Inhalt

VGH München, Beschluss v. 25.06.2020 – 10 ZB 20.1101
Titel:

Polizeiliche Maßnahmen zur Telekommunikationsüberwachung

Normenketten:
PAG Art. 42 Abs. 2, 43
RL 2002/58/EG Art. 5, Art. 15 Abs. 1
VwGO § 124 Abs. 2 Nr. 1
EMRK Art. 6, Art. 13
EU-GR-Charta Art. 47 Abs. 1
Leitsätze:
1. Ein individueller Anspruch auf Gewährung vorbeugenden Rechtsschutzes durch nationale Gerichte unter gegenüber den allgemeinen Anforderungen abgesenkten Anforderungen ist dem Wortlaut der Vorschrift des Art. 5 RL 2002/58/EG nicht zu entnehmen. Auch der allgemeine Anspruch auf effektive gerichtliche Kontrolle hinsichtlich gemeinschaftsrechtlich begründeter Rechte des Einzelnen gebietet es nicht, Art. 5 RL 2002/58/EG in diesem Sinne auszulegen. (Rn. 7) (redaktioneller Leitsatz)
2. Dass gerade Art. 5 RL 2002/58/EG einen vorbeugenden Rechtsschutz jenseits der Fälle einer Unzumutbarkeit nur repressiven Rechtschutzes zwingend erforderlich machen würde, ist nicht anzunehmen. (Rn. 8) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
polizeiliche Telekommunikationsüberwachung, Mitwirkungspflicht des Diensteanbieters, vorbeugende Feststellungsklage, besonderes Rechtsschutzbedürfnis (verneint), (keine) besonderen gemeinschaftsrechtlichen Anforderungen an vorbeugenden Rechtsschutz, Zulassung der Berufung, polizeiliche Maßnahmen, Telekommunikationsüberwachung, Verweisung, Verkehrsdaten, Mitgliedstaaten, Unzumutbarkeit, Nichtigkeitsklage eines Nutzers
Vorinstanz:
VG Ansbach, Urteil vom 13.02.2020 – AN 15 K 18.2434
Fundstelle:
BeckRS 2020, 14549

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 5.000,- Euro festgesetzt.

