Inhalt

VG Würzburg, Beschluss v. 06.02.2020 – W 10 S 19.32292
Titel:

Rechtsschutz gegen Abschiebungsandrohung eines nachgeborenen Kindes einer in Italien Schutzberechtigten

Normenketten:
VwGO § 80 Abs. 4, Abs. 5 S. 1, § 88, § 122 Abs. 1
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1 lit. a, Nr. 2, § 34a Abs. 1 S. 4, § 37 Abs. 1, § 35, § 36 Abs. 1
Dublin III-VO Art. 20 Abs. 3, Art. 29 Abs. 2 S. 1
EUV Art. 4 Abs. 3
Leitsatz:
Ist die Dublin III-VO im konkreten Fall nicht mehr anwendbar, dürfte aufgrund des unionsrechtlichen Effektivitätsprinzips auch eine analoge Anwendung ausgeschlossen sein.  (Rn. 21) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Herkunftsland Nigeria, Überstellung nach Italien, Unzulässiger Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung, Aussetzung der Vollziehung durch das BAMF, Abschiebungsandrohung im Dublin-Verfahren, Nachgeborenes Kind einer in Italien Schutzberechtigten, Bescheid, Asylantrag, Asylverfahren, Aufenthaltsverbot, aufschiebende Wirkung, Einreise, Italien, Migration, Vollziehung, Abschiebung, Abschiebungsandrohung, Nigeria, Überstellung, BAMF, Aussetzungsinteresse
Fundstelle:
BeckRS 2020, 1588

Tenor

I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Die Antragstellerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

I.
1
Die Antragstellerin begehrt einstweiligen Rechtsschutz gegen die Androhung der Abschiebung nach Italien im sog. Dublin-Verfahren.
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1. Die Antragstellerin ist ein am ... 2019 im Bundesgebiet nachgeborenes Kind einer Asylbewerberin aus Nigeria. Ihre Mutter, die am 28. Januar 2018 in das Bundesgebiet einreiste, ist nach der Auskunft des Italienischen Innenministeriums vom 6. April 2018 (Bl. 98 der Akte des Asylverfahrens der Mutter, Gz. ...) in Italien international schutzberechtigt und im Besitz einer bis 27. Juli 2021 gültigen Aufenthaltsgenehmigung für Italien. Demzufolge hat das Bundesamt für ... (im Folgenden: Bundesamt) den Asylantrag der Mutter der Antragstellerin vom 2. März 2018 mit Bescheid vom 25. April 2018 gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG als unzulässig abgelehnt. Hiergegen ist beim Bayerischen Verwaltungsgericht München eine Klage anhängig (Az. M 13 K 18.31938).
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Am 24. September 2019 wurde für die Antragstellerin gemäß § 14 Abs. 2 AsylG schriftlich Asyl beantragt.
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2. Mit Bescheid vom 3. Dezember 2019 lehnte das Bundesamt den Asylantrag gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG i.V.m. Art. 20 Abs. 3 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 vom 26. Juni 2013 (Dublin III-VO) als unzulässig ab (Ziffer 1), stellte fest, dass Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG nicht bestehen (Ziffer 2), forderte die Antragstellerin zur Ausreise innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe des Bescheides auf und drohte ihr die Abschiebung nach Italien an (Ziffer 3). Das Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet.
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Dieser Bescheid wurde am 5. Dezember 2019 als Übergabe-Einschreiben zur Post gegeben (Bl. 119 der Bundesamtsakte).
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3. Hiergegen ließ die Antragstellerin mit Schriftsatz ihrer Bevollmächtigten vom 19. Dezember 2019 Klage erheben (Az. W 10 K 19.32291), über die noch nicht entschieden ist.
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Zugleich wurde beantragt,
die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsandrohung wiederherzustellen, sowie der Antragsgegnerin mitzuteilen, dass aufenthaltsbeendende Maßnahmen bis zur Entscheidung über den Eilantrag nicht durchgeführt werden dürfen.
