Inhalt

VGH München, Beschluss v. 29.05.2020 – 11 CS 19.2441
Titel:

Entziehung der Fahrerlaubnis wegen gelegentlichen Cannabiskonsums

Normenketten:
FeV § 11 Abs. 6 S. 2, Abs. 8 S. 1, § 14 Abs. 1 S. 3, § 46 Abs. 1, Abs. 3
FeV Anl. 4 Nr. 9.2.2
Leitsätze:
1. Es kann offen bleiben, ob eine von dem Hinweis gemäß § 11 Abs. 6 S. 2 FeV nicht gedeckte Übermittlung einer der Behörde nach Aktenübersendung bekannt gewordenen Unterlage an die Begutachtungsstelle zur nachträglichen Rechtswidrigkeit der Gutachtensanordnung und damit zur Nichtanwendbarkeit von § 11 Abs. 8 S. 1 FeV führt (vgl. BVerwG BeckRS 2016, 118394 Rn. 23 ff.). Dagegen spricht, dass der Sinn und Zweck der Hinweispflicht durch die Übermittlung eines nachträglich eingegangenen Aktenstücks nicht unterlaufen wird. (Rn. 14) (redaktioneller Leitsatz)
2. Ein vorgelegtes nachvollziehbares negatives Fahreignungsgutachten stellt für die Entscheidung über die Fahrerlaubnisentziehung eine neue Tatsache mit selbständiger Bedeutung dar, für die sich aus der Fahrerlaubnis-Verordnung oder sonstigem innerstaatlichen Recht ein Verwertungsverbot nicht ableiten lässt; einem solchen stünde auch das Interesse der Allgemeinheit entgegen, vor Kraftfahrern geschützt zu werden, die sich aufgrund festgestellter Tatsachen als ungeeignet erwiesen haben (vgl. BayVGH BeckRS 2016, 50155 Rn. 24 mwN). Es ist auch nicht erkennbar, weshalb ein Fahreignungsgutachter einen ihm zeitlich nach der persönlichen Untersuchung bekannt gewordenen Sachverhalt bei Erstellung des Gutachtens nicht sollte berücksichtigen dürfen. (Rn. 15) (redaktioneller Leitsatz)
3. Eine Behörde oder ein Gericht darf grundsätzlich von der Richtigkeit eines rechtskräftigen Strafurteils oder eines dem  gleichstehenden rechtskräftigen Strafbefehls und der darin getroffenen Feststellungen ausgehen und ist nicht verpflichtet, das Strafverfahren gewissermaßen zu wiederholen, wenn der Betroffene geltend macht, zu Unrecht verurteilt worden zu sein. Etwas anderes gilt allenfalls in Sonderfällen, wenn etwa gewichtige Anhaltspunkte für die Unrichtigkeit der fraglichen Feststellungen bestehen oder die Behörde ausnahmsweise in der Lage ist, den Vorfall besser als die Strafverfolgungsorgane aufzuklären (stRspr vgl. BVerwG BeckRS 2016, 43615 Rn. 20; BayVGH BeckRS 2019, 2227 Rn. 20 jeweils mwN). (Rn. 16) (redaktioneller Leitsatz)
4. Dient die Vorlage eines Fahreignungsgutachtens der Klärung der Frage, ob der Fahrerlaubnisinhaber seine Fahreignung verloren hat, ist die Beibringungsfrist nach der Zeitspanne zu bemessen, die von einer amtlich anerkannten Begutachtungsstelle für Fahreignung zur Erstattung des Gutachtens voraussichtlich benötigt wird. Den Eignungszweifeln ist in diesem Fall zur Abwendung möglicher erheblicher Gefahren für andere Verkehrsteilnehmer so zeitnah wie möglich durch die gesetzlich vorgegebenen Aufklärungsmaßnahmen nachzugehen (vgl. BayVGH BeckRS 2019, 2227 Rn. 26 mwN). Steht das Fehlen der Fahreignung - insbesondere bei Mängeln nach Anlage 4 der FeV - zur Überzeugung der Fahrerlaubnisbehörde fest, darf diese auch nicht mehr zuwarten, sondern hat die Fahrerlaubnis zu entziehen (Rn. 21) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Entziehung der Fahrerlaubnis gelegentlicher Cannabiskonsum, negatives Fahreignungsgutachten, der Begutachtungsstelle nach dem Untersuchungstag übermittelte Unterlagen, Gutachtensanordnung, Hinweispflicht, Fahreignungsgutachten als neue Tatsache, Verwertungsverbot, rechtskräftiges Strafurteil, grundsätzliche Richtigkeit, Sonderfälle, Beibringungsfrist für Fahreignungsgutachten
Vorinstanz:
VG Bayreuth, Beschluss vom 26.11.2019 – B 1 S 19.1075
Fundstelle:
BeckRS 2020, 14558

Tenor

I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II. Die Antragstellerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