Gründe

1
Der Kläger verfolgt mit seinem Antrag auf Zulassung der Berufung seine in erster Instanz erfolglose vorbeugende Feststellungsklage wegen befürchteter polizeilichen Maßnahmen zur Telekommunikationsüberwachung weiter.
2
Der zulässige Antrag ist unbegründet, weil sich aus dem der rechtlichen Überprüfung durch den Senat allein unterliegenden Vorbringen im Zulassungsantrag die ausschließlich geltend gemachten ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO nicht ergeben.
3
Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO bestünden dann, wenn der Kläger im Zulassungsverfahren einen einzelnen tragenden Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung des Erstgerichts mit schlüssigen Gegenargumenten infrage gestellt hätte (BVerfG, B.v. 10.9.2009 - 1 BvR 814/09 - juris Rn. 11; B.v. 9.6.2016 - 1 BvR 2453/12 - juris Rn. 16; B.v. 8.5.2019 - 2 BvR 657/19 - juris Rn. 33). Dies ist vorliegend nicht der Fall.
4
Das Erstgericht hat sein Urteil unter Bezugnahme auf den Beschluss des Senats vom 28. November 2019 im Verfahren des einstweiligen Rechtschutzes (10 CE 19.2234) darauf gestützt, dass dem Kläger für seine mit Haupt- und Hilfsanträgen verfolgte vorbeugende Feststellungsklage das erforderliche besondere Rechtsschutzinteresse fehle. Der Kläger sei auf repressiven Rechtsschutz gegen polizeiliche Maßnahmen der Telekommunikationsüberwachung nach Art. 42 Abs. 2 PAG zu verweisen. Es sei ausreichend sichergestellt, dass er von eventuellen Eingriffen nachträglich benachrichtigt werde. Dass dem Kläger durch den Verweis auf repressiven Rechtsschutz unzumutbare Nachteile entstünden, sei nicht ersichtlich.
5
Das Zulassungsvorbringen zieht die Richtigkeit dieses Urteils nicht ernstlich in Frage. Insoweit verweist der Senat auf seine Ausführungen im Beschluss vom 28. November 2019 im Verfahren des einstweiligen Rechtschutzes (10 CE 19.2234), die das Verwaltungsgericht seinem Urteil zu Grunde gelegt hat. Die vom Senat dort vertretene Auffassung, dass vorbeugender Rechtsschutz auch bei (befürchteten) Maßnahmen der Telekommunikationsüberwachung nur im Falle eines besonderen Rechtsschutzbedürfnisses gewährt werden kann, wobei ein solches Rechtsschutzinteresse voraussetzt, dass dem Betroffenen eine Verweisung auf repressiven Rechtsschutz nicht zumutbar ist, entspricht der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (U.v. 13.12.2017 - 6 A 6/16 - juris Rn. 12 ff, 16 m.w.N. zur Speicherung und Nutzung von Telekommunikations-Metadaten durch den Bundesnachrichtendienst).
6
Der alleinige Einwand des Klägers (das übrige Zulassungsvorbringen beschäftigt sich mit nicht entscheidungserheblichen Fragen materiellen Rechts), hierin liege ein Verstoß gegen Art. 5 der Richtlinie 2002/58/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Juli 2002 über die Verarbeitung personenbezogener Daten und den Schutz der Privatsphäre in der elektronischen Kommunikation (Datenschutzrichtlinie für elektronische Kommunikation, ABl. EG Nr. L 201 vom 31.7.2002 S. 37), greift nicht durch.
7
Art. 5 RL 2002/58/EG verpflichtet die Mitgliedstaaten, die Vertraulichkeit der mit öffentlichen Kommunikationsnetzen und öffentlich zugänglichen Kommunikationsdiensten übertragenen Nachrichten und der damit verbundenen Verkehrsdaten durch innerstaatliche Vorschriften sicherzustellen und insbesondere das Mithören, Abhören und Speichern sowie andere Arten des Abfangens oder Überwachens von Nachrichten und der damit verbundenen Verkehrsdaten durch andere Personen als die Nutzer zu untersagen, wenn keine Einwilligung der betroffenen Nutzer vorliegt, es sei denn, dass diese Personen gemäß Art. 15 Abs. 1 RL 2002/58/EG gesetzlich dazu ermächtigt sind. Ein individueller Anspruch auf Gewährung vorbeugenden Rechtsschutzes durch nationale Gerichte unter gegenüber den allgemeinen Anforderungen abgesenkten Anforderungen ist dem Wortlaut der Vorschrift nicht zu entnehmen. Auch der allgemeine Anspruch auf effektive gerichtliche Kontrolle hinsichtlich gemeinschaftsrechtlich begründeter Rechte des Einzelnen gebietet es nicht, Art. 5 RL 2002/58/EG in diesem Sinne auszulegen. Die Gewähr eines effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes ist ein allgemeiner Rechtsgrundsatz, der den gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten zugrunde liegt, in Art. 6 und 13 der EMRK Ausdruck gefunden hat und auf die Anwendung von Unionsrecht durch die Union und die Mitgliedstaaten Anwendung findet (vgl. Wegener in Calliess/Ruffert, EU-Vertrag (Lissabon), 5. Aufl. 2016, Art. 19 Rn. 41; Gellermann in Rengeling/Middeke/Gellermann, Handbuch des Rechtsschutzes in der Europäischen Union, 3. Aufl. 2014, § 37 Rn. 1 jeweils mit zahlreichen Nachweisen zur Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs). Auch Art. 47 Abs. 1 EU-GR-Charta garantiert einen entsprechenden effektiven Rechtsschutz. Hinsichtlich des Rechtsschutzes gegen Rechtsakte und Handlungen der Mitgliedstaaten durch die nationalen Gerichte kommt dem nationalen Gesetzgeber aufgrund der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten bei der Ausgestaltung seiner Verfahrensordnungen ein erheblicher Spielraum zu (vgl. Eser/Kubiciel in Meyer/Hölscheidt, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 5. Auflage 2019, GRCh Art. 47 Rn. 15). Für den Fall der Anwendung des Unionsrecht durch Unionsorgane sieht der Europäische Gerichtshof eine vorbeugende gerichtliche Kontrolle zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes nur dann als erforderlich an, wenn dem Betroffenen andernfalls ein „außerordentlich schwerer Schaden“ droht (EuGH, U.v. 24.6.1986 - AKZO, C-53/85 - Slg. 1986, 1965; zustimmend Rademacher, JuS 2018, 337/340 ff.; ebenso Gellermann in Rengeling/Middeke/Gellermann, Handbuch des Rechtsschutzes in der Europäischen Union, 3. Aufl. 2014, § 37 Rn. 11).
8
Dass gerade Art. 5 RL 2002/58/EG einen vorbeugenden Rechtsschutz jenseits der Fälle einer Unzumutbarkeit nur repressiven Rechtschutzes zwingend erforderlich machen würde, ist angesichts dessen nicht anzunehmen, zumal der Europäische Gerichtshof die Auffassung vertritt, dass die Richtlinie 2002/58/EG die Nutzer von Telekommunikationsdiensten nicht individuell und unmittelbar betrifft und die Nichtigkeitsklage eines Nutzers gegen eine Vorschrift der Richtlinie daher wegen fehlender Klagebefugnis als unzulässig abgewiesen hat (EuG, B.v. 6.5.2003 - Vannieuwenhuyze-Morin, T-321/02 - Slg. 2004, II-1997).
9
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, die Streitwertfestsetzung auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 45 Abs. 1 Sätze 2 und 3, § 47 Abs. 1 und 3 sowie § 52 Abs. 2 GKG.
10
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).
11
Mit der Ablehnung des Antrags wird die Entscheidung des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).