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Zur Begründung von Klage und Antrag wurde auf systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylsuchende in Italien verwiesen. Die Antragstellerin gehöre zu der besonders schutzbedürftigen Personengruppe der Familie mit Neugeborenen und Kleinkindern i.S. der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 4. November 2014 (Tarakhel/Schweiz, Az. 29217/12, NVwZ 2015, 127 ff.). Demnach dürften Angehörige dieses Personenkreises ohne individuelle Garantien der italienischen Behörden nicht nach Italien abgeschoben werden. Des Weiteren stehe anerkannt Schutzberechtigten nach Art. 20 ff. der Richtlinie 2011/95/EU ein Anspruch auf Inländergleichbehandlung zu. Das Bundesverfassungsgericht habe in Bezug auf Griechenland entschieden, dass die dort zum damaligen Zeitpunkt gewährten Sozialleistungen an einen bis zu 20-jährigen Aufenthalt anknüpften, weshalb anerkannt Schutzberechtigte von der Inanspruchnahme dieser Leistungen faktisch ausgeschlossen seien (mit Verweis auf BVerfG, B.v. 8.5.2017 - 2 BvR 157/17 - juris Rn. 20). Eine vergleichbare Situation liege auch in Italien in Bezug auf das "Bürgergeld" vor, welches für Menschen, die nicht zuvor einer Beschäftigung nachgegangen seien, den weitaus größten und einzig sicheren Teil staatlicher Sozialleistungen ausmache. Auch ein zehnjähriger Aufenthalt in Italien als Grundvoraussetzung für den Leistungsbezug dürfte für anerkannt Schutzberechtigte mit einem faktischen Leistungsausschluss gleichgesetzt werden. Deshalb überwiege das Aussetzungsinteresse der Antragstellerin gegenüber dem öffentlichen Interesse am sofortigen Verlassen des Bundesgebietes.
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4. Die Antragsgegnerin beantragt,
den Antrag abzulehnen.
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Des Weiteren wurde mit Schreiben vom 23. Dezember 2019 die Vollziehung der Abschiebungsandrohung im Bescheid vom 3. Dezember 2019 ausgesetzt.
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Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, durch die Aussetzung der Vollziehung nach § 80 Abs. 4 VwGO werde die Wirksamkeit dieses Verwaltungsaktes vorläufig gehemmt. Sie lebe wieder auf, wenn die Entscheidung des Bundesamtes über den Asylantrag unanfechtbar werde oder das Bundesamt die Aussetzung ändere oder aufhebe. Das Bundesverwaltungsgericht habe in seinem Urteil vom 15. Januar 2019 (Az. 1 C 15.18) festgestellt, dass das Bundesamt die Vollziehung der Abschiebungsandrohung nach § 80 Abs. 4 VwGO aussetzen könne. Solange die Wirksamkeit derselben gehemmt sei, sei ein Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung nach § 80 Abs. 5 VwGO weder statthaft, noch bestehe dahingehend ein Rechtsschutzbedürfnis.
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Hierzu erwiderte die Antragstellerin nach Aufforderung mit Schreiben des Gerichts vom 7. Januar 2020, dass das Bundesverwaltungsgericht in der zitierten Entscheidung festgestellt habe, dass das Bundesamt nicht abweichend von § 36 Abs. 1 AsylG die Ausreisefrist in der Abschiebungsandrohung statt auf eine Woche nach Bekanntgabe des Bescheides auf 30 Tage nach Bekanntgabe bzw. im Falle der Klageerhebung nach unanfechtbarem Abschluss des Verfahrens festsetzen dürfe. Diese vom Bundesamt unter Rückgriff auf die nicht einschlägige Auffangregelung in § 38 Abs. 1 AsylG festgesetzte Ausreisefrist stehe angesichts der eindeutigen Regelung in § 36 Abs. 1 AsylG objektiv nicht im Einklang mit dem Asylgesetz. Eine wegen der gesetzten Ausreisefrist objektiv rechtswidrige Abschiebungsandrohung könne auch nicht in eine rechtmäßige Abschiebungsandrohung nach § 36 Abs. 1 AsylG unter gleichzeitiger Aussetzung des Vollzugs nach § 80 Abs. 4 VwGO umgedeutet werden.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtssowie der vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.
II.