III. Der Streitwert des Beschwerdeverfahrens wird auf 2.500,- EUR festgesetzt.

Gründe

I.
1
Die Antragstellerin wendet sich gegen die sofortige Vollziehbarkeit der Entziehung ihrer Fahrerlaubnis der Klassen B, L, M und S.
2
Bei einer Verkehrskontrolle am 25. Februar 2019 um 17:05 Uhr stellte die Polizei bei der Antragstellerin drogentypische Auffälligkeiten fest. Eine um 17:40 Uhr entnommene Blutprobe enthielt nach dem rechtsmedizinischen Gutachten des Universitätsklinikums Bonn vom 18. März 2019 3,0 ng/ml Tetrahydrocannabinol (THC), ca. 0,3 ng/ml Hydroxy-THC (11-OH-THC) und 16,8 ng/ml THC-Carbonsäure (THC-COOH). Die Antragstellerin räumte gegenüber der Polizei ein, zuletzt vor zwei Wochen einen Joint konsumiert zu haben.
3
Mit Schreiben vom 27. Juni 2019 ordnete der Antragsgegner gestützt auf § 14 Abs. 1 Satz 3 FeV i.V.m. Nr. 9.2.2 der Anlage 4 zur FeV die Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens bis 28. August 2019 zu der Frage an, ob zu erwarten sei, dass die Antragstellerin künftig ein Kraftfahrzeug unter Einfluss von Cannabis oder dessen Nachwirkungen führen werde.
4
Mit Schreiben vom 6. Juli 2019 teilte die Antragstellerin dem Antragsgegner die von ihr ausgewählte Begutachtungsstelle mit. Am 18. September 2019 erfuhr der Antragsgegner, dass das Amtsgericht Coburg die Antragstellerin mit rechtskräftigem Strafbefehl vom 15. August 2019 wegen vorsätzlichen unerlaubten Erwerbs von Betäubungsmitteln in 22 Fällen zwischen dem 1. Oktober 2018 und dem 12. März 2019 zu einer Geldstrafe von 70 Tagessätzen verurteilt hatte, und übermittelte diese Information an die Begutachtungsstelle.
5
Im Rahmen der Anhörung zur beabsichtigten Entziehung der Fahrerlaubnis ließ die Antragstellerin durch ihren Bevollmächtigten eine Kopie des eingeholten negativen Eignungsgutachtens vom 8. Oktober 2019 vorlegen und vortragen, dieses gehe von offensichtlich falschen Voraussetzungen aus. Ohne den Strafbefehl wäre die Begutachtung zugunsten der Antragstellerin ausgegangen, die aufgrund einer Falschberatung aus Kostengründen keinen Einspruch eingelegt habe. Sie sei von einem Betäubungsmittelhändler, der ihren Freund beliefert habe, fälschlicherweise des Erwerbs und Konsums von Betäubungsmitteln bezichtigt worden. Die bezogenen Betäubungsmittel hätten aber allein dem privaten Verbrauch ihres damaligen Freundes gedient. Dieser habe ein Geständnis abgelegt, mit dem beim Amtsgericht Coburg eine Wiederaufnahme des Strafverfahrens beantragt worden sei. Die Antragstellerin habe mit Ausnahme des einen Vorfalls im Februar, bei dem sie ein paar Züge vom Joint eines Bekannten genommen habe, die Nachwirkungen des Rauchens unterschätzt. Sie sei davon ausgegangen, dass sie nach mehr als einem Tag wieder Auto fahren könne. Das sei ihr eine Lehre gewesen. Seitdem nehme sie keine Betäubungsmittel mehr ein. Das beigefügte Fahreignungsgutachten komme insoweit auf Seite 15 zu dem Ergebnis, dass die Antragstellerin sowohl aus medizinischer als auch psychophysischer Sicht keine die fahreignungsausschließenden Kriterien aufweise. Sie habe eine Haarprobe machen lassen, um dies zu belegen. Sie sei als mobile Altenpflegerin auf ihren Führerschein angewiesen. Es werde beantragt, das Verfahren bis zur Vorlage des Ergebnisses der Haarprobe und zum Abschluss des Wiederaufnahmeverfahrens zurückzustellen.
