Inhalt

VGH München, Beschluss v. 06.07.2020 – 15 ZB 20.96
Titel:

Befreiung von einer Gebietsfestsetzung

Normenkette:
BauGB § 31 Abs. 2
Leitsatz:
Die Festsetzungen zur Gebietsart sind grundsätzlich drittschützend und stellen regelmäßig einen Grundzug der Planung dar. (Rn. 12) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Zulassung der Berufung (abgelehnt), Funktionslosigkeit einer Gebietsfestsetzung, Befreiung von einer Gebietsfestsetzung, Boardinghaus, Gewerbegebiet, Grundzüge der Planung
Vorinstanz:
VG Regensburg, Urteil vom 26.11.2019 – RN 6 K 19.825
Fundstelle:
BeckRS 2020, 16909

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Die Beigeladene trägt die Kosten des Berufungszulassungsverfahrens mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Beklagten, die diese selbst trägt.
III. Der Streitwert für das Berufungszulassungsverfahren wird auf 15.000,- Euro festgesetzt.

Gründe

I.
1
Die Beigeladene wendet sich gegen die erstinstanzliche Aufhebung der ihr von der Beklagten erteilten Baugenehmigung für die Errichtung eines dreiteiligen Gebäudes mit Eigentumswohnungen, einem Boardinghaus und einem Bürogebäude auf der derzeit unbebauten FlNr. …56 Gemarkung G* … (Baugrundstück).
2
Das Baugrundstück und die westlich daran angrenzenden Grundstücke des Klägers (FlNrn. …57 und …58 Gemarkung G* …*) liegen im Geltungsbereich des Bebauungsplans „R* …“ der Beklagten, der im Jahr 1972 aufgestellt wurde und für diese drei Grundstücke ein Gewerbegebiet und für die nördlich angrenzenden Grundstücke ein allgemeines Wohngebiet und für die südlich gelegenen Grundstücke ein reines Wohngebiet festsetzt. Der Kläger betreibt auf dem Grundstück FlNr. …58 eine Werkstatt für behinderte Menschen nach dem Sozialgesetzbuch IX. Diese umfasst eine Metallfertigung (Stanzen, Schweißen und Zerspanen), Pulverbeschichtung, Werkzeug- und Vorrichtungsbau, Tampondruckerei, Laserbeschriftung, Montage, Verpackung und Hauswirtschaft. Die FlNr. …57, die ebenfalls im Eigentum des Klägers steht, ist gewerblich vermietet (Großhandel für Büromaterial). Der Kläger macht geltend, dieses Grundstück sei die einzige Erweiterungsmöglichkeit für seinen Betrieb. Eine Erweiterung sei in den kommenden Jahren vorgesehen.
3
Mit Bescheid vom 2. April 2019 erteilte die Beklagte der Beigeladenen die beantragte Baugenehmigung auf dem Baugrundstück. Für das Wohngebäude erteilte die Beklagte eine Befreiung von den Festsetzungen des Bebauungsplans zur Art der Nutzung.
