Inhalt

VG Würzburg, Urteil v. 08.06.2020 – W 8 K 20.30181
Titel:

Ablehnung der Flüchtlingsanerkennung eines nigerianischen Staatsangehörigen

Normenketten:
AsylG § 3, § 3e, § 4, § 25, § 30 Abs. 3 Nr. 1, § 37 Abs. 2, § 77 Abs. 2
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7, § 60a Abs. 2c
VwGO § 113 Abs. 1 S. 1, Abs. 5 S. 1
GG Art. 16a Abs. 2
EMRK Art. 3
Leitsatz:
Nicht alle Biafra-Anhänger sind in Nigeria von Verfolgung bedroht, sondern nur wenn sie ein höheres Risikoprofil haben. (Rn. 22) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Nigeria, Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, IPOB, Indigenous People of Biafra, angebliche Verfolgung wegen Beteiligung an Protesten betreffend Biafra, qualifizierte Ablehnung seitens des Bundesamtes wegen Vorlage eines Dokuments eines nigerianischen Gerichts und eines daraus resultierenden Widerspruchs, Übersetzung der vorgelegten englischsprachigen Dokumente, ungereimtes und widersprüchliches Vorbringen, keine flüchtlingsrelevante Verfolgung bei Verstoß gegen nigerianisches Strafgesetz (kein Politmalus), inländische Aufenthaltsalternative, Sicherung des Existenzminimums, Bezugnahme auf Bundesamtsbescheid, keine andere Beurteilung durch Corona-Pandemie, Zuerkennung, Flüchtlingseigenschaft, Existenzminimums, Sicherung, terroristische Vereinigung, herausgehobene Stellung, COVID-19-Pandemie
Fundstelle:
BeckRS 2020, 13850

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht er hoben.

Tatbestand

1
Der Kläger ist nigerianischer Staatsangehöriger. Er reiste nach eigenen Angaben am 26. Januar 2019 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 30. Januar 2019 einen Asylantrag. Zur Begründung des Asylantrages gab der Kläger im Wesentlichen an: Er gehöre zu den IPOB (Indigenous People of Biafra). Er habe an Protesten teilgenommen, er sei einer der Führer dieser Organisation gewesen. Wegen einer Aktion sei ein Haftbefehl gegen ihn ergangen. Weiter legte er ein Schriftstück eines nigerianischen Gerichts vom 27. September 2017, in dem seine Person als Nr. 15 aufgelistet ist, vor.
2
Mit Bescheid vom 22. Januar 2020 lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge den Antrag des Klägers auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Nr. 1), auf Asylanerkennung (Nr. 2) sowie auf subsidiären Schutz (Nr. 3) als offensichtlich unbegründet ab. Weiter stellte es fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 4). Der Kläger wurde aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe dieser Entscheidung zu verlassen. Bei Nichteinhaltung der Ausreisefrist wurde ihm die Abschiebung nach Nigeria oder in einen anderen Staat angedroht (Nr. 5). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 6). Zur Begründung ist im Wesentlichen ausgeführt: Das Vorbringen des Klägers sei in wesentlichen Punkten nicht substanziiert und in sich widersprüchlich. Sein Sachvortrag und die eingereichten Beweismittel stünden im krassen Widerspruch zu seinen Angaben. So habe sich der Kläger laut eingereichtem Beweismittel am 27. September 2017 in Nigeria vor Gericht aufgehalten. Zu diesem Zeitpunkt habe er sich aber aufgrund von EURODAC-Treffern nachweislich bereits in Italien aufgehalten. Der Kläger habe auch nicht glaubhaft substanziieren können, dass er sich in der Organisation der IPOB als führende Kraft engagiert habe und dass er schon in Nigeria in Besitz eines Ausweises der IPOB gewesen sein wolle. Der Antrag werde gemäß § 30 Abs. 3 Nr. 1 AsylG als offensichtlich unbegründet abgelehnt. Insbesondere im Hinblick auf das vorgelegte Gerichtsdokument, wonach der Kläger am 27. September 2017 bei einem Gerichtstermin in Nigeria anwesend gewesen sein solle, obwohl er sich nachweislich bereits in Italien befunden habe, sei davon auszugehen, dass er wesentlich falsche Angaben gemacht habe, um einen Asylstatus zu erlangen.
3
Mit Schriftsatz vom 3. Februar 2020, bei Gericht eingegangen am 4. Februar 2020, ließ der Kläger Klage gegen den streitgegenständlichen Bescheid erheben und beantragen,
1.
