Titel:
Asylverfahren – Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft wegen Verfolgung aufgrund Homosexualität/Bisexualität – Algerien
Normenketten:
VwGO § 113 Abs. 1, Abs. 5 S. 1
AsylG § 3
Anerkennungs-RL Art. 9, Art. 10 Abs. 1 lit. d
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1
Leitsatz:
Homosexuellen und auch Bisexuellen droht in Algerien flüchtlingsrelevante Verfolgung. Gleichgeschlechtliche Beziehungen und homosexuelle Handlungen sind strafbar und könne mit Haftstrafen bis zu drei Jahren und Geldstrafen geahndet werden. Zudem kommt es darüber hinaus regelmäßig zu Diskriminierungen und tätliche Übergriffen. (Rn. 35) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Algerien, Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, Homosexualität, Bisexualität, drohende Verfolgung durch Polizei, Drohungen durch nichtstaatliche Akteure, Situation von Homosexuellen in Algerien, beachtlich wahrscheinliche Verfolgungsgefahr, ernsthafte Gefahr für Homosexuelle, Verzicht auf Ausleben der Homosexualität nicht zumutbar, verheimlichen der Homosexualität in Vergangenheit unschädlich, fehlende interne Schutzmöglichkeit auf Dauer, Abschiebungsschutz, Asylantrag, Glaubhaftigkeit angenommen, Verfolgung, Zuerkennung, Flüchtlingseigenschaft
Fundstelle:
BeckRS 2020, 14407
Tenor
I. Die Nummern 1 und 3 bis 6 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 11. Februar 2020 werden aufgehoben.
Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
II. Die Kosten des Verfahrens hat die Beklagte zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vorher in gleicher Höhe Sicherheit leistet.
Tatbestand
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Der Kläger, algerischer Staatsangehöriger, reiste nach eigenen Angaben am 7. Januar 2020 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 15. Januar 2020 einen Asylantrag. Zur Begründung seines Asylantrages gab der Kläger im Wesentlichen an: Er habe in Algerien drei Jahre lang eine sexuelle Beziehung zu einem Mann gehabt und sei von dessen Familie mit dem Tod bedroht worden. Auch die Polizei habe nach ihm gesucht. Er habe im Jahr 2016 auch schon eine Beziehung zu einer Frau gehabt.
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Mit Bescheid vom 11. Februar 2020 erkannte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft nicht zu (Nr. 1), lehnte den Antrag auf Asylanerkennung ab (Nr. 2) und erkannte den subsidiären Schutzstatus nicht zu (Nr. 3). Weiter stellte es fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 4). Der Kläger wurde aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe der Entscheidung, im Falle der Klageerhebung innerhalb von 30 Tagen nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens zu verlassen. Die Abschiebung nach Algerien oder in einen anderen Staat wurde angedroht (Nr. 5). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde angeordnet und auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 6). Zur Begründung ist im Wesentlichen ausgeführt, dem Kläger drohe wegen seiner Zugehörigkeit zur berberischen Minderheit keine flüchtlingsrelevante Verfolgung. Den geschilderten Bedrohungen durch die Verwandten seines Ex-Partners habe er sich in der Vergangenheit in Algier entziehen können. Er habe eine begründete Furcht vor Verfolgung oder vor einem ernsthaften Schaden wegen seiner Homosexualität nicht glaubhaft gemacht.
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Am 19. Februar 2020 erhob der Kläger zu Protokoll des Urkundsbeamten Klage gegen den streitgegenständlichen Bescheid.
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Zur Klagebegründung ließ der Kläger mit Schriftsatz seines Bevollmächtigten vom 11. Mai 2020 im Wesentlichen ausführen: Vorab sei klarzustellen, dass der Kläger bisexuell sei, da er auch sexuelle Beziehungen zu Frauen unterhalte, wobei die sexuellen Beziehungen zu Frauen nicht das Bedürfnis zu sexuellen Beziehungen zu Männern abdecken könne. Höchstvorsorglich werde die Einholung einer Auskunft einer sachverständigen Stelle beantragt. Homosexuelle bzw. Bisexuelle bildeten unzweifelhaft eine „soziale Gruppe“. Homosexuelle Handlungen seien in Algerien strafbar. Homosexuelle besäßen in Algerien eine deutlich abgegrenzte Identität, weil sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet würden. Entsprechendes gelte selbstverständlich auch für bisexuell veranlagte Menschen. Die homosexuelle Prägung sei identitätsbildend, sodass der Kläger auf diese nicht verzichten habe können und könne. Es komme auch zu strafrechtlichen Verfolgungen, wenn homosexuelle Neigungen ausgelebt würden und dies öffentlich werde. Zudem gebe es in der Bevölkerung keinerlei Toleranz gegen LGBTI-Personen und es komme zu Diskriminierungen und Benachteiligungen. Einer Verfolgung könne sich der Kläger auch nicht dauerhaft entziehen, da er hierfür dauerhaft gezwungen wäre, seine homosexuellen Neigungen durch Ausleben von sexuellen Kontakten und Beziehungen zu Männern zu unterdrücken.
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Mit Schriftsatz vom 25. Mai 2020 ließ der Kläger mitteilen, dass er den Antrag auf Anerkennung als Asylberechtigter nicht mehr aufrechterhalte.