6
Mit Bescheid vom 31. Oktober 2019 entzog der Antragsgegner der Antragstellerin gemäß § 46 Abs. 1 Satz 1 FeV die Fahrerlaubnis und forderte sie unter Androhung eines Zwangsgelds von 500,- EUR auf, ihren Führerschein bis spätestens fünf Tage nach Zustellung des Bescheids abzugeben. Des Weiteren wurde die sofortige Vollziehung dieser Verfügungen angeordnet. Da die Antragstellerin das geforderte Gutachten nicht fristgerecht vorgelegt habe, sei der Schluss auf ein Fehlen der Fahreignung schon deshalb gerechtfertigt. Eine andere Bewertung der Sachlage hätte das verspätet und nur in Kopie vorgelegte Gutachten nur zulassen können, wenn es positiv ausgefallen wäre. Im Gutachten sei jedoch festgestellt worden, dass zu erwarten sei, dass die Antragstellerin zukünftig ein Kraftfahrzeug unter Einfluss von Cannabis oder dessen Nachwirkungen führen werde.
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Am 7. November 2019 legte die Antragstellerin gegen diesen Bescheid Widerspruch ein und beantragte beim Verwaltungsgericht Bayreuth die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs, über den nach Aktenlage noch nicht entschieden ist.
8
Das Verwaltungsgericht lehnte den Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz mit Beschluss vom 26. November 2019 im Wesentlichen mit der Begründung ab, die Entziehung der Fahrerlaubnis und die Aufforderung zur Beibringung des Fahreignungsgutachtens seien rechtmäßig. Im Zeitpunkt der Aufforderung hätten genügend Anhaltspunkte vorgelegen, die Zweifel an der Fahreignung der Antragstellerin begründet und damit eine Abklärung im Rahmen einer medizinisch-psychologischen Untersuchung gemäß § 46 Abs. 3 i.V.m. § 14 Abs. 1 Satz 3 FeV gerechtfertigt hätten. Die Antragstellerin habe gelegentlich Cannabis konsumiert. Davon sei schon aufgrund ihrer Angabe, sie habe zuletzt zwei Wochen vor der Drogenfahrt Betäubungsmittel eingenommen, und dem in ihrem Blutserum nachgewiesenen THC, aber auch ihren Angaben gegenüber dem Fahreignungsgutachter auszugehen. Nehme der Betroffene die Gelegenheit, die Fahreignungszweifel der Behörde durch Vorlage eines Gutachtens auszuräumen, nicht wahr, müsse die Behörde nach § 11 Abs. 8 Satz 1 FeV ungeachtet der Formulierung „darf“ von fehlender Fahreignung ausgehen, ohne dass ihr insoweit ein Ermessen zustehe. Durch die verspätete Vorlage des Gutachtens ergebe sich nichts anderes. Dieses komme zu dem Ergebnis, die Antragstellerin werde auch in Zukunft ein Kraftfahrzeug unter dem Einfluss von Cannabis führen, was gemäß Nr. 9.2.2 der Anlage 4 zur FeV die Fahreignung grundsätzlich ausschließe. Das Gutachten begegne keinen inhaltlichen Bedenken. Es sei reine Spekulation der Antragstellerin, dass das Gutachten bei Erfolg des Wiederaufnahmeverfahrens vor dem Amtsgericht anders ausfalle. Auch ihre Angaben im gerichtlichen Verfahren stünden