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OLG München, Endurteil v. 24.06.2020 – 10 U 5445/19
Titel:

Anforderungen an gerichtliche Überzeugungsbildung

Normenkette:
ZPO § 286
Leitsatz:
Nach § 286 I 1 ZPO hat das Gericht unter Berücksichtigung des gesamten Inhalts der Verhandlung und des Ergebnisses einer Beweisaufnahme nach freier Überzeugung zu entscheiden, ob eine tatsächliche Behauptung (hier bezüglich eines Verkehrsunfalls) für wahr oder nicht wahr zu erachten ist. Diese Überzeugung des Richters erfordert keine absolute oder unumstößliche, gleichsam mathematische Gewissheit und auch keine „an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit“, sondern nur einen für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit, der Zweifeln Schweigen gebietet.  (Rn. 4) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Zivilprozess, Beweiswürdigung, gerichtliche Überzeugungsbildung, Anforderungen, Verkehrsunfall
Vorinstanz:
LG Traunstein, Endurteil vom 06.08.2019 – 7 O 366/18
Fundstelle:
BeckRS 2020, 15498

Tenor

I. Auf die Berufung der Beklagten vom 24.09.2019 wird das Endurteil des Landgerichts Traunstein vom 06.08.2019 in Richtung der Beklagten A. V. AG abgeändert und wie folgt neu gefasst:
1. Die Beklagte wird verurteilt, samtverbindlich mit dem vormaligen Beklagten zu 1) an den Kläger 4400,55 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit 27.01.2018 sowie vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten in Höhe von 492,54 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit 02.03.2018 zu bezahlen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
2. Die Kostenentscheidung bleibt der Endentscheidung im Verfahren gegen den vormaligen Beklagten zu 1), Aktenzeichen 10 U 1018/20 vorbehalten.
Die weitergehende Berufung der Beklagten wird zurückgewiesen.
II. Die Kosten des Berufungsverfahrens trägt der Kläger
III. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