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Mit Urteil vom 26. November 2019 hat das Verwaltungsgericht Regensburg den Bescheid vom 2. April 2019 aufgehoben. Die Baugenehmigung sei rechtswidrig und verletze den Kläger in seinen Rechten. Die Festsetzung eines Gewerbegebietes sei nicht funktionslos geworden, denn bloße Zweifel an der Realisierungsfähigkeit reichten nicht aus, sondern ein Bebauungsplan trete nur außer Kraft, wenn offenkundig sei, dass er seine Funktion als Steuerungsinstrument verloren habe. Dies sei hier nicht der Fall, denn das Baugebiet sei keineswegs als Mischgebiet einzustufen, sondern auf den beiden sich im Eigentum des Klägers befindlichen Grundstücken sei eine gewerbliche Nutzung erkennbar, die das nur drei Parzellen umfassende Gewerbegebiet durchgehend präge. Der Umstand, dass angrenzend an das Gewerbegebiet Wohngebiete festgesetzt worden seien und auch Wohnbebauung entstanden sei, führe nicht zur Funktionslosigkeit. Es müsse zwar Rücksicht auf die Wohnbebauung genommen werden und die für ein Gewerbegebiet geltenden Lärmimmissionsrichtwerte könnten nicht mehr voll ausgeschöpft werden. Das führe aber nicht dazu, dass damit in einem Gewerbegebiet grundsätzlich zulässige Nutzungen generell nicht mehr zugelassen werden könnten. Das Wohngebäude und das Boardinghaus seien in einem Gewerbegebiet nicht zulässig und der Kläger sei dadurch in seinem Gebietserhaltungsanspruch verletzt. Eine Befreiung von der Art der baulichen Nutzung sei nicht möglich, da damit die Grundzüge der Planung berührt würden. Im Übrigen betreffe der Grund für die Befreiung, nämlich die angrenzende Wohnbebauung, nicht nur das Baugrundstück, sondern alle drei im Gewerbegebiet liegenden Grundstücke. Eine Änderung könne daher nur durch eine Änderung des Bebauungsplans aber nicht durch die Erteilung einer Befreiung erfolgen. Aus der 20. Änderung des Bebauungsplans, mit der für die streitgegenständlichen Grundstücke ein Mischgebiet festgesetzt werden sollte, die aber mangels Genehmigung nach übereinstimmender Ansicht der Beteiligten nicht wirksam geworden sei, lasse sich nichts Anderes ableiten. Dass das streitgegenständliche Gewerbegebiet in den darauffolgenden Änderungen des Bebauungsplans in anderen Bereichen als Mischgebiet dargestellt worden sei, ändere an der Festsetzung als Gewerbegebiet nichts.
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Dagegen wendet sich die Beigeladene mit ihrem Antrag auf Zulassung der Berufung. Sie macht geltend, das Verwaltungsgericht habe nur auf die formelle Geltung des Bebauungsplans abgestellt. Dies halte rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Darüber hinaus habe die Rechtssache insoweit grundsätzliche Bedeutung, da damit die Rechtsprechung zur Funktionslosigkeit eines Planungsgebiets weiterentwickelt werden könne. Hier sei zu erkennen, dass es nicht nur darum gehe, ob die 20. Änderung des Bebauungsplans wirksam geworden sei, sondern ob die übrigen, in die gleiche Richtung tendierenden Änderungen, ebenfalls ein Mischgebiet vorgesehen hätten. Es handele sich um mehr als eine konträre Entwicklung, denn die Beklagte habe wegen der angrenzenden Wohnbebauung geplant, das Gebiet vollständig in ein Mischgebiet umzufunktionieren. Der Charakter des Gebiets habe sich in den letzten 30 Jahren auch schon dahingehend verändert und die Beklagte gehe selbst von der Funktionslosigkeit des Bebauungsplans aus. Da das Gewerbegebiet direkt an ein Wohngebiet angrenze, könne dort nur nichtstörendes Gewerbe angesiedelt werden. Die Wohnnutzung der Beigeladenen rücke nicht näher an die Grundstücke des Klägers heran als die schon bestehende nördliche Wohnbebauung. Es liege ein Sonderfall vor, bei dem die Grundkonzeption des Bebauungsplans durch die Erteilung der Befreiung für den Kläger nicht nachteilig verändert werde. Im Übrigen werde auf die Stellungnahme der Beklagten im Verfahren RN 6 S 19.824 verwiesen.
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Der Kläger macht geltend, die Beigeladene habe Berufungszulassungsgründe nicht hinreichend dargelegt. Sie setze sich nicht mit der Frage auseinander, welche Rechtsfolgen sich aus einer Funktionslosigkeit der Festsetzungen des Bebauungsplans ergeben würden. Im Übrigen sei die Festsetzung eines Gewerbegebiets auch nicht funktionslos. Das Aufeinandertreffen eines allgemeinen oder reinen Wohngebiets mit einem Gewerbegebiet mache den Bebauungsplan nicht funktionslos, sondern führe nur zu erhöhten Rücksichtnahmepflichten. Die Festsetzung eines Mischgebiets sei nicht rechtswirksam erfolgt. Eine Befreiung von der Art der Nutzung komme nicht in Betracht. Eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache sei ebenfalls nicht hinreichend dargelegt. Die Fragen seien unverständlich. Die Zitierung der Rechtsauffassung der Beklagten könne keine grundsätzliche Bedeutung begründen.