Der Bescheid der Beklagten vom 22. Januar 2020, Az: …, wird aufgehoben.
2.
Unter Aufhebung des Bescheides wird die Beklagte verpflichtet festzustellen, dass
a) der Kläger asylberechtigt ist.
b) Die Flüchtlingseigenschaft bei ihm vorliegt.
c) Der subsidiäre Schutzstatus bei ihm vorliegt.
d) Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG bei ihm vorliegen.
4
Die Beklagte beantragte mit Schriftsatz vom 4. Februar 2020,
die Klage abzuweisen.
5
Die Kammer übertrugt den Rechtsstreit mit Beschluss vom 4. Februar 2020 dem Berichterstatter als Einzelrichter zur Entscheidung.
6
Mit Beschluss vom 11. Februar 2020 ordnete das Gericht im Sofortverfahren (W 8 S 20.30182) die aufschiebende Wirkung der Klage des Klägers gegen die Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung unter Nr. 5 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 22. Januar 2020 an.
7
Das Gericht veranlasste des Weiteren eine Übersetzung englischsprachiger, in den Behördenakten befindlicher Dokumente, und zwar zum einen eine eidesstattliche Erklärung vom 8. Januar 2019, die Anordnung der Untersuchungshaft vom 27. September 2017 und eine Anklage ebenfalls vom 27. September 2017.
8
In der mündlichen Verhandlung am 8. Juni 2020 wiederholte der Kläger den Antrag aus dem Klageschriftsatz seiner Bevollmächtigten vom 3. Februar 2020. Das Gericht hörte den Kläger informatorisch an.
9
Wegen der Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakte (einschließlich der Akte des Verfahrens W 8 S 20.30182) und die beigezogene Behördenakte Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

10
Die Klage, über die entschieden werden konnte, obwohl nicht alle Beteiligten in der mündlichen Verhandlung erschienen sind (§ 102 Abs. 2 VwGO), ist zulässig, aber unbegründet.
11
Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 22. Januar 2020 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 AsylG sowie auf Anerkennung als Asylberechtigter nach Art. 16a Abs. 1 GG. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung subsidiären Schutzes gemäß § 4 AsylG sowie für die Feststellung von Abschiebungsverboten nach des § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG liegen nicht vor. Die Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung sowie die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots sind ebenfalls nicht zu beanstanden (§ 113 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 5 Satz 1 VwGO).
12
Das Gericht folgt im Ergebnis sowie in der wesentlichen Begründung dem angefochtenen Bescheid und sieht insoweit von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab (§ 77 Abs. 2 AsylG).
13
Eine Anerkennung als Asylberechtigter nach Art. 16a Abs. 1 GG kommt schon deshalb nicht in Betracht, weil der Kläger nach seinen eigenen Angaben auf dem Landweg aus einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaft in die Bundesrepublik Deutschland eingereist ist (Art. 16a Abs. 2 Satz 1 GG).
14
Das Gericht kommt aufgrund der zum Gegenstand des gerichtlichen Verfahrens gemachten Erkenntnismittel auf der Basis des Vorbringens des Klägers, ebenso wie das Bundesamt im angefochtenen Bescheid zum Ergebnis, dass dem Kläger bei einer Rückkehr nach Nigeria keine politische Verfolgung nach § 3 AsylG oder ein ernsthafter Schaden gemäß § 4 AsylG bzw. eine erhebliche Gefahr nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht.
15
Ein Ausländer darf gemäß § 3 ff. AsylG nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Verfolgungshandlungen müssen an diese Gründe anknüpfend mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen (siehe zum einheitlichen Wahrscheinlichkeitsmaßstab BVerwG, U.v. 1.6.2011 - 10 C 25/10 - BVerwGE 140, 22; U.v. 27.4.2010 - 10 C 5/09 - BVerwGE 136, 377). Eine beachtliche Verfolgungswahrscheinlichkeit liegt dann vor, wenn die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegensprechenden Tatsachen überwiegen. Maßgebend ist letztlich, ob es zumutbar erscheint, dass der Ausländer in sein Heimatland zurückkehrt (BVerwG, U.v. 3.11.1992 - 9 C 21/92 - BVerwGE 91, 150; U.v. 5.11.1991 - 9 C 118/90 - BVerwGE 89, 162). Über das Vorliegen einer mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit gegebenen Gefahr politischer Verfolgung entscheidet eine wertende Gesamtbetrachtung aller möglichen verfolgungsauslösenden Gesichtspunkte, wobei in die Gesamtschau alle Verfolgungsumstände einzubeziehen sind, unabhängig davon, ob diese schon im Verfolgerstaat bestanden oder erst in Deutschland entstanden und von dem Ausländer selbst geschaffen wurden oder ob ein Kausalzusammenhang zwischen dem nach der Flucht eingetretenen Verfolgungsgrund und entsprechend den schon in dem Heimatland bestehenden Umständen gegeben ist (BVerwG, U.v. 18.2.1992 - 9 C 59/91 - Buchholz 402.25, § 7 AsylVfG Nr. 1).