in Widerspruch zu ihren Aussagen bei der Begutachtung, sodass es nicht darauf ankommen werde, ob der Strafbefehl zu Recht oder zu Unrecht ergangen sei. Selbst bei Aufhebung des Strafbefehls treffe ihre Äußerung in der psychologischen Untersuchung, dass kein intensiver Kontakt zur Drogenszene bestehe oder bestanden habe, nicht zu. Gegenüber dem Gutachter habe die Antragstellerin erklärt, sie habe beim Ausgehen zwei- bis dreimal an einem Joint gezogen, meist freitags oder samstags bei Feiern. Es sei immer wieder derselbe Kumpel gewesen, der sie dazu aufgefordert habe. Außer diesem mache sich keiner etwas aus Drogen. Sie kenne ihn nur über eine Freundin. Im anhängigen Widerspruchsverfahren habe sie eine eidesstattliche Versicherung vorgelegt, wonach Herr F. sie als „seine frühere Freundin“ bezeichnet und sie das Marihuana nicht gemeinsam mit ihm abgeholt habe, sondern nur „beim Spazierengehen bzw. Vorbeigehen“ dabei gewesen sei. Sie habe zweimal Geld dorthin gebracht. Dies zeige, dass die Antragstellerin zu einer in der Drogenszene verhafteten Person engen Kontakt gehabt habe. Sie habe gezielt verschwiegen, dass sie bei irgendwie gearteten Erwerbsvorgängen einer in der Drogenszene verhafteten Person dabei gewesen sei. Auch habe sie mit keinem Wort erwähnt, dass ein Strafverfahren gegen sie anhängig gewesen bzw. abgeschlossen worden sei. Etwaige falsche Tatsachen, die dem Strafbefehl zugrunde gelegen hätten, hätte sie bei der Begutachtung in eigener Verantwortung richtigstellen können, zumal sie nach Strafverfahren gefragt worden sei. Unzutreffend sei zudem die Angabe, nur bei Feiern mit Cannabis konfrontiert worden zu sein, da sie beim Erwerb durch den Freund (nach dessen eidesstattlicher Versicherung) zumindest mit dabei gewesen sei, wenn nicht sogar ein- bis zweimal das Cannabis durch die Bezahlung erworben habe. Das Gericht gehe davon aus, dass die Antragstellerin im Untersuchungsgespräch bewusst verharmlosende Angaben gemacht habe. Selbst wenn der Strafbefehl aufgehoben würde, läge somit weiterhin keine widerspruchsfreie Befundlage vor, was aber Grundvoraussetzung für eine günstige Verhaltensprognose wäre. Weiter würden durch ein erneutes strafgerichtliches Verfahren auch nicht die gutachterlichen Feststellungen widerlegt, dass die Antragstellerin keine individuellen Risikofaktoren für einen erneuten Drogenkonsum benennen könne, weshalb angenommen werde, dass sie vorbeugend nicht rechtzeitig reagieren könne, und dass der Mischkonsum von Cannabis und Alkohol auf eine fortgeschrittene Drogenproblematik hindeute. Da das Gutachten ein Trennungsvermögen der Antragstellerin verneine und die im Widerspruchs- und einstweiligen Rechtsschutzverfahren vorgetragenen Bedenken gegen das Gutachten nicht durchgegriffen, sei gegenwärtig von einer fehlenden Fahreignung der Antragstellerin auszugehen.