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Die Beklagte schließt sich dem Vortrag der Beigeladenen an, stellt aber keinen eigenen Antrag.
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Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten, auch im Verfahren RN 6 S 19.824, und die vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.
II.
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Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg. Aus der Antragsbegründung, auf die sich gemäß § 124a Abs. 5 Satz 2 VwGO die Prüfung im Zulassungsverfahren beschränkt (BayVerfGH, E.v. 14.2.2006 - Vf. 133-VI-04 - VerfGHE 59, 47/52; E.v. 23.9.2015 - Vf. 38-VI-14 - BayVBl 2016, 49 Rn. 52; Happ in Eyermann, VwGO, 15. Auflage 2019, § 124a Rn. 54), ergeben sich die geltend gemachten Berufungszulassungsgründe (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 und 3 VwGO) nicht.
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1. Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils liegen (nur) vor, wenn der Rechtsmittelführer einen tragenden Rechtssatz oder eine erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage stellt (stRspr, vgl. BVerfG, B.v. 9.6.2016 - 1 BvR 2453.12 - NVwZ 2016, 1243 Rn. 16; B.v. 18.6.2019 - 1 BvR 587.17 - DVBl 2019, 1400 Rn. 32 m.w.N.). Das ist hier nicht der Fall.
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Die Beigeladene konnte die Rechtsansicht des Verwaltungsgerichts, der Bebauungsplan sei hinsichtlich der Festsetzung eines Gewerbegebiets auf dem Baugrundstück nicht funktionslos geworden und das Vorhaben der Beigeladenen deshalb nicht zulässig und der Kläger in seinen Rechten verletzt, nicht erschüttern. Das Verwaltungsgericht ist dabei zutreffend davon ausgegangen, dass die Anforderungen an das Außerkrafttreten eines Bebauungsplans wegen Funktionslosigkeit hoch und im vorliegenden Fall nicht erfüllt sind. Dem ist die Antragsbegründung nicht hinreichend substantiiert entgegengetreten, sondern macht nur geltend, die Beklagte habe es nur versäumt, die Änderung in ein Mischgebiet verwaltungstechnisch umzusetzen. Mit der Argumentation des Verwaltungsgerichts, dass durchaus noch gewerbliche Nutzungen auf dem Baugrundstück und den Grundstücken des Klägers genehmigt, nur die Lärmwerte für ein Gewerbegebiet nicht voll ausgeschöpft werden könnten, setzt sich die Beigeladene nicht hinreichend auseinander. Dass die Beklagte davon ausgeht, der Bebauungsplan sei funktionslos geworden, führt nicht zu einer anderen Beurteilung. Im Übrigen erscheint die Auffassung der Beklagten, der Bebauungsplan sei zwar funktionslos, gleichwohl werde aber eine Befreiung von den Festsetzungen zur Gebietsart erteilt, widersprüchlich.
12
Soweit die Beigeladene meint, es liege ein Sonderfall vor und deshalb könne für das Wohngebäude ausnahmsweise eine Befreiung von den Festsetzungen zur Gebietsart erteilt werden, kann dem nicht gefolgt werden. Nach § 31 Abs. 2 BauGB kann von den Festsetzungen eines Bebauungsplans selbst bei Vorliegen einer der Tatbestände der Nrn. 1 bis 3 nur dann befreit werden, wenn die Grundzüge der Planung nicht berührt werden. Zutreffend ist das Verwaltungsgericht davon ausgegangen, dass die Festsetzungen zur Gebietsart grundsätzlich drittschützend sind (vgl. Roeser in Berliner Kommentar BauGB, Stand März 2020, § 30 Rn. 24) und regelmäßig einen Grundzug der Planung darstellen (vgl. Söfker in Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, Baugesetzbuch, Stand Februar 2020, § 31 Rn. 36). Aus welchen Gründen dies hier ausnahmsweise anders sein sollte, legt die Antragsbegründung nicht hinreichend substantiiert dar. Darüber hinaus ist das Verwaltungsgericht davon ausgegangen, dass eine Befreiung auch deshalb nicht erteilt werden könne, weil die Gründe für die erteilte Befreiung für alle Grundstücke im Gewerbegebiet vorlägen und damit nur eine Änderung des Bebauungsplans in Betracht komme (vgl. dazu Söfker a.a.O. m.w.N.). Dieser Argumentation hat die Antragsbegründung nichts entgegengesetzt.