16
Aufgrund seiner prozessualen Mitwirkungspflicht hat ein Kläger (oder eine Klägerin) seine (ihre) Gründe für seine politische Verfolgung schlüssig und vollständig vorzutragen (§ 25 Abs. 1 und 2 AsylG, § 86 Abs. 1 Satz 1 2. Halbsatz VwGO). Er muss unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt schildern, aus dem sich - als wahr unterstellt - bei verständiger Würdigung die behauptete Verfolgung ergibt. Bei den in die eigene Sphäre des Klägers fallenden Ereignissen, insbesondere seinen persönlichen Erlebnissen, muss er eine Schilderung abgeben, die geeignet ist, den Abschiebungsschutz lückenlos zu tragen. Unauflösbare Widersprüche und erhebliche Steigerungen des Vorbringens sind hiermit nicht vereinbar und können dazu führen, dass dem Vortrag im Ganzen nicht geglaubt werden kann. Bleibt ein Kläger hinsichtlich seiner eigenen Erlebnisse konkrete Angaben schuldig, so ist das Gericht nicht verpflichtet, insofern eigene Nachforschungen durch weitere Fragen anzustellen. Das Gericht hat sich für seine Entscheidung die volle Überzeugung von der Wahrheit, nicht bloß von der Wahrscheinlichkeit zu verschaffen (vgl. hierzu BVerwG, U.v. 16.4.1985 - 9 C 106.84 - BVerwGE 71, 180).
17
Dem Kläger ist es nicht gelungen, die für seine Ansprüche relevanten Gründe in der dargelegten Art und Weise geltend zu machen, zumal bis zur mündlichen Verhandlung von Klägerseite - trotz Aufforderung nach § 87b Abs. 3 VwGO - überhaupt keine Klagebegründung oder sonst ein relevantes Vorbringen erfolgte. Unter Zugrundelegung der Angaben des Klägers ist das Gericht nicht davon überzeugt, dass eine begründete Gefahr (politischer) Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit bestand bzw. besteht oder sonst eine ernsthafte Gefahr drohte oder droht.
18
Das Bundesamt hat im streitgegenständlichen Bescheid schon zutreffend ausgeführt, dass der Sachvortrag des Klägers im krassen Widerspruch zu den von ihm vorgelegten Dokumenten stehe. Der Kläger habe weiter auch nicht glaubhaft substanziieren können, dass er sich in der Organisation der IPOB als führende Kraft engagiere. Auch seine konkrete Tätigkeit und seine Aktivitäten bei der Demonstration seien oberflächlich geblieben. Die Voraussetzungen des § 30 Abs. 3 Nr. 1 AsylG seien erfüllt, da das Vorbringen des Klägers mit Blick auf das vorgelegte Gerichtsdokument massive Widersprüche aufweise.
19
Die Ausführungen des Bundesamtes sind im Ergebnis nicht zu beanstanden. Der Kläger konnte die Zweifel und Widersprüche in der mündlichen Verhandlung nicht ausräumen. Hier ist schon zu betonen, dass der Kläger gegenüber der Behörde die vorgelegte eidesstattliche Erklärung sowie die gerichtlichen Dokumente, die sich auf eine Gerichtsverhandlung am 27. September 2017 und auf Vorfälle am 14. und 15. September 2017 beziehen, also auf einen Zeitpunkt, zu dem der Kläger nach eigenem Vorbringen schon in Italien gewesen war, vorgelegt hat, ohne auch nur ansatzweise zu erklären, in welcher Beziehung diese Dokumente zu den von ihm vorgetragenen zentralen Verfolgungsschicksal, das sich auf einen Vorfall vom 9. Februar 2016 bezieht, stehen. Erst in der mündlichen Verhandlung und erst auf ausdrückliche Nachfrage des Gerichts gab der Kläger dazu an, die Dokumente belegten, dass er von der Polizei gesucht werde. Der Kläger räumte aber gleichzeitig wiederholt ausdrücklich ein, dass das, was dort stehe, nicht richtig sei, dass es nicht stimme. Alles, was in dem Gerichtsdokument stehe, sei gelogen. Alles, was das Gericht ihm dort vorgeworfen habe, sei erfunden. Das Dokument solle nur als Beleg dazu dienen, dass er von der Polizei gesucht werde. Warum der Kläger diese Information erstmals in der mündlichen Verhandlung gab, erklärte er nicht. Weiter ist in dem Zusammenhang die eidesstattliche Erklärung seines Onkels zweifelhaft, die ihrerseits in Bezug auf die - vom Kläger als inhaltlich unzutreffend bezeichneten - nigerianischen Dokumente vorbringt, sie hätten erfahren, dass der Kläger vor Gericht gestellt worden sei. Des Weiteren erklärte der Kläger in der mündlichen Verhandlung ausdrücklich, dass er nie in Untersuchungshaft gewesen sei und auch keine Polizeiwache angegriffen habe. Er kenne auch nicht seinen angeblichen Anwalt aus dem Dokument. Umso mehr ist nicht plausibel, dass der Kläger, der auch anwaltlich vertreten ist, solche Dokumente, die offensichtlich unwahre Inhalte enthalten, ohne weitere Erläuterung vorlegt, um sich damit Vorteile im Asylverfahren zu verschaffen.
