Inhalt

VGH München, Beschluss v. 15.05.2020 – 3 C 20.866
Titel:

Polizeidienstunfähigkeit - Aussetzung eines Klageverfahrens 

Normenketten:
VwGO § 80 Abs. 5, § 94, § 152 Abs. 1 S. 1
ZPO § 148 Abs. 1
Leitsätze:
1. Vorgreiflichkeit der Entscheidung in einem anderen Rechtsstreit i.S.d. § 94 VwGO bedeutet, dass die Entscheidung, die in dem auszusetzenden Verfahren ergehen soll, nicht ergehen kann, ohne dass auch über eine in beiden Verfahren gemeinsame Vorfrage entschieden wird. (Rn. 2) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die Ablehnung/Stattgabe eines Antrags nach § 80 Abs. 5 VwGO zur Feststellung der Polizeidienstunfähigkeit hat keine unmittelbare rechtliche Auswirkung auf zwei Klagen mit den Zielen der Aufhebungen von Anordnungen auf Durchführung einer psychiatrischen Untersuchung sowie des Trageverbots einer Dienstwaffe. (Rn. 3 – 5) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Aussetzung eines Klageverfahrens, Antrag auf einstweilige Anordnung, Vorgreiflichkeit, Aufhebung, Aussetzung, einstweiligen Rechtsschutzes, Feststellung, Klage, Untersuchung
Vorinstanz:
VG München, Beschluss vom 01.04.2020 – M 5 K 19.2687
Fundstelle:
BeckRS 2020, 14666

Tenor

Der Aussetzungsbeschluss des Verwaltungsgerichts München vom 1. April 2020 wird aufgehoben.