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Die Beklagte beantragte mit Schriftsatz vom 21. Februar 2020,
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Die Kammer übertrug den Rechtsstreit mit Beschluss vom 19. Februar 2020 dem Berichterstatter als Einzelrichter zur Entscheidung.
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Mit Beschluss vom 24. April 2020 bewilligte das Gericht dem Kläger Prozesskostenhilfe unter Beiordnung seines Prozessbevollmächtigten.
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Mit Beschluss vom 28. Mai 2020 trennte das Gericht den zurückgenommenen Klageteil betreffend die Anerkennung als Asylberechtigter ab, führte ihn unter dem Aktenzeichen W 8 K 20.30571 fort und stellt ihn auf Kosten des Klägers ein.
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In der mündlichen Verhandlung am 15. Juni 2020 beantragte der Klägerbevollmächtigte,
die Beklagte unter Aufhebung der Nummern 1 und 3 bis 6 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 11. Februar 2020 zu verpflichten, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen;
hilfsweise dem Kläger den subsidiären Schutz zuzuerkennen;
hilfsweise festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG vorliegen.
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Das Gericht hörte den Kläger informatorisch an.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakte sowie die beigezogene Behördenakte Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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Die Klage, über die entschieden werden konnte, obwohl nicht alle Beteiligten in der mündlichen Verhandlung erschienen sind (§ 102 Abs. 2 VwGO), ist zulässig und begründet.
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Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 11. Februar 2020 ist in seinen Nummern 1 und 3 bis 6 rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 und Abs. 5 Satz 1 VwGO). Der Kläger hat im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 AsylG) einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Aus diesem Grund war der streitgegenständliche Bescheid, wie beantragt, insoweit aufzuheben. Über die hilfsweise gestellten Anträge zum subsidiären Schutz (§ 4 AsylG) und zu den nationalen Abschiebungsverboten (§ 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG) war nicht zu entscheiden.
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Der Kläger hat einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 AsylG.
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Unter Zugrundelegung des klägerischen Vorbringens sowie unter Berücksichtigung der vorliegenden Erkenntnisquellen steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass dem Kläger im Falle seiner Rückkehr nach Algerien flüchtlingsrelevante Verfolgungsmaßnahmen drohen. Nach der in der mündlichen Verhandlung gewonnenen Überzeugung und insbesondere aufgrund des persönlichen Eindrucks des Gerichts vom Kläger hat der Kläger sein Heimatland aus begründeter Furcht vor politischer Verfolgung verlassen. Gleichermaßen besteht für den Kläger eine beachtliche Verfolgungswahrscheinlichkeit bei einer Rückkehr nach Algerien. Die Würdigung der Angaben des Klägers ist ureigene Aufgabe des Gerichts im Rahmen seiner Überzeugungsbildung gemäß § 108 VwGO.
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Gemäß §§ 3 ff. AsylG darf ein Ausländer in Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit oder seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Eine Bedrohung liegt dann vor, wenn anknüpfend an Verfolgungsgründe wie die sexuelle Orientierung (vgl. dazu Art. 10 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13.12.2011 - so genannte Anerkennungsrichtlinie bzw. § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG) Verfolgungshandlungen im Sinne von Art. 9 der Anerkennungsrichtlinie (§ 3a AsylG) mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen. Dabei ist es nicht zumutbar, von homosexuellen Betätigungen Abstand zu nehmen, um nicht verfolgt zu werden (EuGH, U.v. 7.11.2013 - C-199/12 bis C-201/12 - ABl. EU 2014, Nr. C 9 S. 8 - NVwZ 2014, 132; EuGH, U.v. 5.9.2012 - C-71/11 und C-99/11 - ABl. EU 2012, Nr. C 331 S. 5 - NVwZ 2012, 1612).
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Eine beachtliche Verfolgungswahrscheinlichkeit (siehe zum einheitlichen Wahrscheinlichkeitsmaßstab BVerwG, U.v. 1.6.2011 - 10 C 25/10 - BVerwGE 140, 22; U.v. 27.4.2010 - 10 C 5/09 - BVerwGE 136, 377) liegt dann vor, wenn die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegensprechenden Tatsachen überwiegen. Maßgebend ist letztlich, ob es zumutbar erscheint, dass der Ausländer in sein Heimatland zurückkehrt (BVerwG, U.v. 3.11.1992 - 9 C 21/92 - BVerwGE 91, 150; U.v. 5.11.1991 - 9 C 118/90 - BVerwGE 89, 162). Über das Vorliegen einer mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit gegebenen Gefahr politischer Verfolgung entscheidet eine wertende Gesamtbetrachtung aller möglichen verfolgungsauslösenden Gesichtspunkte, wobei in die Gesamtschau alle Verfolgungsumstände einzubeziehen sind, unabhängig davon, ob diese schon im Verfolgerstaat bestanden oder erst in Deutschland entstanden und von dem Ausländer selbst geschaffen wurden oder ob ein Kausalzusammenhang zwischen dem nach der Flucht eingetretenen Verfolgungsgrund und entsprechend den schon in dem Heimatland bestehenden Umständen gegeben ist (BVerwG, U.v. 18.2.1992 - 9 C 59/91 - Buchholz 402.25, § 7 AsylG Nr. 1).