9
Mit ihrer Beschwerde, der der Antragsgegner entgegentritt, macht die Antragstellerin geltend, das Verwaltungsgericht habe ermessensfehlerhaft ein Beweisangebot, die aktuelle Haarprobe, übersehen und das medizinisch-psychologische Gutachten vom 8. Oktober 2019 dahingehend falsch verstanden, dass der mit dem Wiederaufnahmeantrag angegriffene Strafbefehl nicht vor, sondern nach der Begutachtung in diese eingeflossen sei. In seiner eidesstattlichen Versicherung lege der ehemalige Freund der Antragstellerin dar, dass der Strafbefehl zu Unrecht ergangen sei. Dieser sei dem Gutachter erst nach der Begutachtung vorgelegt worden und habe zu einem falschen Ergebnis geführt. Das Gericht habe bei der Abwägung nicht berücksichtigt, dass das Gutachten ansonsten positiv für die Antragstellerin ausgefallen wäre und aufgrund der nachweisbaren Abstinenz und des nur einmaligen Cannabiskonsums keine weitere Gefahr für die Allgemeinheit bestehe. Zu Unrecht nehme das Gericht eine gelegentliche Cannabiseinnahme an, die sich nur aus dem Strafbefehl ergebe, der dem ersten Bescheid nachgefolgt und erst während der MPU-Begutachtung über die Beklagte dem Gutachter zur Kenntnis gelangt sei. Der Strafbefehl sei jedoch aufgrund der falschen Angaben eines Cannabishändlers ergangen, der die Antragstellerin zu Unrecht verdächtigt habe. Das Cannabis sei für ihren ehemaligen Freund bestimmt gewesen. Dies finde auch in den weiteren Ausführungen zu § 14 Abs. 1 Satz 3 FeV keine Berücksichtigung. Es sei keine reine Spekulation, dass das Gutachten bei einem Erfolg des Wiederaufnahmeverfahrens anders ausfallen würde. Das ergebe sich bei genauem Lesen aus dessen Wortlaut. Auch gehe das Gericht fälschlicherweise davon aus, dass die Antragstellerin nach dem Strafbefehl gefragt worden sei. Zudem lasse es völlig unberücksichtigt, dass eine erneute Haarprobenuntersuchung als Beweis dafür, dass die Antragstellerin seit dem ersten Vorfall keine Drogen mehr genommen habe, sofort hätte durchgeführt werden können. Die Antragstellerin werde jetzt auf eigene Kosten nochmals ein derartiges Gutachten einholen und es dem Gericht nachreichen. Damit wäre der Beweis geführt. In Coburg und im Landkreis Coburg herrsche im Straßenverkehr keine geringe Kontrolldichte. Der Verwaltungsbehörde wäre es zuzumuten gewesen, das Ergebnis des Wiederaufnahmeverfahrens und des neuen Haargutachtens abzuwarten. Der Gutachter verneine das Trennungsvermögen der Antragstellerin vor allem deshalb, weil er aufgrund der nachträglichen Vorlage des Strafbefehls einen extrem widersprüchlichen Vortrag unterstelle. Das Erstgericht könne nicht einfach die direkt bei der Kontrolle aufgenommenen Angaben der Antragstellerin derartig belastend und widersprüchlich würdigen, zumal in dieser Schockphase den Ausführungen der Beschuldigten ohne anwaltlichen Rat gerade keine so große Bedeutung beigemessen werden könne. Entscheidend sei die Aussage des Gutachters, die ausschließlich aufgrund des fehlerhaften Strafbefehls ergangen sei. Dies sei neben dem übersehenen Beweisangebot allein ausschlaggebend für die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs. Der erstinstanzliche Vortrag werde zum Gegenstand der Beschwerdeinstanz gemacht. Es werde beantragt, neben sämtlichen Akten des Verwaltungsverfahrens auch die Akten zum strafgerichtlichen Wiederaufnahmeantrag beizuziehen.
10
Wegen des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichts- und Behördenakten Bezug genommen.
II.
11
Die zulässige Beschwerde ist unbegründet.
12
Aus den im Beschwerdeverfahren vorgetragenen Gründen, auf deren Prüfung der Verwaltungsgerichtshof beschränkt ist (§ 146 Abs. 4 Sätze 1 und 6 VwGO), ergibt sich nicht, dass die Entscheidung des Verwaltungsgerichts zu ändern oder aufzuheben wäre.
13
Der Einwand, die Antragstellerin sei zu Unrecht als gelegentliche Cannabiskonsumentin eingestuft worden, geht fehl. Wie das Verwaltungsgericht im Einzelnen zutreffend begründet hat, ist aufgrund der Angaben der Antragstellerin bei der Verkehrskontrolle, die mit den nachgewiesenen Blutwerten bzw. dem Abbauverhalten von THC nicht in Einklang zu bringen sind, ihren Angaben am Untersuchungstag und der fehlenden substantiierten Darlegung eines einmaligen Konsums, die nach ständiger Rechtsprechung zu fordern ist, von einem zumindest gelegentlichen Cannabiskonsum auszugehen. Mit den Erwägungen auf Seite 9 f. der Gründe des angefochtenen Beschlusses, auf die Bezug genommen wird (§ 122 Abs. 2 Satz 3 VwGO), setzt sich die Beschwerde nicht ansatzweise auseinander. Die durch das Strafgericht abgeurteilten Taten spielen insoweit keine Rolle.