Gründe

1
Der Kläger wendet sich mit seiner Beschwerde gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts München vom 1. April 2020, ergänzend begründet im Nichtabhilfebeschluss vom 17. April 2020, mit dem das am 4. Juni 2019 eingeleitete Klageverfahren ausgesetzt wird. Mit der Klage wird die Aufhebung der Anordnung des Beklagten vom 21. Mai 2019 auf Durchführung einer amtsärztlichen psychiatrischen Untersuchung sowie die Aufhebung des am 13. November 2018 mündlich ausgesprochenen Verbots, eine Dienstwaffe zu führen, begehrt. Grund für die Aussetzung sei die „Vorgreiflichkeit der rechtlichen Überprüfung“ des zwischenzeitlich ergangenen Bescheids des Polizeipräsidiums Oberbayern Süd vom 6. März 2020, mit dem die Polizeidienstunfähigkeit des Klägers festgestellt worden sei und gegen den er Widerspruch erhoben sowie einen - unter dem Aktenzeichen M 5 S 20.1070 bei der Kammer anhängigen - Antrag gemäß § 80 Abs. 5 VwGO gestellt habe.
2
Die zulässige Beschwerde ist begründet, denn das Verwaltungsgericht hat die Aussetzung des Verfahrens zu Unrecht angeordnet, weil die Voraussetzungen des § 94 VwGO nicht vorliegen. Nach dieser Bestimmung kann das Gericht das Verfahren aussetzen, wenn die Entscheidung des Rechtsstreits ganz oder zum Teil von dem Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses abhängt, das den Gegenstand eines anderen anhängigen Rechtsstreits bildet. Vorgreiflichkeit der Entscheidung in einem anderen Rechtsstreit bedeutet, dass die Entscheidung, die in dem auszusetzenden Verfahren ergehen soll, nicht ergehen kann, ohne dass auch über eine in beiden Verfahren gemeinsame Vorfrage entschieden wird. Es bedeutet allerdings nicht, dass die vorgreifliche Entscheidung für das auszusetzende Verfahren bindend sein muss; es genügt vielmehr, dass die im anderen Verfahren zu erwartende Entscheidung geeignet ist, einen rechtlich erheblichen Einfluss auf die Entscheidung im auszusetzenden Verfahren auszuüben (vgl. Rudisile in Schoch/Schneider/Bier, VwGO, Stand Juli 2019, § 94 Rn. 18; zum wortgleichen § 148 Abs. 1 ZPO: Zöller, ZPO, 33. Aufl. 2020, § 148 Rn. 5; Fritsche in Münchener Kommentar, ZPO, 5. Aufl. 2016, § 148 Rn. 5 ff.).
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Hier „hängt“ die Entscheidung des Verwaltungsgerichts im vorliegenden Klageverfahren nicht von einem (noch ergehenden) Beschluss im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes (M 5 S 20.1070) „ab“. Es ist bereits fraglich, ob ein Beschluss im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes überhaupt die Eignung besitzt, vorgreiflichen rechtlichen Einfluss im Sinn von § 94 VwGO auf ein Klageverfahren zu nehmen. Jedenfalls ist der Ansicht des Klägers zu folgen, nach der die verschiedenen Streitgegenstände keineswegs derart verbunden sind, dass die Ablehnung/Stattgabe des Antrags nach § 80 Abs. 5 VwGO (zur Feststellung der Polizeidienstunfähigkeit des Klägers) unmittelbare rechtliche Auswirkungen auf die beiden mit der Klage vom 5. Juni 2019 verfolgten Ziele (Aufhebung der Anordnung v. 21.5.2019 auf Durchführung einer psychiatrischen Untersuchung sowie des Verbots v. 13.11.2018, eine Dienstwaffe zu tragen) hat. Es besteht gerade nicht die Situation, dass die Entscheidung in dem auszusetzenden Verfahren nicht ergehen kann, ohne dass über eine in dem anderen Verfahren anhängige „Vorfrage“ entschieden wird (vgl. Garloff in BeckOK VwGO, Stand 1.4.2020, § 94 Rn. 1; Hess.VGH, B.v. 27.7.1988 - 3 TE 1829/88 - juris). Die Gefahr sich widersprechender Entscheidungen ist ausgeschlossen. Auch eine nur präjudizielle Wirkung eines (noch ergehenden) Beschlusses im Verfahren M 5 S 20.1070 ist nicht erkennbar; denn unabhängig davon, ob die Feststellung der Polizeidienstunfähigkeit außer Vollzug gesetzt oder der entsprechende Antrag des Klägers abgelehnt wird, kann seine Klage in einem oder in beiden Anträgen abgewiesen werden oder Erfolg haben. Dies folgt schon aus der Unterschiedlichkeit der Zeitpunkte, die der jeweiligen rechtlichen Beurteilung als maßgeblich zugrunde zu legen sind.
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Am Fehlen einer erforderlichen präjudiziellen Wirkung ändern auch die vor dem Hintergrund der Beschlüsse des Verwaltungsgerichts vom 26. Juli 2019 (M 5 E 19.2689) und des Senats vom 22. August 2019 (3 CE 19.1507) bestehenden geringen Erfolgsaussichten der Klage nichts. Gleiches gilt für den in den Gründen des angefochtenen Aussetzungsbeschlusses gegebenen Hinweis, im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes (M 5 S 20.1070) werde die Anordnung der amtsärztlichen Untersuchung „inzident Gegenstand der gerichtlichen Prüfung“ sein und diese Entscheidung sei „früher zu erwarten“ als diejenige im Klageverfahren. Eine Aussetzung allein aus Zweckmäßigkeitsgründen sieht das Gesetz nicht vor (BGH, B.v. 27.6.2019 - IX ZB 5/19 - juris Rn. 7, zu § 148 Abs. 1 ZPO).
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Die Vorgreiflichkeit kann schließlich auch nicht mit dem Hinweis begründet werden, bei Annahme der Rechtmäßigkeit des Bescheids vom 6. März 2020 entfalle das Rechtsschutzbedürfnis für eine Anfechtungsklage gegen das Verbot, eine Dienstwaffe zu führen. Ungeachtet der Frage, ob diese Aussage zutrifft, könnte damit ein unter Rechtsschutzgesichtspunkten (Art. 19 Abs. 4 GG) problematisches Vorgehen verbunden sein. Jedenfalls würden auch Feststellungen in einem anderen Rechtsstreit, die dazu führen, dass im auszusetzenden Klageverfahren aus tatsächlichen Gründen Erledigung eintritt, keine Vorgreiflichkeit begründen (Rudisile in Schoch/Schnei-der/Bier, a.a.O. § 94 Rn. 20).
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Einer Kostenentscheidung für das (erfolgreiche) Beschwerdeverfahren bedarf es nicht, weil die Kosten dieses Zwischenverfahrens, in dem sich die Beteiligten nicht als Gegner gegenüberstehen und das daher ein nicht-streitiges Verfahren ist, von den Kosten des Rechtsstreits in der Hauptsache erfasst werden (BayVGH, B.v. 30.7.2018 - 15 C 18.795 - juris Rn. 40; B.v. 25.10.2010 - 6 C 10.2262 - juris Rn. 9; Rennert in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 94 Rn. 8).
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 Satz 1 VwGO).