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Aufgrund seiner prozessualen Mitwirkungspflicht hat ein Kläger (oder eine Klägerin) seine (ihre) Gründe für seine politische Verfolgung schlüssig und vollständig vorzutragen (§ 25 Abs. 1 und 2 AsylG, § 86 Abs. 1 Satz 1 2. Halbsatz VwGO). Er muss unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt schildern, aus dem sich - als wahr unterstellt - bei verständiger Würdigung die behauptete Verfolgung ergibt. Bei den in die eigene Sphäre des Klägers fallenden Ereignissen, insbesondere seinen persönlichen Erlebnissen, muss er eine Schilderung abgeben, die geeignet ist, den Abschiebungsschutz lückenlos zu tragen. Unauflösbare Widersprüche und erhebliche Steigerungen des Vorbringens sind hiermit nicht vereinbar und können dazu führen, dass dem Vortrag im Ganzen nicht geglaubt werden kann. Bleibt ein Kläger hinsichtlich seiner eigenen Erlebnisse konkrete Angaben schuldig, so ist das Gericht nicht verpflichtet, insofern eigene Nachforschungen durch weitere Fragen anzustellen. Das Gericht hat sich für seine Entscheidung die volle Überzeugung von der Wahrheit, nicht bloß von der Wahrscheinlichkeit zu verschaffen (vgl. hierzu BVerwG, U.v. 16.4.1985 - 9 C 109.84 - BVerwGE 71, 180).
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Dem Kläger ist es gelungen, die für seine Ansprüche relevanten Gründe in der dargelegten Art und Weise geltend zu machen. Unter Zugrundelegung der Angaben des Klägers ist eine begründete Gefahr politischer Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit anzunehmen. Gerade durch die persönlichen glaubhaften Angaben des Klägers in der mündlichen Verhandlung über sein Schicksal im Zusammenhang mit seiner Homosexualität bzw. Bisexualität hat das Gericht keine Zweifel, dass dem Kläger bei einer Rückkehr in ihr Heimatland mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung droht.
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Der Kläger hat im Gerichtsverfahren, insbesondere im Rahmen der informatorischen Anhörung in der mündlichen Verhandlung sein Schicksal als Bisexueller glaubhaft geschildert. Dazu ist zu anzumerken, dass im Lichte der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH, U.v. 2.12.2014 - C-148/13 bis 150/13 - ABl. EU 2015, Nr. C 46 S. 4 - NVwZ 2015, 132) zum einen darauf zu achten war, zu zudringliche, diskriminierende und menschenunwürdige Fragen gerade zum Intimbereich und zu Einzelheiten der sexuellen Erlebnisse zu vermeiden. Zum anderen ist bei der Würdigung der Aussagen des Klägers zu bedenken, dass angesichts des sensiblen Charakters der Informationen, die die persönliche Intimsphäre einer Person, insbesondere ihre Sexualität, betreffen, allein daraus, dass diese Person, weil sie zögert, intime Aspekte ihres Lebens zu offenbaren und gewisse Sachverhalte gegenüber dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge nicht so deutlich bzw. anders angegeben hat, nicht geschlossen werden kann, dass sie deshalb unglaubwürdig ist (vgl. EuGH, U.v. 2.12.2014 - C-148/13 bis 150/13 - ABl. EU 2015, Nr. C 46 S. 4 - NVwZ 2015, 132; siehe auch Gärlich, Anmerkung, DVBl. 2015, 165, 167 ff.). Weiter ist zu bedenken, dass die homosexuelle Entwicklung des Einzelnen und das Offenbaren sowie das Ausleben der Homosexualität individuell sehr unterschiedlich verlaufen und nicht zuletzt von der Persönlichkeitsstruktur des Betroffenen, seiner kulturellen, gesellschaftlichen und auch religiösen Prägung sowie seiner intellektuellen Disposition abhängen (vgl. Berlit, jurisPR-BVerwG 22/2015, Anm. 6).
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Das Vorstehende gilt auch im Blick auf Bisexuelle. Denn das Bundesverfassungsgericht hat ausdrücklich ausgeführt, dass die Annahme, ein Bisexueller könne darauf verwiesen werden, seine homosexuelle Orientierung in seinem Heimatland geheim zu halten (sog. Diskretionsgebot) vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs schlechthin unvertretbar wäre und die Willkürschwelle überschreiten würde (BVerfG, B.v. 22.1.2020 - 2 BvR 1807/19 - Asylmagazin 2020, S. 80 f. mit Anmerkung von Braun/Dörr/Träbert, S. 81 ff.).
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Das Gericht hat bei der gebotenen richterlichen Beweiswürdigung aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens die Überzeugung gewonnen, dass der Kläger tatsächlich bisexuell veranlagt ist und diese bisexuelle Veranlagung schon in der Vergangenheit sowohl in Algerien und in Griechenland ausgelebt hat als auch hier in der Bundesrepublik Deutschland auslebt bzw. ausleben will. Er hat gleichgeschlechtliche Beziehungen zu anderen Männern unterhalten. Das Gericht hat nicht den Eindruck, dass der Kläger die Bisexualität nur aus asyltaktischen Gründen vorgibt. Vielmehr sprechen seine Schilderungen von einem wirklich erlebten Schicksal und Werdegang als Bisexueller.
