoge Anwendung, vergleichbare Interessenlage, norminterpretierende Vorgaben
Fundstelle:
BeckRS 2020, 18138

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Kosten des Verfahrens hat der Kläger zu tragen.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht der Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

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Der Kläger begehrt vom Beklagten Erstattung der Kosten, die er selbst dem Beigeladenen für die Gewährung von Jugendhilfe erstattet hat.
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Der Hilfeempfänger, geboren am * 2001 in …Syrien, reiste am 30. Oktober 2015 zusammen mit seinen Eltern und zwei Geschwistern nach Deutschland ein. Sie befanden sich ab dem 10. oder 11. Oktober 2015 im Landkreis *. Am 17. März 2016 wurde dem Hilfeempfänger die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Am 6. April 2017 wurde der Hilfeempfänger vom Beigeladenen in Obhut genommen, weil seine Familie nach Syrien zurückgekehrt war und den Hilfeempfänger allein zurückgelassen hatte.
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Mit Schreiben vom 6. April 2017 beantragte der Beigeladene beim Kläger Kostenerstattung für die dem Hilfeempfänger seit dem 6. April 2017 gewährte Jugendhilfe. Mit Schreiben vom 11. August 2017 erklärte der Kläger gegenüber dem Beigeladenen, dass er bis zur Volljährigkeit des Hilfeempfängers die anfallenden Jugendhilfeaufwendungen erstatte. Gegenüber dem Beklagten beantragte er mit Schreiben vom selben Tag vorsorglich die Erstattung dieser Aufwendungen.
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In einer E-Mail vom 5. September 2017 lehnte der Beklagte die Kostenerstattung ab. Zur Begründung verwies er auf das Schreiben des Bayerischen Landesjugendamts vom 17. August 2016, welches eine für Jugendämter, Bezirke und Regierungen verbindliche Definition des Begriffs „unbegleitet“ vorgebe.
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Mit Schreiben vom 5. Juli 2018 machte der Kläger beim Beigeladenen Rückerstattung geltend. Der Beigeladene wies den Rückerstattungsanspruch mit Schreiben vom 22. August 2018 unter Verweis auf ein Gutachten des Deutschen Instituts für Jugendhilfe und Familienrecht e. V. (DIJuF) zurück. Danach sei in Anlehnung an die Formulierung in der Vorschrift zur Inobhutnahme und das Recht der Europäischen Union ein Jugendlicher dann unbegleitet, wenn er sich ohne einen personensorge- oder zumindest erziehungsberechtigten Erwachsenen in Deutschland befinde.
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Mit E-Mail vom 27. August 2018 übermittelte der Kläger dem Beklagten dieses Gutachten. Daraufhin erklärte der Beklagte mit E-Mail vom 29. August 2018, dass er an seiner Rechtsauffassung festhalte, und verwies auf ein Protokoll des Bayerischen Landesjugendamts vom 27. Juli 2016. Dort wird ausgeführt, dass es sich nach bisheriger Auffassung nicht um eine unbegleitete Einreise im jugendhilferechtlichen Sinn handele, wenn die Einreise eines ausländischen Jugendlichen zunächst mit einem Personensorge- oder Erziehungsberechtigten erfolgt sei, der Jugendliche jedoch nach der Einreise zurückgelassen werde. Aussagen zur unbegleiteten Einreise im Schreiben des Bayerischen Staatsministeriums für Arbeit und Sozialordnung, Familie und Frauen vom 6. Februar 2006 (AMS vom 6.2.2016) zum Vollzug des Aufnahmegesetzes seien mit der aktuellen Rechtslage nicht mehr kompatibel. Aktuelle Auslegungshinweise zur Definition der unbegleiteten Einreise enthalte die Auslegungshilfe des Bundes vom April 2016.