14
Soweit sich die Antragstellerin dagegen wendet, dass der Fahreignungsgutachter eine ihm nachträglich bekannt gewordene strafgerichtliche Verurteilung verwertet hat, kann offen bleiben, ob die von dem Hinweis gemäß § 11 Abs. 6 Satz 2 der Verordnung über die Zulassung von Personen zum Straßenverkehr vom 13. Dezember 2010 (Fahrerlaubnis-Verordnung - FeV, BGBl I S. 1980), zuletzt geändert durch Verordnung vom 20. April 2020 (BGBl I S. 814), nicht gedeckte Übermittlung einer der Behörde nach Aktenübersendung bekannt gewordenen Unterlage zur nachträglichen Rechtswidrigkeit der Anordnung und damit zur Nichtanwendbarkeit von § 11 Abs. 8 Satz 1 FeV führt (vgl. BVerwG, U.v. 17.11.2016 - 3 C 20.15 - BVerwGE 156, 293 = juris Rn. 23 ff.). Dagegen spricht, dass der Sinn und Zweck von § 11 Abs. 6 Satz 2 FeV, dem weniger rechtskundigen Bürger deutlich zu machen, dass die Fahrerlaubnisbehörde zwar bestimmt, welche Unterlagen dem Gutachter übersandt werden, er aber Gelegenheit erhält, sich über diese zu informieren, bevor er seine Entscheidung über die Begutachtung trifft (BVerwG, a.a.O. Rn. 24), durch die Übermittlung eines nachträglich eingegangenen Aktenstücks nicht unterlaufen wird. Vorliegend hat die nachträgliche Übermittlung die Willensentschließungsfreiheit der Antragstellerin auch offenkundig nicht beeinflusst. Sie hat sich ohne vorherige Akteneinsicht dazu entschlossen, sich begutachten zu lassen, und dieses Gutachten in Kenntnis der nachträglichen Übermittlung und Verwertung des Strafbefehls auch vorgelegt. Damit erscheint ein etwaiger Verfahrensfehler jedenfalls entsprechend Art. 46 BayVwVfG unbeachtlich (zur grundsätzlichen Anwendbarkeit BVerwG, a.a.O. Rn. 27 ff.).
15
Entscheidend ist, dass die Antragstellerin ein nachvollziehbares negatives Fahreignungsgutachten, das eine neue Tatsache mit selbständiger Bedeutung darstellt, vorgelegt hat. Ein Verbot, diese neue Tatsache für die Entscheidung über die Fahrerlaubnisentziehung zu verwerten, lässt sich aus der Fahrerlaubnis-Verordnung oder sonstigem innerstaatlichen Recht nicht ableiten. Einem Verwertungsverbot stünde auch das Interesse der Allgemeinheit entgegen, vor Kraftfahrern geschützt zu werden, die sich aufgrund festgestellter Tatsachen als ungeeignet erwiesen haben (vgl. BayVGH, U.v. 8.8.2016 - 11 B 16.595 - juris Rn. 24 m.w.N.). Von der formellen Mitteilungspflicht nach § 11 Abs. 6 Satz 2 FeV abgesehen ist weder dargelegt noch erkennbar, weshalb der Fahreignungsgutachter einen ihm zeitlich nach der persönlichen Untersuchung bekannt gewordenen Sachverhalt bei Erstellung des Gutachtens nicht berücksichtigen dürfen sollte. So ist die Antragstellerin auch durchaus damit einverstanden, dass der Gutachter die nachträglich beigebrachte negative Urinprobe zu ihren Gunsten berücksichtigt hat, nachdem die Urinprobe vom Untersuchungstag wegen eines verdünnten Kreatininwerts unbrauchbar war. Hätte die nachträgliche Urinprobe nicht berücksichtigt werden dürfen, wäre das Gutachten voraussichtlich schon wegen unzureichender Mitwirkung negativ ausgefallen.