20
Des Weiteren konnte der Kläger in der mündlichen Verhandlung auch nicht glaubhaft machen, dass er in der Organisation der indigenen Bevölkerung von Biafra (IPOB) eine irgendwie geartete herausgehobene Position innehatte. In der vorgelegten eidesstattlichen Erklärung ist die Rede davon, dass er bei den IPOB Bezirksleiter der Provinz Abia gewesen sei. Er selbst erklärte, er sei Koordinator. Seine Funktion bei IPOB sei, die Menschen zu mobilisieren und zu führen. Unter ihm stehe noch ein Finanzsekretär. Er sei aber nicht der einzige Koordinator; er sei ein Koordinator von vielen. Es sei nicht seine erste Demonstration gewesen. Viele Leuten würden ihn auch schon kennen.
21
Das Gericht hat nach diesem Vorbringen aber nicht den Eindruck, dass der Kläger als einer von vielen Koordinatoren in seinem Bereich auf lokaler oder regionaler Ebene - von der Größe vergleichbar einem Stadtteil von Schweinfurt - eine herausgehobene Stellung innehatte. Nach Überzeugung des Gerichts droht dem Kläger wegen seiner Mitgliedschaft in der IPOB und seinen Aktivitäten bei einer Rückkehr keine Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit, insbesondere droht ihm bei einer Rückkehr keine landesweite Verfolgung in Nigeria. Zwar wird die IPOB vom nigerianischen Staat als terroristische Vereinigung angesehen und ist als solche verboten (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria, Stand September 2019 vom 16.1.2020, S. 10). Gleichwohl finden Verhaftungen oder Festnahmen von Mitgliedern einzig aufgrund ihrer Mitgliedschaft zu dieser Gruppe nicht statt, sondern nur in Verbindung mit von den Mitgliedern begangenen Straftaten. Vereinzelte Übergriffe staatlicher Sicherheitsbehörden kamen in letzter Zeit insbesondere im Zusammenhang mit nicht angemeldeten Demonstrationen von IPOB-Mitgliedern vor (BFA, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Nigeria, Stand: 18.12.2019, S. 6 f., S. 27 f.). Auch der vom Kläger aufgeführte Vorfall am 9. Februar 2016 ist dokumentiert, wonach die Sicherheitskräfte in einer Schule in Abia State scharfe Munition verwendet und neun Personen getötet hätten (vgl. dazu auch Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 2.6.2017 zu Nigeria: Gefährdung von Mitgliedern der Gruppe Indigenous People of Biafra [IPOB]). Aber selbst wenn der Kläger tatsächlich zu dieser Organisation gehören sollte, ist nicht ersichtlich, dass er in besonderer Weise mit den „IPOB“ in Verbindung gebracht werden könnte, z.B. durch einen hohen Bekanntheitsgrad, eine bereits erfolgte Verhaftung oder Medienpräsenz oder sonst bereits so polizeibekannt ist, dass ein landesweites Interesse an der Verfolgung bestünde. Der Kläger hat bislang nur unterschwellige, lokal begrenzte Aktivitäten vorgebracht und weiter angegeben, in Deutschland sei er nur ein einfaches Mitglied. Dass der Kläger als Mitglied von „IPOB“ erkannt werden kann, ist aus Sicht des Gerichts auf dieser Grundlage jedenfalls nicht beachtlich wahrscheinlich.
22
Denn nach der Auskunftslage sind nicht alle Biafra-Anhänger von Verfolgung bedroht, sondern nur wenn sie ein höheres Risikoprofil haben (vgl. VG Düsseldorf, U.v. 28.10.2019 - 27 K 10116/17A - BeckRS 2019, 28760 Rn. 17 m.w.N.). So geht etwa das European Asylum Support Office (EASO) in seinem Bericht vom Februar 2019 davon aus, dass nicht alle Biafra-Anhänger einem entsprechenden Risikoprofil für eine drohende Verfolgung unterfallen, sondern allenfalls sog. „high-profile members” (vgl. EASO, Country Guidance: Nigeria, Februar 2019, https://www.easo.europa.eu/sites/default/files/Country_Guidance_Nigeria_2019.pdf, S. 50, 99). Der Kläger zählt mit den von ihm vorgebrachten unterschwelligen Tätigkeiten nicht zu den Führern der Biafra-Bewegung, die verfolgt werden (vgl. etwa Auswärtiges Amt, Auskunft an das VG Düsseldorf vom 19.2.2019). Gegen eine landesweite Verfolgung spricht zudem, dass es in Nigeria weder ein landesweites Meldewesen noch ein zentrales Fahndungssystem gibt, sodass Fahndungsausschreibungen oder kriminalpolizeiliche Erkenntnisse (selbst für den Fall, dass der Kläger von den Sicherheitskräften gesucht werden sollte) nicht zentral überprüft werden können. Damit ist es in den allermeisten Fällen möglich, sogar in der näheren Umgebung „unterzutauchen“ (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vom 28.1.2019; BFA, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Nigeria, Stand: 18.12.2019, S. 47). Fahndungsausschreibungen oder kriminalpolizeiliche Erkenntnisse können auch bei der Abschiebung eines abgelehnten Asylbewerbers der nigerianischen Seite höchstwahrscheinlich nicht zur Verfügung stehen, so dass betreffende Personen keine weiteren Strafverfolgungen in Nigeria drohen dürfte bzw. eine weitere Strafverfolgung der Personen wenig wahrscheinlich erscheint (Auswärtiges Amt an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vom 20.2.2020). Aus den vorhandenen Erkenntnismitteln ergibt sich zudem, dass eine Überprüfung von Asylrückkehrern auf etwaige Verbindungen zur Biafra-Unabhängigkeitsbewegung unwahrscheinlich ist, da keine Datenbanken der nigerianischen Behörden bekannt sind, die dazu geeignet wären, Rückkehrer entsprechend zu identifizieren. Auch Biafra-Fahndungslisten sind nicht bekannt. Bei Rückführungsflügen sind in der Regel lediglich nigerianische Strafverfolgungsbehörden, die sich mit Menschenhandel und Drogendelikten beschäftigen, zugegen. Biafra-Agitation würde hingegen in die Jurisdiktion der „State Security Services“ fallen. Diese sind im Zusammenhang mit Rückführungen bisher nicht aufgefallen (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an das VG Düsseldorf vom 19.2.2019 und an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vom 20.2.2020). Nach alledem begründet das Vorbringen des Klägers zu seiner Mitgliedschaft und zu seinen Aktivitäten zur IPOB keine Verfolgungsgefahr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit (siehe auch schon VG Würzburg, G.v. 6.4.2020 - W 8 K 20.30122).
23
Selbst wenn der Kläger wegen seiner Aktivitäten für die Biafra-Bewegung strafrechtlich verfolgt werden sollte, etwa wegen der Teilnahme an nicht genehmigten illegalen Demonstrationen oder wegen sonstiger Verstöße gegen Strafgesetze, hätte eine betreffende Strafverfolgung zunächst keine asylerhebliche Zielsetzung. Grundsätzlich wäre eine drohende Bestrafung weder flüchtlings- noch sonst schutzrelevant, soweit nicht primäres Ziel etwa die Unterdrückung einer politischen Anschauung wäre und eine härtere Bestrafung als bei vergleichbaren anderen Straftätern im Sinne eines Politmalus erfolgen sollte.
24
In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass die allgemeine Gefahr, dass einem Ausländer in einem anderen Staat Strafverfolgung drohen könnte, um die konkrete Gefahr einer nach der Rechtsordnung eines anderen Staates gesetzmäßigen Bestrafung einer Abschiebung nicht entgegenstehen (§ 60 Abs. 6 AufenthG).
25
Unabhängig davon könnte der Kläger bei einer Rückkehr in jedem Fall einer strafrechtlichen und behördlichen Verfolgung entgehen, wenn er sich in einem anderen Landesteil Nigerias begibt.
26
Denn dem Kläger ist es jedenfalls möglich und zumutbar, sich in einem anderen Landesteil Nigerias niederzulassen, in welchem er vor eventuellen Verfolgern - auch seitens der Polizei oder von sonstigen Sicherheitskräften wegen seiner Aktivitäten für die IPOB - sicher wäre (vgl. § 3e, § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG). Der Kläger kann sich beispielsweise in einer der zahlreichen Großstädte Nigerias, insbesondere in der Hauptstadt Abuja, oder im christlich geprägten Südwesten des Landes, beispielsweise in Lagos oder in einer anderen Stadt niederlassen. Er genießt Freizügigkeit in ganz Nigeria, so dass er seinen Wohn- und Aufenthaltsort grundsätzlich frei bestimmen kann. Wenn der Kläger seinen Heimatort meidet, ist es unwahrscheinlich, dass er in einer anonymen Großstadt nach mehrjähriger Abwesenheit (seit dem Jahr 2016) außerhalb der Heimatregion aufgefunden würde, zumal Nigeria etwa 190 Millionen Einwohner hat, eine Fläche von 925.000 m² aufweist und dabei nicht über ein funktionsfähiges Meldesystem verfügt. Grundsätzlich besteht nach der Erkenntnislage in den meisten Fällen die Möglichkeit, staatlicher Verfolgung, Repressionen Dritter sowie Fällen massiver regionaler Instabilität durch Umzug in einen anderen Teil des Landes auszuweichen. Dem Kläger ist ein Umzug in einen anderen Landesteil Nigerias auch zumutbar. Zwar geht aus den vorliegenden Erkenntnissen hervor, dass ein Umzug in einen anderen Landesteil unter Umständen mit wirtschaftlichen und sozialen Problemen verbunden sein kann, wenn sich Einzelpersonen an einen Ort begeben, an dem sie kein soziales Umfeld haben. Insbesondere familiären Bindungen kommt in der nigerianischen Gesellschaft eine gesteigerte Bedeutung zu (vgl. BFA, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Nigeria, Stand: 18.12.2019, S. 46 ff.; Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria, Stand: September 2019, vom 16.1.2020, S. 16, 21). Der Kläger könnte jedoch im Fall der Rückkehr nach Nigeria - wie auch schon vom Bundesamt im streitgegenständlichen Bundesamtsbescheid zutreffend ausgeführt - auch ohne solche Bindungen ohne gravierende gesundheitlichen Einschränkungen in einer der zahlreichen Großstädte eine existenzsichernde Erwerbstätigkeit aufnehmen, um seinen Lebensunterhalt zu erwirtschaften. Dies gilt umso mehr, als der Kläger im Falle einer freiwilligen Rückkehr sowohl Start- als auch Rückkehrhilfen in Anspruch nehmen kann. Zudem hat er sich auch schon in der Vergangenheit mit einfachen Arbeiten beholfen. Er hat berufliche Erfahrungen gesammelt und ist auch mit den Umständen in Nigeria vertraut. Somit ist davon auszugehen, dass sich der Kläger seinen Lebensunterhalt zumindest am Rande des Existenzminimums erwirtschaften kann (VG Cottbus, B.v. 29.5.2020 - 9 L 226/20.A - juris; OVG NRW, B.v. 15.4.2020 - 19 A 915/19.A - juris; B.v. 18.3.2020 - 19 A 147/20.A - juris; B.v. 2.1.2020 - 19 A 183/18.A - juris; VG München, B.v. 20.3.2020 - M 8 S 19.34200 - juris; B. 13.12.2019 - M 12 S 19.34141 - juris; VG Augsburg, B.v. 10.3.2020 - Au 9 S 20.30327 - juris; B.v. 4.3.2020 - Au 7 K 18.31993 - juris; B.v. 20.2.2020 Au 9 K 17.35117 - juris; B.v. 16.1.2020 - Au 9 K 19.30382 - juris; VG Karlsruhe, B.v. 26.2.2020 - A 4 K 7158/18 - juris; VG Kassel, B.v. 21.1.2020 - 6 L 2648/19.KS.A - juris).
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Letztlich ist nicht ersichtlich, dass sich der Kläger in einer extremen Situation befänden, dass er im Falle einer Rückkehr nach Nigeria sehenden Auges mit dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert wäre, wenn auch möglicherweise gewisse Anfangsschwierigkeiten zu überwinden sein mögen.
28
Des Weiteren ist auch in dem Zusammenhang nochmals darauf hinzuweisen, dass abgesehen von privaten Hilfemöglichkeiten und Hilfsorganisationen auch auf Rückkehr- und Starthilfen sowie auf Reintegrationsprogramme zurückgegriffen werden kann. So hat der Kläger die Option, seine finanzielle Situation in Nigeria aus eigener Kraft zu verbessern, um Startschwierigkeiten bei einer Rückkehr besser zu überbrücken. Gegen diese Möglichkeiten kann der Kläger nicht mit Erfolg einwenden, dass Start- bzw. und Reintegrationshilfen ganz oder teilweise nur für freiwillige Rückkehr, also teilweise nicht bei einer zwangsweisen Rückführung, erfolgen. Denn nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts kann ein Asylbewerber, der durch eigenes zumutbares Verhalten - wie insbesondere durch freiwillige Rückkehr - im Zielstaat drohende Gefahren abwenden kann, nicht vom Bundesamt die Feststellung eines Abschiebungsverbotes verlangen (vgl. BVerwG, U.v. 15.4.1997 - 9 C 38.96 - BVerwGE 104, 265; VGH BW, U.v. 26.2.2014 - A 11 S 2519/12 - juris).
29
Ernstliche Zweifel ergeben sich nach den vorstehenden Ausführungen des Weiteren nicht mit Bezug auf § 60 Abs. 5 oder 7 Satz 1 AufenthG, auch nicht im Hinblick auf eventuelle gesundheitlichen Aspekte.
30
Die geltend gemachten Erkrankungen rechtfertigen nicht die Annahme einer Gefahrenlage im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Denn nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG liegt eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen nur bei lebensbedrohlichen und schwerwiegenden Erkrankungen vor, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Konkret ist die durch eine Krankheit verursachte Gefahr, wenn die gravierende Verschlechterung des Gesundheitszustands alsbald nach Abschiebung in den Zielstaat eintreten würde, weil eine adäquate Behandlung dort nicht möglich ist (BVerwG, U.v. 17.10.2006 - 1 C 18/05 - BVerwGE 127, 33). Eine wesentliche Verschlechterung des Gesundheitszustandes ist dabei nicht schon bei jeder befürchteten ungünstigen Entwicklung des gesundheitlichen Zustandes anzunehmen, sondern nur bei außergewöhnlichen und schweren körperlichen oder psychischen Schäden und/oder existenzbedrohenden Zuständen. Mit der Präzisierung des Gesetzgebers, dass lediglich lebensbedrohliche und schwerwiegende Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden, die Abschiebung des Ausländers hindern, wird klargestellt, dass nur äußerst gravierende Erkrankungen eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib oder Leben nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG darstellen (vgl. BayVGH, B.v. 10.10.2019 - 19 CS 19.2136).
31
Dass dem Kläger solche Gefahren drohen, ist weder vorgebracht, noch sonst ersichtlich. Der Kläger hat zwar von Beschwerden berichtet, er hat aber dazu keine qualifizierten Atteste im Sinne des § 60a Abs. 2c AufenthG vorgelegt. Wird die geltend gemachte Erkrankung, die die Abschiebung beeinträchtigen soll, aber nicht durch eine qualifizierte Bescheinigung im Sinne des § 60a Abs. 2c AufenthG belegt, so bleibt es bei der gesetzlichen Vermutung des § 60a Abs. 2c Satz 1 AufenthG, wonach der Abschiebung gesundheitliche Gründe nicht entgegenstehen (vgl. BayVGH, B.v. 10.10.2019 - 19 CS 19.2136). Abgesehen davon ist auch nach dem Vorbringen des Klägers nicht ersichtlich, dass die von ihm angeführten Beschwerden (Zahnschmerzen, Schmerzen am Bein und am Körper) lebensbedrohliche oder schwerwiegende Erkrankungen darstellten, die eine extreme Gesundheitsgefahr begründen würden.
32
Im Übrigen ist der Kläger gehalten, im Bedarfsfall die Möglichkeiten des - zu gegebener Maßen mangelhaften - nigerianischen Gesundheits- und Sozialsystems (vgl. BFA, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Nigeria, Stand: 18.12.2019, S. 48 ff. und S.51 ff.; Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria, Stand: September 2019, v. 16.1.2020, S. 22 ff.) auszuschöpfen. Gegebenenfalls kann er auch auf private Hilfemöglichkeiten und Hilfsorganisationen sowie auf Rückkehr- und Starthilfen sowie auf Reintegrationsprogramme zurückgreifen, so dass er nicht völlig mittellos wäre und sich in Nigeria etwa auch Medikamente besorgen könnte. Abgesehen davon könnten dem Kläger bei Bedarf für eine Übergangszeit auch Medikamente mitgegeben werden (vgl. BayVGH, B.v. 10.10.2019 - 19 CS 19.2136).