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In den Praxishinweisen des Bayerischen Landesjugendamts zu Kostenerstattung und Zuständigkeiten für unbegleitete ausländische Minderjährige vom 17. August 2016 wird ausgeführt, dass für die Definition des Begriffs „unbegleitet“ sowohl in Art. 7 AufnG als auch in § 89d SGB VIII auf die Auslegungshilfe des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) abzustellen sei. In deren FAQ wird ausgeführt, dass ein unbegleiteter ausländischer Minderjähriger jede nichtdeutsche Person unter 18 Jahren sei, die ohne Personensorge- oder Erziehungsberechtigten nach Deutschland einreise. Sofern ein Verwandter erziehungsberechtigt sei bzw. werde oder sich ein Personensorgeberechtigter „finde“, sei der ausländische Minderjährige nicht (mehr) unbegleitet. In diesen Fällen ende die Inobhutnahme mit der Übergabe des Kindes an diese Personen. Im Hinblick auf die Frist nach § 89d Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VIII wird für Fälle nach dem 1. November 2015 in Ziffer 8 der FAQs ausgeführt, dass der ursprüngliche Regelungszweck des § 89d Abs. 1 SGB VIII vor dem Hintergrund der Einführung des Verteilungsverfahrens entfallen sei und nach der Ratio des Gesetzes nunmehr auf den Zeitpunkt abzustellen sei, an dem das zuständige Jugendamt Kenntnis über den Aufenthalt eines allein eingereisten ausländischen Minderjährigen erlangt habe.
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Mit seiner am 10. September 2018 erhobenen Klage verfolgt der Kläger sein Begehren weiter. Zwar liege eine Alleineinreise des Hilfeempfängers nicht vor. Abzustellen sei jedoch auf den Zeitpunkt, an dem das zuständige Jugendamt erstmals vom Hilfefall erfahren habe. Jedenfalls zu diesem Zeitpunkt sei der Hilfeempfänger unbegleitet gewesen. Eine solche Auslegung entspreche der Regelung in § 89d Abs. 1 Satz 2 Alt. 2 SGB VIII. Auch das Working Paper 26 zu unbegleiteten minderjährigen Migranten in Deutschland des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) und die darin zitierten EUrechtlichen Vorgaben stützten diese Ansicht. Soweit der Beklagte auf das Protokoll des Bayerischen Landesjugendamts verweise, übersehe er, dass es sich bei dieser Auslegung ausdrücklich um die bisherige Rechtsauffassung gehandelt habe. Ziffer 8 der FAQ des BMFSFJ, auf die das Bayerische Jugendamt aktuell verweise, stütze die Auffassung des Klägers.
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Der Kläger beantragt,
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den Beklagten zu verurteilen, an den Kläger einen Betrag in Höhe von 6.488,90 EUR zuzüglich Zinsen von 4% gemäß § 108 SGB X zu erstatten.
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Der Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Zur Begründung trägt er vor, dass die Praxishinweise des Bayerischen Landesjugendamts für alle am Kostenerstattungsverfahren beteiligten Behörden verbindlich seien. Diese verwiesen auf die Auslegungshilfe des BMFSFJ, in der - im Gegensatz zu den überholten Vorgaben im AMS vom 6. Februar 2006, die einen anderen Schluss nahelegen könnten - nicht geregelt sei, dass ein ausländischer Minderjähriger auch dann als unbegleitet gelte, wenn er nach der Einreise vom Personensorgeberechtigten zurückgelassen werde. Ein Kostenerstattungsanspruch in diesem Fall wäre auch systemfremd. § 89d Abs. 1 SGB VIII stelle ausdrücklich auf die Einreise ab. Der Kostenerstattungsanspruch sorge gemeinsam mit dem vorgeschalteten Verteilverfahren dafür, dass die Kosten angemessen auf die einzelnen Bundesländer verteilt würden. Bei einer gemeinsamen Einreise mit den Eltern erfolge die „Kostenverteilung“ bereits mit dem Zuweisungsverfahren der Familie über das Easy-Verfahren anhand des Königsteiner Schlüssels. Die Inobhutnahme erfolge nicht wegen der unbegleiteten Einreise, sondern der Entscheidung der Eltern, das Kind zurückzulassen. Dabei handele es sich um reguläre Jugendhilfe, für die der Beklagte keine Kostenerstattung leiste. Auch Ziffer 8 der FAQs des BMFSFJ führe zu keinem anderen Ergebnis. Dadurch habe nicht das Erfordernis einer Einreise wegfallen, sondern nur der Beginn der Monatsfrist anders definiert werden sollen. Es wäre auch nicht zulässig, ein gesetzlich vorgesehenes Tatbestandsmerkmal mittels einer „Auslegungshilfe“ wegfallen zu lassen. Auch der Verweis auf EUrechtliche Vorgaben überzeuge nicht. Die sog. Qualifikationsrichtlinie gebe Mindeststandards vor. Die darin enthaltene Definition des unbegleiteten Minderjährigen sei daher nicht auf eine kostenerstattungsrechtliche Betrachtung übertragbar. Ebenso stehe auch das Working Paper des Bundesamts nicht im Zusammenhang mit einer kostenerstattungsrechtlichen Problematik.