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Der Kläger hat bei seinem Vorbringen in der mündlichen Verhandlung nicht bloß abstrakt von einem ausgedachten, flüchtlingsrelevanten Sachverhalt berichtet, sondern in umfangreichen Ausführungen detailreich sein Schicksal als Bisexueller geschildert. Anders als bei einem erfundenen Schicksal erwähnte der Kläger dabei auch immer wieder nebensächliche Details und lieferte so eine anschauliche Schilderung seiner Erlebnisse. Hinzu kommen die dabei gebrauchte Wortwahl sowie die gezeigte Mimik und Gestik, auch verbunden mit einem Einblick in ihre Gefühlslage und Gedankenwelt. Gerade die nicht verbalen Elemente bei der Aussage (Körpersprache, Gestik, Mimik usw.) sprechen gewichtig für die Ehrlichkeit des Klägers und für den wahren Inhalt seiner Angaben. Dabei kommt das Auftreten des Klägers in der mündlichen Verhandlung und die Art und Weise seiner Aussage im Protokoll über die mündliche Verhandlung nur ansatzweise zum Ausdruck.
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Der Kläger schilderte glaubhaft, dass er erst mit 25 Jahren festgestellt habe, dass er bisexuell sei. Er führte aus, dass er in der Schule auch Beziehungen zu Mädchen und Frauen gehabt habe. Er habe auch noch während der Schulzeit, etwa im Alter von 18 bis 20 Jahren gemerkt, dass er sich auch zur männlichen Seite hingezogen fühle, aber noch nichts gemacht. Vorher habe er nicht festgestellt, dass er bisexuell sei. Erst mit 18 habe er gemerkt, dass er auch Beziehungen zu Männer haben wolle. Er habe zunächst eine kürzere Beziehung zu einer Frau und dann von 2016 bis 2018 drei Jahre lang eine homosexuelle Beziehung zu einem anderen Mann gehabt. Der Kläger erklärte ausdrücklich, dass er sich dabei nicht geschämt habe, sondern glücklich gewesen sei. Er beschrieb weiter, wie er in dieser Zeit der bisexuellen bzw. homosexuellen Beziehung zu dem anderen Mann auch Sex-Videos angeschaut habe. Er habe auch andere homosexuelle Männer kennen gelernt. Er habe sich über Internet und über das Fernsehen informiert, über ausländische Fernsehkanäle. Für ihn sei seine bisexuelle Neigung normal gewesen.
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Der Kläger konnte ausführlich darlegen, wie er seinen damaligen Lebensgefährten in einem Park kennen gelernt habe und zwar in einem ganz normalen Park, der nicht zu groß gewesen sei. Sie hätten dort zusammengesessen und sich unterhalten. So habe ihre Beziehung angefangen. Sein Freund sei homosexuell gewesen, also nicht bisexuell. Dieser habe keine Beziehung zu Frauen gewollt. Der Kläger beschrieb weiter, wie die sexuellen Handlungen begonnen hätten, als sein Freund ihn zu Hause besucht habe. Sie hätten sich auch später im Park getroffen und seien zu ihm nach Hause. Insofern habe es keine Bedenken seitens seiner Familie gegeben. Sie hätten immer gesagt, sie seien Kumpels, und als Kumpels könnten sie sich auch so treffen. Die sexuellen Handlungen habe es gegeben, als der Freund zu ihm nach Hause gekommen und bei ihm im Zimmer gewesen sei. Sie hätten sich beim Sex auch immer leise verhalten. Sein Freund sei drei Mal die Woche in diesen drei Jahren zu ihm gekommen. Es habe auch Zeiten gegeben, wo der Freund aber keine Zeit gehabt habe. Die sexuellen Handlungen seien bei ihm zu Hause erfolgt.
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Der Kläger erklärte weiter, er habe kein Problem mit seiner Familie gehabt, auch nachdem sie dies herausbekommen hätten. Probleme habe er vor allem mit der Familie und insbesondere dem Onkel seines Freundes gehabt. Nachdem sich sein Freund einem anderen Freund anvertraut gehabt habe, habe es dieser dessen Familie weitererzählt. Der Kläger betonte wiederholt, dass er Angst gehabt habe und von der anderen Familie, insbesondere vom Onkel, bedroht worden sei. Er habe sich gezwungen gesehen, seine Heimat zu verlassen und in die Hauptstadt Algier zu ziehen. Er sei immer heimlich zu seiner Familie gefahren. Mit seinem Wegzug habe auch die Beziehung zu seinem Freund geendet. Er habe auch Angst gehabt, dass er angezeigt werde und jetzt Probleme mit der Regierung bekomme. Es gebe ein Gesetz. Er befürchte danach wegen homosexueller Handlungen bestraft zu werden.
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Der Kläger erklärt weiter, er habe keinen Kontakt mehr zu seinem Freund, nachdem er sein Handy verloren gehabt habe. Er würde gern einmal wissen, wie es ihm gehe, aber er wisse nicht, wie er ihn erreichen könne.
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Der Kläger räumte des Weiteren ehrlich ein, dass er sich in Algerien nicht für homosexuelle Organisationen oder entsprechende Communities interessiert habe. Er habe sich insofern dort nicht weiter informiert. Auch in Deutschland habe er, gerade aufgrund der Corona-Situation, nicht die Möglichkeit gehabt, irgendwelche Organisationen aufzusuchen.