13
Zudem geht das Verwaltungsgericht davon aus, dass auch das Boardinghaus in einem Gewerbegebiet nicht zulässig sei, unabhängig davon, ob man es einer Wohnnutzung zuordnet oder als Beherbergungsbetrieb einstuft. Damit hat sich die Beigeladene nicht auseinandergesetzt.
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Soweit sich die Beigeladene ohne weitere Auseinandersetzung mit dem erstinstanzlichen Urteil auf den Schriftsatz der Beklagten im Eilverfahren beruft, kann dies nicht zur Zulassung der Berufung führen. Bezugnahmen auf das erstinstanzliche Vorbringen genügen dem Darlegungsgebot regelmäßig nicht (vgl. Happ in Eyermann, VwGO, 15. Auflage 2019, § 124a Rn. 65), denn sie lassen naturgemäß eine Würdigung der angegriffenen Entscheidung vermissen.
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2. Die Berufung kann auch nicht wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen werden. Zur Darlegung einer grundsätzlichen Bedeutung ist erforderlich, dass eine konkrete Tatsachen- oder Rechtsfrage formuliert und aufgezeigt wird, weshalb die Frage im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder der Fortentwicklung des Rechts klärungsbedürftig und klärungsfähig, insbesondere entscheidungserheblich, ist; ferner, worin die allgemeine, über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung dieser Frage besteht (vgl. Happ in Eyermann, VwGO, § 124a Rn. 72; Rudisile in Schoch/Schneider/Bier, VwGO, Stand Juli 2019, § 124a Rn. 102 ff.). Dem genügt die Antragsbegründung nicht.
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Soweit die Beigeladene geltend macht, die Streitsache könne der Fortentwicklung der Rechtsprechung zur Funktionslosigkeit von Bebauungsplänen dienen, ist damit keine hinreichend konkrete Frage formuliert. Im Übrigen ist geklärt, dass bauplanerische Festsetzungen funktionslos sind, wenn und soweit die tatsächlichen Verhältnisse, auf die sie sich beziehen, in der tatsächlichen Entwicklung einen Zustand erreicht haben, der eine Verwirklichung der Festsetzungen auf unabsehbare Zeit ausschließt und diese Tatsache so offensichtlich ist, dass ein in ihre Fortgeltung gesetztes Vertrauen keinen Schutz verdient (vgl. BVerwG, U.v. 29.4.1977 - 4 C 39.75 - BVerwGE 54, 5; B.v. 22.7.2010 - 4 B 22.10 - DVBl 2010, 1374 = juris Rn. 10 f.; BayVGH, B.v. 13.10.2017 - 15 ZB 14.1788 - juris Rn. 11). Ob eine Festsetzung im konkreten Fall funktionslos geworden ist, mag teilweise schwierig zu bestimmen sein, ist aber regelmäßig eine Frage des Einzelfalls und einer grundsätzlichen Klärung nicht zugänglich.
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3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Die Beigeladene ist aber nicht verpflichtet, die außergerichtlichen Kosten der Beklagten zu tragen. Diese hat im Berufungszulassungsverfahren nicht obsiegt und ist deshalb nicht erstattungsberechtigt. Die Streitwertfestsetzung ergibt sich aus § 47 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 und § 52 Abs. 1 GKG i.V.m. den Empfehlungen in Nr. 9.7.1. des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013 (abgedruckt in Eyermann, VwGO, Anhang) und entspricht dem vom Verwaltungsgericht festgesetzten Betrag, gegen den die Beteiligten keine Einwände erhoben haben.
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4. Dieser Beschluss, mit dem die Entscheidung des Verwaltungsgerichts rechtskräftig wird (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO), ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).