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Die Beteiligten haben mit Schriftsätzen vom 2. Dezember 2019, 6. Dezember 2019 bzw. 11. Februar 2020 ihr Einverständnis zu einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erklärt.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte und die vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Das Gericht kann gemäß § 101 Abs. 2 VwGO über die Klage ohne mündliche Verhandlung entscheiden, weil die Beteiligten sich hiermit einverstanden erklärt haben.
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Die zulässige Klage hat in der Sache keinen Erfolg. Der Kläger hat gegen den Beklagten keinen Anspruch auf Erstattung der an den Beigeladenen geleisteten Beträge.
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1. Als Rechtsgrundlage für eine Erstattung durch den Freistaat Bayern kommt Art. 52a des Gesetzes zur Ausführung der Sozialgesetze (AGSG) in Betracht. Gemäß Art. 10a Abs. 1 Satz 1 des Gesetzes über die Aufnahme und Unterbringung der Leistungsberechtigten nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (Aufnahmegesetz - AufnG) findet nämlich Art. 7 Abs. 3 Satz 2 AufnG nur Anwendung auf Kosten, die dem örtlichen Träger der öffentlichen Jugendhilfe vor dem 1. November 2015 entstanden sind. Dies ist vorliegend nicht der Fall.
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2. Gemäß Art. 52a Abs. 1 Satz 1 AGSG erstattet der Staat dem nach § 89g SGB VIII, Art. 52 AGSG zuständigen Bezirk die Kosten für unbegleitete ausländische Kinder und Jugendliche, die diesem nach § 89d Abs. 1 SGB VIII entstehen. Ein damit inzident zu prüfender Kostenerstattungsanspruch des Beigeladenen gegen den Kläger ergab sich allerdings weder aus einer unmittelbaren (siehe a) noch aus einer analogen Anwendung (siehe b) des § 89d Abs. 1 SGB VIII.
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a) Gemäß § 89d Abs. 1 Satz 1 SGB VIII sind Aufwendungen eines örtlichen Trägers vom Land zu erstatten, wenn innerhalb eines Monats nach der Einreise eines jungen Menschen oder eines Leistungsberechtigten nach § 19 SGB VIII Jugendhilfe geleistet wird und sich die örtliche Zuständigkeit nach dem tatsächlichen Aufenthaltsort dieser Person oder nach der Zuweisungsentscheidung der zuständigen Landesbehörde richtet. Als Tag der Einreise gilt dabei gemäß § 89d Abs. 1 Satz 2 SGB VIII der Tag des Grenzübertritts, sofern dieser amtlich festgestellt wurde, oder der Tag, an dem der Aufenthalt im Inland erstmals festgestellt wurde, andernfalls der Tag der ersten Vorsprache bei einem Jugendamt. Vorliegend wurde die Ersteinreise des Hilfeempfängers bereits am 30. Oktober 2015 durch das Bundesamt, Außenstelle, festgestellt (vgl. Bl. 19 der Akten des Klägers); Beginn der Jugendhilfe war jedoch erst im April 2017. Angesichts der klaren, gesetzlichen Regelung ist eine extensive Auslegung des Kostenerstattungsanspruchs nach § 89d SGB VIII nicht möglich.
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b) Auch eine analoge Anwendung des § 89d Abs. 1 Satz 1 SGB VIII kommt jedenfalls im vorliegenden Fall nicht in Betracht. Eine solche würde eine planwidrige Regelungslücke sowie eine vergleichbare Interessenlage voraussetzen.
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aa) Offen bleiben kann, ob eine planwidrige Regelungslücke für den Fall des Verlassenwerdens des ursprünglich gemeinsam mit den Sorgeberechtigten einreisenden Minderjährigen besteht. Insoweit wird teilweise angenommen, dass eine solche anzunehmen sei, weil der Gesetzgeber offenbar davon ausgegangen sei, dass durch die Einführung der vorläufigen Inobhutnahme nach § 42a SGB VIII die Hilfe stets innerhalb eines Monats nach Einreise gewährt würde (so auch Kunkel/Pattar in LPK-SGB VIII, 7. Aufl. 2018, § 89d Rn. 12).
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bb) Jedenfalls fehlt es im vorliegenden Fall an einer vergleichbaren Interessenlage.
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(1) Zwar wird teilweise angenommen, dass der ursprüngliche Regelungszweck des § 89d Abs. 1 SGB VIII vor dem Hintergrund der Einführung des länderübergreifenden und der darauffolgenden länderinternen Verteilungsverfahren entfallen sei. In Fällen, in denen unbegleitet minderjährige Ausländer nach dem 1. November 2015 in Obhut genommen würden, sei daher auf den Zeitpunkt abzustellen, an dem das zuständige Jugendamt Kenntnis über den Aufenthalt eines unbegleiteten minderjährigen Ausländers erlangt habe (so die Rechtsansicht des BMFSFJ; vgl. hierzu auch Lamontain in JAmt 2016, 110, 113 und das DIJuF-Themengutachten Nr. 1193 Rn. 13).
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(2) In eine ähnliche Richtung weisen Stimmen aus der Literatur. § 89d SGB VIII habe gerade die Situation von aus dem Ausland eingereister Kinder und Jugendlicher im Blick. Grund für die Befristung sei, dass bei einem Hilfebeginn nach mehr als einem Monat der Zusammenhang mit der Einreise aufgehoben sei. Zwar liege kein Bezug mehr zur Einreise vor, wenn der Minderjährige mehr als einen Monat nach der Einreise unbegleitet zurückgelassen werde. Die vergleichbare Interessenlage ergebe sich jedoch aus dem nach der vorläufigen Inobhutnahme durchzuführenden Verteilungsverfahren. Dieses führe zwar auf der Ebene der Zuständigkeit zu einem Ausgleich der Lasten der Länder. Die davon in den Ländern unterschiedlichen überörtlichen und örtlichen Träger seien in diesen Ausgleich jedoch nicht einbezogen (zu allem Kunkel/Pattar a.a.O.)
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(3) Das Gericht folgt dem nicht generell und uneingeschränkt. Vielmehr ist in jedem Einzelfall festzustellen, ob noch ein Zusammenhang mit der Einreise besteht bzw. eine spezifische Krisensituation des unbegleiteten minderjährigen Hilfeempfängers besteht, die sich von der des typischen Eltern-Kind-Konflikts erheblich unterscheidet (insofern die Notwendigkeit des Verteilungsverfahrens begründend BT-Drs. 18/5921 S. 15). Eine solche könnte möglicherweise angenommen werden, wenn der zunächst in Begleitung Sorgeberechtigter eingereiste Minderjährige bei der unmittelbar anschließenden Weiterreise der Sorgeberechtigten ins Ausland zurückgelassen wird.