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Der Kläger gab weiter, ohne aufzubauschen, an, dass er, auf seiner Flucht, eine kurze homosexuelle Beziehung zu einem Mann in Griechenland gehabt habe sowie auch in Deutschland außerhalb seiner Unterkunft. Der andere habe in Deutschland nur Deutsch gesprochen. Er sei, wie der Kläger, mit dem Fahrrad unterwegs gewesen. Sie hätten angehalten und miteinander geredet und so sei es entstanden. Hinter Bäumen hätten dann sexuelle Handlungen stattgefunden. Der Kläger erklärte auch, er habe in Deutschland noch keine Internet-Seite betreffend Homosexuelle aufgerufen, weil er sich noch nicht so sicher fühle.
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Des Weiteren erklärte der Kläger ausdrücklich auf die gerichtliche Frage, zu wem er sich mehr hingezogen fühle, zu Frauen oder zu Männern: Beides sei für ihn gut. Dies sei für ihn normal. Er sei insofern glücklich. Er könne nicht nach Algerien zurück und dort seine Bisexualität verheimlichen. Denn dann käme es wieder zu einer Situation, wie das letzte Mal, dass es dann herauskäme und er hätte Angst, dass ihm was geschehe. Er sei nach Deutschland gekommen, weil er bisexuell sei, weil er in Algerien bedroht worden sei und weil er hier die Freiheit habe.
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Außerdem habe er Angst, dass er bei einer Rückkehr nach Algerien nicht nur bedroht werde, sondern dass er auch staatlicherseits belangt werde.
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Nach dem Gesamteindruck bestehen für das Gericht keine Zweifel an der Richtigkeit der Angaben des Klägers in den Kernaussagen zur eigenen Bisexualität. Das Gericht ist davon überzeugt, dass der Kläger betreffend seine Bisexualität die Wahrheit gesagt hat. Das Gericht ist weiter davon überzeugt, dass der Klägerbei einer Rückkehr nach Algerien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit Repressionen von Vertretern des Staates bzw. von Privatpersonen zu rechnen hätte, sofern er seine Bisexualität und deren Ausleben nicht aus Angst vor Verfolgung unterdrücken und verheimlichen würde. Vor diesem Hintergrund ist es dem Kläger angesichts der in Algerien herrschenden Verhältnisse nicht zuzumuten, in sein Heimatland zurückzukehren.
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Der Kläger hat seine sexuelle Identität als Schwuler bzw. als Bisexueller schlüssig und im Kern widerspruchsfrei dargetan. Er hat schlüssig dargestellt, wann er seine eigene Bisexualität wahrgenommen hat, welche Erfahrungen er aufgrund dieser Bisexualität in Algerien gemacht hat, wie er bis zur Ausreise in Algerien gelebt hat, was zur Ausreise geführt hat und wie es nach der Ausreise in Griechenland und in Deutschland weitergegangen ist. Der Kläger hat weiter glaubhaft dargelegt, dass er seine sexuellen Neigungen zunächst mit Frauen und dann in einer festen homosexuellen Beziehung ausgelebt hat und homosexuelle Kontakte sowohl in Griechenland als auch in Deutschland gehabt hat. Nicht zuletzt betonte er, dass er kein schlechtes Gewissen habe. Er sei glücklich gewesen. Für ihn sei seine sexuelle Neigung normal gewesen.
35
Homosexuellen und auch Bisexuellen droht in Algerien nach den vorliegenden Informationen aus den Erkenntnisquellen flüchtlingsrelevante Verfolgung. Gleichgeschlechtliche Beziehungen und homosexuelle Handlungen sind nach Art. 333 und 338 des algerischen Strafgesetzbuches strafbar und könne mit Haftstrafen bis zu drei Jahren und Geldstrafen geahndet werden. Die vage Definition von homosexuellen Akten und Akten gegen die Natur im Gesetz erlaubt gemäß LGBT-Aktivisten pauschale Beschuldigungen, welche in zahlreichen Inhaftierungen wegen gleichgeschlechtlicher Beziehungen resultieren, allerdings in keinen Verurteilungen. Daneben sieht Art. 333 eine qualifizierte Strafbarkeit für Erregung öffentlichen Ärgernisses mit Bezügen zur Homosexualität vor. In der Rechtpraxis finden beide Vorschriften regelmäßig Anwendung, insbesondere werden die Vorschriften von den Polizei- und Strafverfolgungsbehörden zur Verhinderung der Gründung von Schutzorganisationen homosexueller Personen herangezogen. Da homosexuelle Handlungen vom Koran verboten, gesetzlich unter Strafe und von der Gesellschaft stigmatisiert werden, gibt es in Algerien keine einzige offiziell anerkannte NGO in diesen Kontext. LGBT-Organisationen sind politisch marginalisiert. Ihre Registrierung wird eingeschränkt. Eine systematische Verfolgung homosexueller Personen (verdeckte Ermittlungen etc.) findet nach vorliegenden Erkenntnissen nicht statt. Homosexualität wird für die Behörden dann strafrechtlich