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Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsandrohung in Ziffer 3 des Bescheides der Antragsgegnerin vom 3. Dezember 2019 ist unzulässig.
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1. Der - gemäß §§ 122 Abs. 1, 88 VwGO entsprechend auszulegende - Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage ist nicht statthaft, weil die Antragsgegnerin die kraft Gesetzes bestehende sofortige Vollziehbarkeit der auf § 34a Abs. 1 Satz 4 AsylG beruhenden Abschiebungsandrohung (§ 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i.V.m. § 75 Abs. 1 Satz 1 AsylG e contrario) nach § 80 Abs. 4 VwGO ausgesetzt hat.
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Zumindest fehlt dem Antrag aber das erforderliche Rechtsschutzbedürfnis, da die Antragstellerin ihre Rechtstellung durch eine Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage nicht verbessern könnte. Denn aufgrund der gemäß § 80 Abs. 4 VwGO erfolgten Aussetzung der Vollziehung lebt die aufschiebende Wirkung (§ 80 Abs. 1 Satz 1 VwGO) wieder auf.
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2. Die Aussetzung der Vollziehung der Abschiebungsandrohung ist auch nicht rechtsmissbräuchlich und deshalb unwirksam.
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a) Zwar beruft sich die Antragsgegnerin in ihrer Begründung der Aussetzung der Vollziehung zu Unrecht auf die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 15. Januar 2019 (Az.: 1 C 15.18, juris). Denn im Falle der Antragstellerin droht keine asylverfahrensrechtliche "Endlos-Schleife" im Sinne der genannten Entscheidung, wie sie im Falle des Unwirksamwerdens der Ablehnung des Asylantrags als unzulässig gemäß § 29 Abs. 1 AsylG sowie der auf der Grundlage der §§ 34, 35, 36 Abs. 1 AsylG erlassenen Abschiebungsandrohung nach § 37 Abs. 1 Satz 1 AsylG eintreten würde, weil die Antragsgegnerin dann nach § 37 Abs. 1 Satz 2 AsylG verpflichtet wäre, das Asylverfahren fortzuführen (vgl. BVerwG, U.v. 15.1.2019 - 1 C 15.18 - juris Rn. 49 m.w.N.).
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Darum geht es im vorliegenden Verfahren der Antragstellerin aber nicht, weil der Asylantrag nicht nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG mit der Rechtsfolge des § 37 Abs. 1 Satz 1 AsylG, sondern auf der Grundlage des § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchstabe a) AsylG i.V.m. Art. 20 Abs. 3 Dublin III-VO als unzulässig abgelehnt wurde. Demzufolge entstände im Falle der Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage im vorliegenden Verfahren nicht die als "Endlosschleife" umschriebene Situation, welche aus der Regelung des § 37 Abs. 1 Satz 2 AsylG für die Fälle des § 29 Abs. 1 Nr. 2 (und Nr. 4) AsylG resultiert. Eine solche Rechtsfolge ist für die Fälle der Ablehnung des Asylantrags als unzulässig gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG i.V.m. der Dublin III-VO gerade nicht angeordnet. Vielmehr bliebe es in diesem Falle aufgrund der Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsandrohung dabei, dass der Asylantrag wirksam, wenngleich nicht bestandskräftig, als unzulässig abgelehnt ist (vgl. § 43 Abs. 2 VwVfG), die Ausreiseaufforderung mit Abschiebungsandrohung aber nicht vollziehbar ist und die Antragstellerin somit bis zur rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache im Bundesgebiet verbleiben dürfte.
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b) Dennoch bleibt es der Antragsgegnerin in einer Fallgestaltung wie der vorliegenden unbenommen, gemäß § 80 Abs. 4 VwGO die Vollziehung der Abschiebungsandrohung auszusetzen, weil dafür objektiv nachvollziehbare und somit nicht rechtsmissbräuchliche Gründe bestehen (vgl. BVerwG, U.v. 8.1.2019 - 1 C 16.18 - juris Rn. 22 ff., insb. 27). Rechtsmissbrauch läge vielmehr vor, wenn die Antragsgegnerin aus objektiv nicht vorliegenden und somit nur vorgeschobenen sachlichen Gründen die Vollziehung aussetzte, weil sie in Wirklichkeit andere Gründe, namentlich die Unterbrechung der Überstellungsfrist gemäß Art. 29 Abs. 1 Dublin III-VO und damit die Verhinderung eines Zuständigkeitsübergangs gemäß Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-VO, verfolgte (vgl. BVerwG a.a.O., Rn. 27).