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Vorliegend wurde der Hilfeempfänger jedoch seit seiner Einreise am 30. Oktober 2015 von den Eltern betreut. Ihm wurde am 17. März 2016 und damit mehr als ein Jahr vor dem Beginn der Inobhutnahme durch den Beigeladenen die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. In einem solchen Fall besteht wertungsmäßig kein Unterschied zu einem inländischen Jugendlichen, dessen Eltern die Erziehungsverantwortung nicht mehr wahrnehmen können oder wollen. Es handelt sich daher - wie der Beklagte zutreffend ausführt - um reguläre Jugendhilfe, für die § 89d Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 SGB VIII nicht gilt und die der Beigeladene im eigenen Wirkungskreis (Art. 15 Satz 2 Halbs. 2 AGSG) und in finanzieller Eigenverantwortung erbringen muss.
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3. Ein anderes Ergebnis folgt auch nicht aus den Vorgaben des Bayerischen Landesjugendamts. Diese sind bereits für die Beteiligten nicht verbindlich, weil das Landesjugendamt nach §§ 85 Abs. 2, 69 Abs. 3 SGB VIII nur eine beratende und koordinierende Funktion hat und ihm keine Weisungsrechte oder Richtlinienkompetenzen zukommen (vgl. Loos in Wiesner, SGB VIII, 5. Aufl. 2015, § 85 Rn. 6). Jedenfalls wären derartige norminterpretierende Vorgaben nicht für die Gerichte verbindlich (vgl. Rennert in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 114 Rn. 58). Zuletzt würde die Auslegung der Vorgaben des Bayerischen Landesjugendamts im Ergebnis ebenso zu keinem Kostenerstattungsanspruch führen. Es sind insoweit nämlich zwei Tatbestandsmerkmale zu unterscheiden: Einerseits das Merkmal „unbegleitet“, andererseits die Einhaltung der Monatsfrist. Die Trennung kommt im Schreiben des Landesjugendamts bzw. in den in Bezug genommenen Auslegungshilfen des BMFSFJ insofern zum Ausdruck, als beide Merkmale in jeweils eigenen Abschnitten bzw. als selbstständige Fragen behandelt werden. Auch im Gesetz ist diese Differenzierung angelegt, weil sich das Merkmal „unbegleitet“ erst aus § 89d Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 i.V.m. § 88a Abs. 1 SGB VIII ergibt. Eine Vermischung beider Merkmale in der Weise, dass für die Frage des Unbegleitetseins wegen Nr. 6 der Praxishinweise des Bayerischen Landesjugendamts bzw. Ziff. 8 der FAQ des BMFSFJ auf den Zeitpunkt der Kenntnis des Jugendamts abzustellen sei, ist daher nicht überzeugend.
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4. Auch die Definition des Art. 2 Buchst. l der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. Nr. L 337 S. 9, ber. ABl. 2017 Nr. L 167 S. 58 - Qualifikationsrichtlinie) hat für vorliegenden Streit keine Verbindlichkeit. Schon nach dem Wortlaut gilt die darin enthaltene Definition nur für die Auslegung der Bestimmungen der Qualifikationsrichtlinie („im Sinne dieser Richtlinie“). Zudem beziehen sich diese unionsrechtlichen Bestimmungen nicht auf kostenerstattungsrechtliche Fragen der einzelnen Mitgliedstaaten.
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5. Dies gilt auch für das Working Paper 26 des Bundesamts. Bei diesem handelt es sich lediglich um eine Studie, die sich mit der Aufnahme, Integration und Rückkehr unbegleiteter minderjähriger Migranten in bzw. aus Deutschland beschäftigt und daher keine Bedeutung für die Auslegung kostenerstattungsrechtlicher Vorschriften hat.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Das Verfahren ist gemäß § 188 Satz 2 Halbs. 2 VwGO nicht gerichtskostenfrei.
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Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 Abs. 1, Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.