relevant, wenn sie offen ausgelebt wird. Homosexualität ist ein Tabu-Thema. Es kann weiter nicht ausgeschlossen werden, dass Homosexuelle aufgrund ihrer als unislamisch empfundenen Lebensweise durch islamistische Gruppierungen gefährdet sind. In arabischen Zeitungen erscheinen vereinzelt Hassartikel. Die Polizei duldet Diskriminierung oder gewalttätige Übergriffe auf Homosexuelle. Übergriffe kommen regelmäßig vor und Betroffene verzichten aus Angst vor Offenlegung ihrer sexuellen Orientierung häufig auf eine Anzeige. Aus Angst, selbst verhaftet zu werden, vermeiden Homosexuelle Übergriffe bei der Polizei zu melden. Aktivisten berichten vielmehr in der Vergangenheit von willkürlichen Verhaftungen, physischer und sexualisierter Gewalt durch Polizeibeamte. Viele LGBT-Personen lebten ihre Sexualität nicht offen aus, um Diskriminierung, familiäre und soziale Ausgrenzung oder Belästigung zu vermeiden. Im Februar des Jahres 2019 wurde ein junger Mann in seinem Zimmer in einem Studentenwohnheim in Algier dort aufgefunden. Auf den Wänden stand geschrieben „He is gay“ - Er ist schwul - (BFA, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Algerien vom 18.3.2020, S. 25 f.; Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der demokratischen Volksrepublik Algerien, Stand: Mai 2019, vom 25.6.2019, S. 14 und 16; Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Länderreport 11, Algerien, Marokko, Tunesien, Stand: 6/2019, S. 3 f.; Deutsche Welle, Sichere Herkunftsstaaten? Homosexuelle in Maghreb vom 15. Februar 2019 (https://www.dw.com/de/sichere-herkunftsstaaten-homosexuelle-im-maghreb/a-47502207; Wikipedia, LGBT-Rechte in Algerien https://en.wikipedia.org/wiki/LGBT_rights_in_Algeria; Queer, Algerien: Student aus Homo-Hass getötet, vom 11. Februar 2019 https://www.queer.de/detail.php?article_id=32957 sowie LSVD, Lesben- und Schwulenverband in Deutschland, https://www.lsvd.de/de/recht/rechtsprechung/asylrecht/herkunftslaender, auch mit Aussagen der Bundesregierung zum Thema).
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Auch wenn nach diesen Erkenntnissen nur wenige Fälle der Verurteilung wegen Homosexualität offiziell dokumentiert sind, ist festzuhalten, dass nach den vorstehenden Ausführungen die Dunkelziffer deutlich höher ist. Zudem kommt es darüber hinaus regelmäßig zu Diskriminierungen und tätliche Übergriffen. Auch der Umstand, dass im Privaten gelebte Homosexualität bzw. Bisexualität in der Regel nur auf Anzeige von Familien und Nachbarn oder sonstigen Privatpersonen verfolgt wird, führt nicht zu einer anderen Beurteilung. Denn zum einen ist Homosexuellen bzw. Bisexuellen nicht zuzumuten, ihre sexuelle Orientierung nur im Verborgenen zu leben und damit nicht an die Öffentlichkeit zu gehen. Zum anderen droht Homosexuellen aufgrund des gesellschaftlichen Klimas jederzeit die Anzeige aus ihrem privaten Umfeld heraus. Anzeigen erfolgen nicht allein aus dem Kreis der Familie, sondern aus Teilen der Öffentlichkeit. Somit besteht auch kein interner Schutz in anderen Landesteilen. Maßgeblich ist, dass in der Praxis Freiheitsstrafen wegen homosexueller Handlungen verhängt werden und damit die konkrete Gefahr einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Bestrafung besteht. Diskriminierungen und Bedrohung von privater Seite sind zudem flüchtlingsrelevant, weil Homosexuelle bzw. Bisexuelle, denen Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure droht, nach der Auskunftslage keinen Schutz vom algerischen Staat erwarten können. Der Kläger, der glaubhaft dargelegt hat seine bisexuelle Identität auch ausleben zu wollen, muss damit rechnen, dass seine Bisexualität bzw. auch Homosexualität öffentlich bemerkt wird und nicht ohne Folgen bleibt (im Ergebnis ebenso VG Karlsruhe, U.v. 14.8.2018 - A 1 K 6549/16 - asyl.net: M27794 - https://www.asyl.net/rsdb/m27794/; andere Ansicht noch VG Frankfurt, U.v. 5.3.2020 - 3 K 2341/19.F.A - juris; VG Cottbus, U.v. 4.10.2017 - 5 K 1908/16.A - juris; SaarlOVG, B.v. 4.2.2016 - 2 A 48/15 - juris; VG Hamburg, U.v. 17.2.2011 - 4 A 265/10 - juris; VG Trier, U.v. 29.10.2010 - 1 K 907/10.TR - juris; VG Regensburg, U.v. 15.9.2008 - RN 8 K 08.30020 - juris).
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Die vorstehend zusammenfassend skizzierte Auskunftslage belegt, dass offen gelebte Bisexualität in Algerien ein erhebliches Gefährdungspotenzial für - vornehmlich auch, aber nicht nur - staatliche Verfolgung in sich birgt und sich dieses Potenzial im Einzelfall zu einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit asyl- bzw. flüchtlingsrelevanter Bedrohung verdichten kann.