Entscheidungsgründe

A.
1
Von der Darstellung der tatsächlichen Feststellungen wird abgesehen (§§ 540 II, 313 a I 1 ZPO i. Verb. m. § 26 Nr. 8 EGZPO).
B.
2
Die statthafte sowie form- und fristgerecht eingelegte und begründete, somit zulässige Berufung hat in der Sache überwiegend Erfolg.
I.
3
Das Landgericht ging im Ergebnis zu Unrecht von der alleinigen Haftung der Beklagten für den dem Kläger beim streitgegenständlichen Unfallgeschehen entstandenen Schaden aus. Ein unfallursächliches Verschulden des vormaligen Beklagten zu 1) ist nicht bewiesen.
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1. Der Senat ist aufgrund der von ihm durchgeführten Beweisaufnahme nicht mit der gemäß § 286 ZPO erforderlichen Sicherheit von der Behauptung der Klagepartei überzeugt, wonach der Kläger sein Fahrzeug während des Überholvorganges seitens des zwischenzeitlich verstorbenen Beklagten zu 1) nicht nach links versetzte und er auch nicht nach links abbiegen wollte. Nach § 286 I 1 ZPO hat das Gericht unter Berücksichtigung des gesamten Inhalts der Verhandlung und des Ergebnisses einer Beweisaufnahme nach freier Überzeugung zu entscheiden, ob eine tatsächliche Behauptung für wahr oder nicht wahr zu erachten ist. Diese Überzeugung des Richters erfordert keine - ohnehin nicht erreichbare (vgl. BGH NJW 1998, 2969 [2971]; Senat NZV 2006, 261; NJW 2011, 396 [397]; KG NJW-RR 2010, 1113) - absolute oder unumstößliche, gleichsam mathematische Gewissheit und auch keine „an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit“, sondern nur einen für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit, der Zweifeln Schweigen gebietet (grdl. BGHZ 53, 245 [256], VersR 2014, 632 f.; OLG Frankfurt a. M. zfs 2008, 264 [265]; Senat VersR 2004, 124; NZV 2006, 261; NJW 2011, 396 [397]; SP 2012, 111).
5
a) . Sowohl der Kläger als auch seine Ehefrau wurden auf das streitgegenständliche Unfallgeschehen erst durch das vernommene Kollisionsgeräusch der Fahrzeuge aufmerksam. Weder der Kläger noch seine Ehefrau beobachteten vor der Kollision ein zu frühes Einscheren des vormaligen Beklagten zu 1) nach rechts. Beide konnten auch nicht sicher angeben, wo und wie Fahrbahnbezogen der Kläger mit seinem Fahrzeug unmittelbar vor der Kollision fuhr. Der Kläger selbst hatte insoweit letztlich nur die Erinnerung, dass es einen Schlag tat und er mit hoher Geschwindigkeit überholt wurde. Er meinte zwar, dass er in seiner Linie geblieben sei, wusste aber nicht mehr wo genau Fahrbahnbezogen erfuhr, als der „Schlag“ passierte. Die Ehefrau des Klägers meinte, der Kläger sei normal rechts gefahren. Sie gab aber weiter an, dass sie sich auf ihren Mann verlässt, dass der rechts fährt und dass sie vor der Kollision auf seine Fahrweise nicht achtete. Insbesondere gab die Ehefrau des Klägers an, dass der vormalige Beklagte zu 1) unmittelbar nach der Kollision dem Kläger vorwarf, dass der Kläger abbiegen wollte, ohne zu blinken. Dieser Vorwurf ist verbunden mit dem Eindruck des vormaligen Beklagten zu 1), dass der Kläger sein Fahrzeug so weit nach links zog, dass er den Eindruck gewann, der Kläger wolle abbiegen. Das nach dem Sachverständigengutachten technisch mögliche Ziehen des klägerischen Pkw nach links während des Überholvorganges des vormaligen Beklagten zu 1) ist hiernach ernsthaft in Betracht zu ziehen. Eine weitere Äußerung der Unfallbeteiligten unmittelbar nach der Kollision zur Ursache des Geschehens existiert nicht. Hiernach ist entsprechend dem Ergebnis des Sachverständigen von einem ungeklärten Unfallgeschehen auszugehen.
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Ein Verschulden des vormaligen Beklagten zu 1) ergibt sich auch nicht aus anderen Gesichtspunkten. Ein Überholverbot bestand nicht. Ein Überholen bei zu geringem Seitenabstand ist nicht bewiesen. Weiter ist nicht bewiesen, dass der vormalige Beklagte zu 1) seinen Überholvorgang einleitete, obwohl er bereits erkennen konnte, dass der Kläger nach links zieht. Auch soweit der Sachverständige davon ausgeht, dass das Fahrzeug des vormaligen Beklagten zu 1) zum Kollisionszeitpunkt etwa doppelt so schnell war wie der Kläger, ergibt sich kein unfallursächliches Verschulden. Die Ehefrau des Klägers gab an, dass dieser langsam gefahren sei, schon wegen der auf Kinder hinweisenden Verkehrsschilder und sie schätzte die Geschwindigkeit auf ca. 30 km/h bis 40 km/h. Es ist daher auch eine Geschwindigkeit des Klägers von nur 25 km/h ernsthaft in Betracht zu ziehen. In diesem Fall ergibt sich schon keine Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit seitens des vormaligen Beklagten zu 1). Auch soweit man von einer höheren Geschwindigkeit des Klägers ausgeht, hat sich diese als solche nicht nachweisbar unfallursächliches ausgewirkt. Unfallursächliches war, dass entweder der vormalige Beklagte zu 1) beim Überholvorgang zu früh nach rechts oder der Kläger während des Überholvorgangs nach links lenkte. Unter diesen Umständen hat sich auch keine höhere Betriebsgefahr unfallursächlich ausgewirkt. Der Senat geht daher von einer hälftigen Haftungsverteilung dem Grunde nach aus.
2. Schadenshöhe:
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Die Berufung berücksichtigt nicht zureichend, dass nach dem Vorbringen der Klagepartei das Sachverständigengutachten erst am 11. Januar versandt wurde (wofür auch die Rechnungsstellung durch den Schadensgutachter am 11. Januar spricht) und das Gutachten dem Kläger nicht vor Samstag, dem 13. Januar vorlag. Aus Laiensicht lag auch kein offensichtlicher Totalschaden vor, weshalb der Kläger den Erhalt des Gutachtens abwarten durfte. Unter Berücksichtigung einer kurzen Überlegungszeit und der vom Schadensgutachter kalkulierten Wiederbeschaffungsdauer von 14 Tagen sind die zugesprochenen Mietwagenkosten daher noch nicht zu beanstanden. Das Ersatzfahrzeug stand dem Kläger ausweislich der Angaben des Klägers in der mündlichen Verhandlung vom 24.07.2018 Protokoll S. 3 = Bl. 35 d.A.) am 19.01. auch noch nicht zur Verfügung.
8
Insgesamt ergibt sich daher ein ersatzfähiger Schaden in Höhe von 8801,11 €. Hiervon waren dem Kläger 4400,55 € zuzusprechen wie tenoriert.
II.
9
Die Kostenentscheidung für das Berufungsverfahren beruht auf § 92 II 1 ZPO und war hinsichtlich der 1. Instanz der Endentscheidung im abgetrennten ununterbrochenen Verfahren gegen den vormaligen Beklagten zu 1) vorzubehalten.
III.
10
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO i. Verb. m. § 544 II Nr. 1 ZPO.
IV.
11
Die Revision war nicht zuzulassen. Gründe, die die Zulassung der Revision gem. § 543 II 1 ZPO rechtfertigen würden, sind nicht gegeben. Mit Rücksicht darauf, dass die Entscheidung einen Einzelfall betrifft, ohne von der höchst- oder obergerichtlichen Rechtsprechung abzuweichen, kommt der Rechtssache weder grundsätzliche Bedeutung zu noch erfordern die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts.