Inhalt

OLG München, Beschluss v. 26.06.2020 – 11 W 674/20
Titel:

Rechtsanwaltsvergütung - Anforderungen an die Entstehung der Zusatzgebühr für besonders umfangreiche Beweisaufnahmen 

Normenkette:
VV-RVG Nr. 1010
Leitsatz:
Bei der Zusatzgebühr gemäß VV-RVG Nr. 1010 findet das gesetzgeberische Anliegen in dem bereits nicht klar gefassten Wortlaut einen nur unzureichenden Ausdruck; eine Korrektur im Sinne einer Erweiterung des Anwendungsbereiches obliegt jedoch dem Gesetzgeber. (Rn. 6 – 11)
Schlagworte:
Rechtsanwaltsvergütung, Zusatzgebühr, umfangreiche Beweisaufnahme
Vorinstanz:
LG Traunstein, Beschluss vom 27.04.2020 – 5 O 4172/05
Fundstellen:
AnwBl 2020, 559
FamRZ 2021, 452
JurBüro 2020, 415
BeckRS 2020, 13993
LSK 2020, 13993
ZfS 2020, 467
NJW-RR 2020, 1199

Tenor

I. Die sofortige Beschwerde wird zurückgewiesen.
II. Die Kläger tragen die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
III. Der Beschwerdewert wird auf € 539,51 festgesetzt.

Gründe

I.
1
Die Parteien streiten um die Berechtigung der Zusatzgebühr für „besonders umfangreiche Beweisaufnahmen“ gemäß VV-RVG Nr. 1010.
2
Mit Klageschrift bereits vom 20.10.2005 haben die Kläger gegen die Beklagte Mängelansprüche hinsichtlich von dieser durchgeführter Zimmereiarbeiten geltend gemacht. Nach ausführlicher Beweisaufnahme, insbesondere der Einholung mehrerer Gerichtsgutachten, die von den Sachverständigen teilweise auch mündlich erläutert wurden, gab das Landgericht mit Urteil vom 05.10.2017 der Klage zu einem erheblichen Teil statt; von den Kosten des Rechtsstreits haben die Beklagten danach 82 % zu tragen. Die Berufung der Beklagten blieb ohne Erfolg; deren Nichtzulassungsbeschwerde gegen den Beschluss des OLG München vom 17.08.2018 gemäß § 522 Abs. 2 ZPO wurde zurückgenommen.
3
Mit Festsetzungsgesuch vom 06.11.2019 beanspruchten die Kläger eine 0,3 Zusatzgebühr gemäß VV-RVG Nr. 1010: Diese sei hier berechtigt, insbesondere hätten eine ganze Reihe von Gerichtsterminen stattgefunden, ferner Ortstermine und darüber hinaus sei auch ein Privatgutachten in den Rechtsstreit einbezogen worden.
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Die Rechtspflegerin lehnte mit dem nunmehr angefochtenen Zurückweisungsbeschluss die Festsetzung der Gebühr ab und verwies zur Begründung darauf, es habe zwar mehrere gerichtliche Termine gegeben, jedoch seien nur in zwei dieser Termine Sachverständigen vernommen worden. Die Voraussetzungen für die Entstehung der Gebühr seien damit nicht gegeben. Hiergegen wenden sich die Kläger mit ihrer sofortigen Beschwerde, mit der sie u.a. darauf hinweisen, es sei ein ausführliches Privatgutachten beigezogen worden, ferner habe in dem Gerichtstermin vom 22.05.2014 die Vernehmung von zwei Sachverständigen zumindest begonnen. Das Verfahren sei außergewöhnlich umfangreich gewesen, was sich nicht zuletzt aus dessen Dauer und dem Umfang der Akten ergebe; auf die Beschwerdeschrift im Einzelnen wird Bezug genommen.
II.
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Die gemäß §§ 104 Abs. 3, 567, 569 ZPO zulässige sofortige Beschwerde muss - so nachvollziehbar ihr Anliegen im Kern auch sein mag - ohne Erfolg bleiben:
6
1. Die im Jahre 2013 mit dem Zweiten Kostenrechtsmodernisierungsgesetz eingeführte Gebührenziffer VV-RVG Nr. 1010 lässt, von Wortlaut wie auch von der Gesetzesbegründung her (BT-Drs 17/11471, Seite 272, re. Sp. oben), an Deutlichkeit zu wünschen übrig, weshalb ihr in der Literatur teilweise ein relevanter Anwendungsbereich abgesprochen wird (etwa Hansens, RVGreport 2015, 340, 341; ders., RVGreport 2013, 410). Rechtsprechung dazu existiert kaum (siehe z.B. LG Ravensburg, Beschl. v. 15.04.2015 - 6 O 346/13), die Behandlung in der Kommentarliteratur ist übersichtlich (vgl. Gerold/Schmidt-Müller-Rabe, RVG, 24. Aufl., VV Nr. 1010; Schneider/Wolf, RVG, 8. Aufl., VV Nr. 1010).
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2. Der Senat teilt die Auffassung der Rechtspflegerin, wonach die gesetzlich vorgegebenen Voraussetzungen für die Entstehung der Zusatzgebühr hier nicht angenommen werden dürfen.
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a) Vorliegend kommt es ohne Zweifel nicht darauf an, ob die im Wortlaut genannte „besonders umfangreiche Beweisaufnahme“ bereits durch mindestens drei Gerichtstermine, in denen Sachverständige oder Zeugen vernommen werden, indiziert wird oder ob es sich dabei um ein eigenständiges (vom Rechtspfleger, der das Verfahren nicht kennt), zusätzlich zu prüfendes, Tatbestandsmerkmal handelt: Der langjährige Verlauf des Verfahrens mit einer ganzen Reihe von Gerichtsterminen, mehreren Gutachten etc. etc. legt nahe, dass die Gebühr an diesem Tatbestandsmerkmal nicht scheitern würde.
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b) Das Gesetz sieht indes vor, dass in mindestens drei Terminen Sachverständige oder Zeugen vernommen wurden - daran fehlt es hier. Zu Recht führt die Rechtspflegerin aus, nur in den beiden Terminen vom 09.10.2015 und vom 16.06.2016 sei es zu einer Anhörung der Bausachverständigen gekommen.
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aa) Ein Abstellen auf die gewiss lange Dauer des Verfahrens, den Umfang der Akten, den erheblichen Aufwand der Anwälte etc., ist nicht möglich: Gerade das Kostenrecht bedarf klarer, praktikabler und unmissverständlicher Vorgaben, da es der Rechtspflegerin oder dem Kostenbeamten nicht angesonnen werden kann, in Fällen wie hier weitergehende Überlegungen, beispielsweise zum Anliegen des Gesetzgebers, anzustellen und mit den Prozessbevollmächtigten hierüber zu korrespondieren. Bereits an anderer Stelle hat der Senat mehrfach betont, zumal im Sinne der gebotenen Praktikabilität im Kostenrecht, müsse es dem Gesetzgeber obliegen, unzureichende Bestimmungen zu korrigieren, nicht aber sei es Sache der mit Kostenfragen befassten Beamten, langwierige Ermittlungen anzustellen oder mit Anwälten breite Auseinandersetzungen über die Möglichkeit von Analogien zu führen (siehe z.B. Senatsbeschluss vom 20.09.2019 - 11 WF 666/19, = JurBüro 20, 21).
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bb) Das Verfahren der Kostenfestsetzung, vom BGH häufig als „Massenverfahren“ bezeichnet, bedarf zügiger und unkomplizierter Abwicklung, weshalb es knapp, bündig und formal ausgestaltet und auf Praktikabilität und Effektivität hin angelegt ist (z.B. BGH, Beschl. v. 14.05.2014 - XII ZB 539/11 Tz 7; Beschl. v. 13.10.2011 - V ZB 290/10; Beschl. v. 28.03.2006 - VIII ZB 29/05 Tz 7 f.). Aus diesem Grund muss dem Wortlaut hier letztlich die maßgebliche Bedeutung zukommen. Die Beurteilung, ob ein Verfahren ausreichend „umfangreich“ war oder nicht, wird dem Rechtspfleger im Rahmen der Kostenfestsetzung auch deshalb schwerfallen, weil er damit in diesem Verfahren erstmals befasst wird. Im konkreten Einzelfall mag die Entscheidung insoweit eher einfach sein, andererseits mag es zahlreiche Grenzfälle geben. Aus den genannten Gründen verbleibt es demnach beim Wortlaut.
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Die Anwaltsgebühren sind grundsätzlich Pauschalgebühren, die teilweise - was nicht verkannt wird - nicht kostendeckend sein können, die aber die Notwendigkeit von Billigkeitserwägungen ausschließen (siehe Müller-Rabe, a.a.O., Einl. Rn. 12).
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c) In den Terminen vom 22.05.2014, 23.09.2014 und 06.09.2017 kam es nicht zur Vernehmung von Zeugen oder Sachverständigen. Im Termin vom 22.05.2014 waren Sachverständige zwar anwesend, es kam jedoch wegen eines Befangenheitsgesuches nicht zu deren Anhörung; am 23.09.2014 scheiterte die Vernehmung dann offensichtlich am Abschluss eines Vergleiches.
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Die Beiziehung des in der Beschwerdeschrift genannten Privatgutachtens und dessen Erörterung mögen insgesamt, nachdem dieses zuvor auch durchzuarbeiten war, aufwendig gewesen sein - die Gutachterin wurde jedoch nicht vernommen. Der Gesetzgeber stellt indes schlicht auf die Vernehmung ab, nicht auf die Durcharbeitung von Sachverständigengutachten oder die entsprechende, häufig zeitintensive, Vorbereitung der Anwälte auf Gerichtstermine.
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Nicht hilfreich ist auch der Verweis auf die erfolgten Ortstermine der Gutachter: Der Gesetzeswortlaut spricht ausdrücklich und unmissverständlich von „gerichtlichen Terminen“; diese sind von Ortsterminen eines Sachverständigen jedoch klar zu unterscheiden, siehe Vorb. 3 VV-RVG Abs. 3 Satz 1 einerseits und Abs. 3 Satz 3 Nr. 1 andererseits (mit dem Gesetz daher kaum vereinbar LG Ravensburg, Beschl. v. 15.04.2015, a.a.O.; ebenso zutreffend Schneider/Wolf, a.a.O., VV Nr. 1010 Rn. 22).
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3. Kosten: § 97 Abs. 1 ZPO; der Beschwerdewert entspricht der Höhe der geltend gemachten Zusatzgebühr unter Berücksichtigung der Kostenquote aus dem Urteil des Landgerichts.