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Im vorliegenden Falle liegen die Dinge aber anders, weil die Erfolgsaussichten der Klage der Antragstellerin in der Hauptsache derzeit zumindest offen sind. Offen ist nämlich, ob der Asylantrag der Antragstellerin gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchstabe a) AsylG als unzulässig abgelehnt werden durfte. Die Antragsgegnerin begründet ihre Entscheidung mit einer analogen Anwendung des Art. 20 Abs. 3 der Dublin III-VO. Dem steht aber entgegen, dass die Eltern der Antragstellerin bzw. zumindest deren Mutter wegen der in Italien erfolgten Anerkennung kein Antragsteller i.S. des Art. 20 Abs. 3 i.V.m. Art. 2 Buchst. c) Dublin III-VO, sondern Begünstigte internationalen Schutzes gemäß Art. 2 Buchst. f) Dublin III-VO ist. In dieser Situation ist die Dublin III-VO nicht mehr anwendbar (EuGH, B.v. 5.4.2017 - C-36/17, Daher Muse Ahmed - juris), weshalb aufgrund des unionsrechtlichen Effektivitätsprinzips (effet utile, Art. 4 Abs. 3 EUV) auch eine analoge Anwendung ausgeschlossen sein dürfte. Schon aus diesem Grunde dürfte - was aber im Hauptsacheverfahren zu entscheiden wäre - auch eine Ablehnung des Asylantrags als unzulässig nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AsylG schlichtweg ausscheiden. Denn die Anwendbarkeit dieser Rechtsgrundlage setzt gerade voraus, dass ein anderer Mitgliedstaat auf der Grundlage der Dublin III-VO zuständig ist, was aber mangels Anwendbarkeit des Art. 20 Abs. 3 Dublin III-VO im Falle der Antragstellerin nicht zutrifft.
22
Ob dem gegenüber eine teleologische Extension, d.h. eine erweiternde Auslegung oder analoge Anwendung des § 29 Abs. 1 Nr. 1a AsylG auf Fälle wie den vorliegenden zulässig ist, erscheint angesichts des Streitstandes zur vergleichbaren Problematik des Analogieschlusses aus § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG offen. Nach dem bisherigen Stand der Rechtsprechung vertreten der Bayerische Verwaltungsgerichtshof (B.v. 22.11.2018 - 21 ZB 18.32867 - Rn. 17 ff.), der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg (B.v. 14.3.2018 - A 4 S 544/18 - juris Rn. 9 ff.), das Oberverwaltungsgericht Lüneburg (B.v. 26.2.2019 - 10 LA 218/18 - juris Rn. 5 ff.) sowie der 4. Senat des Oberverwaltungsgerichts Schleswig-Holstein (B.v. 27.3.2019 - 4 LA 68/19 - juris Rn. 5 ff.) eine Analogie bzw. erweiternde Auslegung des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG auf nachgeborene Kinder anerkannter Schutzberechtigter. Dem gegenüber lehnt der 1. Senat des Oberverwaltungsgerichts Schleswig-Holstein (B.v. 7.11.2019 - 1 LB 5/19) dies mit beachtlichen systematischen und teleologischen Erwägungen ab. Gegen die letztgenannte Entscheidung wurde Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision zum Bundesverwaltungsgericht erhoben.
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c) In dieser Situation sind die Erfolgsaussichten der vorliegenden Klage gegen die Abschiebungsandrohung offen, so dass eine Abwägung des Aussetzungsinteresses der Antragstellerin gegenüber dem öffentlichen Vollzugsinteresse ergibt, dass das Aussetzungsinteresse derzeit überwiegt. In dieser Situation durfte die Antragsgegnerin also die Vollziehung der Abschiebungsandrohung aussetzen (§ 80 Abs. 4 VwGO).
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3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO i.V.m. § 83b AsylG.