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Sofern andere Verwaltungsgerichte (vgl. die vorstehenden Verweise zur gegenteiligen Ansicht) eine flüchtlingsrelevante Verfolgung verneint haben, weil sie dem Betreffenden ansinnen, - wie wohl auch schon in der Vergangenheit - in der Öffentlichkeit von sexuellen Handlungen abzusehen bzw. jedenfalls in Algerien eine Partnerschaft mit einer Frau zu führen, um eine homosexuelle Veranlagung nicht nach außen bekannt werden zu lassen, ist dies nach der neuen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs und auch des Bundesverfassungsgerichts - gerade bezogen auf Bisexuelle - rechtlich nicht hinnehmbar. Denn die Annahme, eine gleichgeschlechtliche verheiratete bisexuelle Person könnte darauf verwiesen werden, ihre homosexuelle Orientierung in ihrem Herkunftsland geheim zu halten (sog. Diskretionsgebot), ist vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des EuGH schlechthin unvertretbar und würde die Willkürschwelle überschreiten (so ausdrücklich BVerfG, B.v. 22.01.2020 - 2 BvR 1807/19 - Asylmagazin 2020, S. 80 f.). Das Bundesverfassungsgericht hat damit eindeutig klargestellt, dass die Geheimhaltung der sexuellen Orientierung auch für Bisexuelle unzumutbar ist. Insofern kann ein bisexueller Mann nicht darauf verwiesen werden, seine Sexualität nur mit einer Frau auszuleben. Da für den Kläger auch die Auslebung seiner homosexuellen Neigungen als identitätsprägend anzusehen ist, kann dieser nicht gezwungen werden, hierauf einseitig zu verzichten. Eine Ungleichbehandlung von Homo- und Bisexuellen würde die Willkürschwelle überschreiten. Bisexuelle dürfen ebenso wenig wie Schwule oder Lesbische auf eine vermeintliche Möglichkeit diskreten Lebens in ihrem Herkunftsland verwiesen werden (Braun/Dörr/Träbert, Anmerkung zum Bundesverfassungsgericht, Asylmagazin /2020, S. 81 ff.).
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Nach dieser Erkenntnislage droht dem Kläger bei einer Rückkehr flüchtlingsrelevante Verfolgung.
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Der Kläger hat glaubhaft gemacht, dass er sexuelle Handlungen vorgenommen hat, die die skizzierten Straftatbestände des algerischen Strafrechts erfüllen. Der Kläger hat überzeugend dargelegt, dass er schon seit seiner Schulzeit bisexuelle Neigungen hat und auch entsprechend homosexuell geprägt ist. Vor diesem Hintergrund kann es ihm nicht verwehrt werden, seine Bisexualität auszuleben, wie er dies zum Teil auch schon (wenn auch heimlich) in der Vergangenheit praktiziert hat. Zwar hat er bisher seine Bisexualität im Privaten und Verborgenen ausgelebt und bislang nicht die Aufmerksamkeit der algerischen Strafverfolgungsbehörden erregt, weil er seine Bisexualität sowohl mit Rücksicht auf die Familie und sein Umfeld wegen der fehlenden Akzeptanz sowie auch aus Furcht vor Strafverfolgung bzw. vor Repressionen wie Bedrohung mit dem Tod verheimlicht hat. Der unter dem Druck der Verfolgungsgefahr erzwungene Verzicht auf ein Ausleben der Bisexualität in Algerien bzw. die Unterdrückung und Verheimlichung der eigenen Homosexualität kann dem Kläger jedoch nicht zu seinem Nachteil angelastet werden. Dem Kläger kann darüber hinaus nicht zugemutet werden, bei einer Rückkehr weiter seine sexuelle Identität zu verheimlichen oder seine Zurückhaltung zu üben. Dem Kläger droht bei einer Rückkehr vielmehr verfolgt zu werden, wenn er sich seiner Sexualität entsprechend verhalten würde. Eine bisher fehlende staatliche Verfolgung der Homosexualität in Algerien ist unschädlich. Vielmehr sind in der Person des Klägers gleichwohl die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gegeben.
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Denn die dem Kläger bei einer Rückkehr drohende Verfolgung hat die Qualität einer relevanten Verfolgung i.S. von § 3 ff. AsylG. Die drohenden Verfolgungshandlungen knüpfen an Verfolgungsgründe nach § 3b AsylG an, konkret an § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG. Homosexuelle bzw. Bisexuelle bilden aufgrund ihrer sexuellen Orientierung und ihrer deutlichen abgegrenzten sexuellen Identität eine bestimmte soziale Gruppe (vgl. EuGH, U.v. 7.11.2013 - C-199/12 bis C-201/12 - ABl. EU 2014, Nr. C 9 S. 8 - NVwZ 2014, 132). Die bisexuelle Ausrichtung des Klägers ist nach dem Ergebnis der mündlichen Verhandlung so bedeutsam und prägend für seine Identität, dass er nicht gezwungen werden kann, darauf zu verzichten. Die befürchteten Verfolgungsmaßnahmen knüpfen an seine geschlechtliche Identität unmittelbar an (vgl. auch Marx, AsylG, 10. Aufl. 2019, § 3b Rn. 22 f.).