16
Wie das Verwaltungsgericht zutreffend angeführt hat, hätte es der Antragstellerin oblegen, gegenüber dem Gutachter eine etwa zu Unrecht ergangene Verurteilung anzusprechen und ggf. den zugrunde liegenden Sachverhalt richtigzustellen. Im Übrigen darf von der Richtigkeit eines rechtskräftigen Strafurteils oder eines dem nach § 410 Abs. 3 StPO gleichstehenden rechtskräftigen Strafbefehls und der darin getroffenen Feststellungen grundsätzlich ausgegangen werden. Eine Behörde oder ein Gericht ist nicht verpflichtet, das Strafverfahren gewissermaßen zu wiederholen, wenn der Betroffene geltend macht, zu Unrecht verurteilt worden zu sein (vgl. BVerwG, B.v. 22.4.1992 - 1 B 61.92 - juris Rn. 6). Etwas anderes gilt allenfalls in Sonderfällen, wenn etwa gewichtige Anhaltspunkte für die Unrichtigkeit der fraglichen Feststellungen bestehen oder die Behörde ausnahmsweise in der Lage ist, den Vorfall besser als die Strafverfolgungsorgane aufzuklären (stRspr vgl. BVerwG, B.v. 16.2.2016 - 3 B 68.14 - ZInsO 2016, 795 = juris Rn. 20; BayVGH, B.v. 11.2.2019 - 11 CS 18.1808 - juris Rn. 20 jeweils m.w.N.; Dawin in Schoch/Schneider/Bier, VwGO, Stand Juli 2019, § 108 Rn. 21). Dafür ist hier nichts ersichtlich. Es ist völlig offen, ob der eidesstattlichen Versicherung des ehemaligen Freunds der Antragstellerin gefolgt werden kann. Auch die Stellung eines Wiederaufnahmeantrags ändert hieran nichts. Denn das Gesetz knüpft ausdrücklich an die Rechtskraft der strafgerichtlichen Verurteilung an, die durch einen Wiederaufnahmeantrag nicht beseitigt wird. Ein anhängiges Wiederaufnahmeverfahren ist bis zu dessen Erfolg unmaßgeblich (vgl. OVG NW, B.v. 1.3.2018 - 20 B 1340/17 - juris Rn. 29; BayVGH, B.v. 22.8.2007 - 19 CS 07.684 - juris Rn. 22, B.v. 8.2.2007 - 21 ZB 06.2540 - juris Rn. 5). Dem Antrag, die Akten zu diesem Verfahren beizuziehen, war deshalb nicht stattzugeben.
17
Entgegen der Meinung der Antragstellerin gibt es auch keinen sachlich einleuchtenden oder rechtlichen Grund, weshalb der Gutachter ihre Angaben nicht am Akteninhalt messen und sie auf ihre Glaubhaftigkeit hin prüfen dürfen sollte. Hierzu eignen sich insbesondere auch die bei der Verkehrskontrolle spontan und ohne rechtliche Beratung abgegebenen Äußerungen. Eine Gefahrenprognose wie die Einschätzung des Trennungsvermögens ist möglichst nicht aufgrund interessegeleiteter Angaben zu stellen, sondern aufgrund wahrer Tatsachen. Die Antragstellerin hat auch nicht dargelegt, dass und weshalb konkret oder im Allgemeinen davon auszugehen wäre, dass ein Betroffener in der „Schockphase der Kontrolle“ regelmäßig oder eher die Unwahrheit sagt.
18
Dem Verwaltungsgericht ist auch keine „fehlerhafte Beweiswürdigung“ unterlaufen. Es hat entgegen der Darstellung der Antragstellerin nicht angenommen, dass sie nach dem Strafbefehl gefragt worden ist, sondern ist richtig davon ausgegangen, dass es ihr oblegen hätte, die ihr bekannte, aus ihrer Sphäre stammende Verurteilung gegenüber dem Gutachter anzusprechen und den zugrunde liegenden Sachverhalt ggf. richtigzustellen, „zumal sie nach Strafverfahren gefragt worden“ sei. Letzteres ist ausweislich des Gutachtens (Seite 10) hinsichtlich anhängiger Bußgeld- und Verkehrsstrafverfahren der Fall gewesen und hätte einen Anlass geboten, auch zu einer zu Unrecht erfolgten Verurteilung Stellung zu nehmen.
19
Ebenso wenig haben das Verwaltungsgericht und der Antragsgegner bei ihren Entscheidungen Abstinenzbeweise unberücksichtigt gelassen. Nach Aktenlage liegt kein positives Haargutachten vor. Mit Ausnahme einer verwertbaren Urinprobe vom 24. September 2019 hat die Antragstellerin keinerlei Abstinenzbelege vorgelegt, wobei auch nicht feststeht, dass diese zum Nachweis des Trennungsvermögens ausreichen würden. Denn es hängt vom konkreten Konsummuster bzw. der Drogenproblematik ab, welche Kriterien im Einzelnen zu erfüllen sind (vgl. Gutachten, Seite 3 f. und die mit Schreiben des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur vom 27.1.2014 [VkBl S. 132] als aktueller Stand der Wissenschaft eingeführten Beurteilungskriterien, 3. Aufl. 2013, S. 169 ff.), was aufgrund der widersprüchlichen Angaben der Antragstellerin nicht verlässlich eingeschätzt werden kann.
20
Dahinstehen kann, zu welchen Schlussfolgerungen der Gutachter gelangt wäre, wenn ihm der vollständige Akteninhalt nicht bekannt geworden wäre. Hierbei handelt es sich um einen hypothetischen Sachverhalt. Außerdem hätte - selbst wenn das Gutachten bei dieser Sachlage zu Gunsten der Antragstellerin ausgefallen wäre - dies nicht zu einem für sie positiven Abschluss des Entziehungsverfahrens geführt, sondern zur Anordnung eines neuen Gutachtens bzw. einer Nachbegutachtung auf ihre Kosten (§ 11 Abs. 6 Satz 2 FeV), da das Gutachten ohne eine Berücksichtigung der nach dem Untersuchungstag bekannt gewordenen Feststellungen aus dem Strafverfahren schon im Zeitpunkt seiner Erstellung inhaltlich überholt gewesen wäre. Ebenso kann dahinstehen, wie ein Gutachten ausfallen würde, wenn der Antrag auf Wiederaufnahme des strafgerichtlichen Verfahrens Erfolg hätte. Denn bisher ist nicht vorgetragen worden, dass es dazu gekommen ist. Abgesehen davon hat das Verwaltungsgericht nachvollziehbar dargelegt, dass eine positive Begutachtung unter Berücksichtigung der Beurteilungskriterien auch in Ansehung der eidesstattlich versicherten Angaben ihres ehemaligen Freunds nicht wahrscheinlich ist.
21
Entgegen der Meinung der Antragstellerin war der Antragsgegner auch weder im Hinblick auf die gesetzte Beibringungsfrist noch auf die Entscheidung zur Entziehung der Fahrerlaubnis verpflichtet, das Ergebnis des strafrechtlichen Wiederaufnahmeverfahrens und eines Haargutachtens abzuwarten. Dient die Vorlage eines Fahreignungsgutachtens nicht dem Nachweis der Wiedererlangung der Fahreignung, sondern wie hier der Klärung der Frage, ob der Fahrerlaubnisinhaber seine Fahreignung verloren hat, ist die Beibringungsfrist nach der Zeitspanne zu bemessen, die von einer amtlich anerkannten Begutachtungsstelle für Fahreignung zur Erstattung des Gutachtens voraussichtlich benötigt wird (vgl. BayVGH, B.v. 11.2.2019 - 11 CS 18.1808 - juris Rn. 26 m.w.N.; Dauer in Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 45. Aufl. 2019, § 11 FeV Rn. 45). Den Eignungszweifeln ist in diesem Fall so zeitnah wie möglich durch die gesetzlich vorgegebenen Aufklärungsmaßnahmen nachzugehen, da insofern die Abwendung möglicher erheblicher Gefahren für andere Verkehrsteilnehmer in Frage steht (vgl. BayVGH, a.a.O.). Steht das Fehlen der Fahreignung - insbesondere bei Mängeln nach Anlage 4 der FeV - zur Überzeugung der Fahrerlaubnisbehörde fest, darf diese auch nicht mehr zuwarten, sondern hat die Fahrerlaubnis zu entziehen (§ 46 Abs. 1 FeV).
22
Damit war die Beschwerde mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 2 VwGO zurückzuweisen. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1 Satz 1, § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1 GKG i.V.m. den Empfehlungen in Nr. 1.5 Satz 1, Nr. 46.3 des Streitwertkatalogs der Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013.
23
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).