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Der Europäische Gerichtshof hat ausdrücklich ausgeführt, dass von einem Asylbewerber nicht erwartet werden kann, dass er seine Homosexualität in seinem Herkunftsland geheim hält oder Zurückhaltung beim Ausleben seiner sexuellen Ausrichtung übt, um die Gefahr einer Verfolgung zu vermeiden. Infolgedessen kann einem Betroffenen auch von deutschen Behörden und Gerichten ein derartiges Verhalten zur Vermeidung von staatlichen Repressionen nicht zugemutet werden (EuGH, U.v. 7.11.2013 - C-199/12 bis C-201/12 - ABl. EU 2014, Nr. C 9 S. 8 - NVwZ 2014, 132; EuGH, U.v. 5.9.2012 - C-71/11 und C-99/11 - ABl. EU 2012, Nr. C 331 S. 5 - NVwZ 2012, 1612; vgl. auch Markard, EuGH zur sexuellen Orientierung als Fluchtgrund, Asylmagazin 12/2013, 402; Titze, Sexuelle Orientierung und die Zumutung der Diskretion, ZAR 2012, 93). Umgekehrt kann einem Homosexuellen nicht als nachteilig entgegengehalten werden, wenn er aus Furcht vor Verfolgung auf eine homosexuelle Betätigung verzichtet, sofern die verfolgungsrelevante homosexuelle Betätigung wie hier die sexuelle Identität des Schutzsuchenden kennzeichnet. Ein so unter dem Druck der Verfolgungsgefahr erzwungener Verzicht auf die betreffende Betätigung kann die Qualität einer Verfolgung erreichen und hindert nicht die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (vgl. so zur religiösen Betätigung BVerwG, B.v. 25.8.2015 - 1 B 40/15 - Buchholz 402.25 § 3 AsylVfG Nr. 19; U.v. 20.2.2013 - 10 C 23/12 - BVerwGE 146, 67; Berlit, jurisPR-BVerwG 22/2015, Anm. 6 und 11/2013, Anm. 1; Marx, Anmerkung, InfAuslR 2013, 308). Aus den gleichen Erwägungen hindert die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht, dass der Kläger neben der Angst vor Verfolgung durch staatliche Behörden auch schon aus Angst vor seiner Familie bzw. Umfeld und der drohenden repressiven Folgen in Algerien von einem Ausleben der Homosexualität ganz absieht bzw. dies tunlichst verheimlicht (Titze, Sexuelle Orientierung und die Zumutung der Diskretion, ZAR 2012, 93). Die vorstehenden Ausführungen gelten entsprechend bei Bisexualität (BVerfG, B.v. 22.1.2020 - 2 BvR 1807/19 - Asylmagazin 2020, S. 80).
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Ergänzend wird noch angemerkt, dass dem Kläger nicht entgegengehalten werden kann, die (bisherige) von ihm angegebene bzw. befürchtete Verfolgung beschränke sich primär auf nichtstaatliche Akteure. Denn zum einen droht Bisexuellen in Algerien - wie bereits ausgeführt und auch vom Kläger vorgebracht - konkret eine staatliche Strafverfolgung. Abgesehen davon kann zum anderen nach § 3c Nr. 3 AsylG eine Verfolgung auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen, sofern der algerische Staat wie hier nicht in der Lage und nicht willens ist, hinreichend Schutz vor Verfolgung zu bieten. Bisexuelle haben in Algerien keinen Anspruch auf staatliche Schutzgewährung. Im Gegenteil, der algerische Staat würde den Kläger bei einem Bekanntwerden vielmehr selbst als Bisexuellen bzw. als Homosexuellen verfolgen.
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Gesamtbetrachtet wäre dem Kläger bei einer Rückkehr nach Algerien aufgrund seiner Bisexualität der ständigen Gefahr einer staatlichen Verfolgung, konkret Verfolgungshandlungen im Sinne des § 3a AsylG ausgesetzt, die wiederum an einem Verfolgungsgrund des § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG anknüpfen. Dem Kläger kann weiter nicht zugemutet werden, auf das Ausleben seiner Bisexualität zu verzichten bzw. entgegen seiner sexuellen Identität als Bisexueller auf Dauer und nur eine Ehe mit einer Frau einzugehen. Ein Schutz durch den algerischen Staat ist nicht gegeben. Dies gilt landesweit, so dass es auch keine interne Schutzmöglichkeit gibt. Eine Rückkehr nach Algerien ist dem Kläger unter diesem Vorzeichen nicht zumutbar.
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Nach alledem war dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG zuzuerkennen und der angefochtene Bundesamtsbescheid insoweit in seinen Nummern 1 und 3 bis 6 aufzuheben. Über die hilfsweise gestellten Anträge zum subsidiären Schutz (§ 4 AsylG) sowie zur nationalen Abschiebungsverboten (§ 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG) war nicht zu entscheiden (§ 31 Abs. 3 Satz 2 AsylG).
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Neben der Aufhebung der entsprechenden Antragsablehnung im Bundesamtsbescheid sind auch die verfügte Abschiebungsandrohung und Ausreisefristbestimmung rechtswidrig und daher aufzuheben. Denn das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge erlässt nach § 34 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 59 und § 60 Abs. 10 AufenthG die Abschiebungsandrohung nur, wenn der Ausländer nicht als Asylberechtigter anerkannt und ihm die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt wird. Umgekehrt darf im Fall der Flüchtlingszuerkennung eine Abschiebungsandrohung nicht ergehen. Letzteres ist im gerichtlichen Verfahren - wenn auch noch nicht rechtskräftig - festgestellt.
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Schließlich war auch die Anordnung und Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 1 bis 3 AufenthG (Nr. 6 des Bundesamtsbescheides) aufzuheben, weil mit der Aufhebung der Abschiebungsandrohung auch die Voraussetzungen für diese Entscheidungen entfallen (vgl. § 75 Nr. 12 AufenthG).
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Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG.
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Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit erfolgt aus § 167 VwGO, §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.