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An der Beurteilung ändert des Weiteren auch die weltweite COVID-19-Pandemie nichts.
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Laut den allgemein zugänglichen Quellen gibt es in Nigeria im maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt 12.486 (Deutschland 185.853) bestätigte Corona-Fälle; davon sind 3.959 (Deutschland 169.094) Personen genesen; außerdem gibt es 354 (Deutschland 8.776) Todesfälle (Stand: 8.6.2020; siehe etwa Nigeria Centre for Disease Control https://covid19.ncdc.gov.ng/ oder https://www.worldometers.info/coronavirus/country/nigeria/). Jedoch bleibt der nigerianische Staat nicht tatenlos, wobei in den einzelnen Bundesstaaten unterschiedliche Maßnahmen getroffen werden (vgl. BFA, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Kurzinformation der Staatendokumentation Afrika, Covid-19 - aktuelle Lage vom 23.3.2020, S. 2). So gelten angesichts der Corona-Pandemie in Nigeria in bestimmten Landesteilen bzw. Staaten - gerade in Hotspots - teilweise strenge bzw. strengere Ausgangssperren und Quarantäneregelungen, die von den nigerianischen Sicherheitskräften auch überwacht werden. Die Regierung hat hingegen mittlerweile etwa die Ausgangssperre für Lagos und Abuja wieder aufgehoben, allerdings an anderen Stellen (etwa in Kano) verlängert und erweitert (vgl. Handelsblatt vom 2.6.2020, https://www.handelsblatt.com/politik/international/pandemie-das-coronavirus-verschaerft-die-wirtschaftlichen-und-sozialen-probleme-afrikas/25873896.html; New York Times vom 17.5.2020, https://www.nytimes.com/2020/05/17/world/africa/coronavirus-kano-nigeria-hotspot.html; ferner n-tv.de vom 15.4.2020, https://www.n-tv.de/panorama/Corona-Krise-entfacht-Gewalt-in-Nigeria-article21716861.html oder merkur.de vom 16.4.2020 https://www.merkur.de/welt/coronavirus-afrika-news-nigeria-suedafrika-uganda-katastrophe-experte-warnung-pandemie-covid-19-who-zr-13606904.html).
35
Dem Gericht fehlen vor diesem Hintergrund jegliche Anhaltspunkte für die Annahme des Vorliegens der Voraussetzungen des subsidiären Schutzes, weil nicht ersichtlich ist, dass - bezogen auf eine mögliche COVID-19-Erkrankung - eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung einem Akteur im Sinne von § 3c AsylG i.V.m. § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG zugeordnet werden kann.
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Ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung nach Nigeria ergeben sich nach Vorstehendem des Weiteren nicht im Hinblick auf die Verneinung des Vorliegens der Voraussetzungen etwaiger Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 bzw. 7 Satz 1 AufenthG durch das Bundesamt.
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Insbesondere rechtfertigt die weltweite COVID-19-Pandemie keine andere Sichtweise in Bezug auf das Vorliegen etwaiger Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 bzw. 7 Satz 1 AufenthG.
38
Auch wenn sich die wirtschaftliche Situation in Nigeria aufgrund der Auswirkungen der COVID-19-Pandmie verschlechtert (vgl. auch Handelsblatt vom 2.6.2020, https://www.handelsblatt.com/politik/international/pandemie-das-coronavirus-verschaerft-die-wirtschaftlichen-und-sozialen-probleme-afrikas/25873896.html), hält es das Gericht zum jetzigen maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt nicht für hinreichend beachtlich wahrscheinlich, dass sich die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse derart negativ entwickeln werden, dass von einer grundsätzlich abweichenden Beurteilung der Voraussetzungen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK ausgegangen werden kann. Schlechte humanitäre Verhältnisse können dabei nur in ganz außergewöhnlichen Fällen zu einer Verletzung von Art. 3 EMRK führen, nämlich dann, wenn es sich hierbei um zwingende humanitäre Gründe handelt (vgl. OVG NRW, U.v. 24.3.2020 - 19 A 4470/19.A - juris m.w.N.). Aus der Rechtsprechung des EGMR (U.v. 28.6.2011 - Nr. 8319/07 und 11449/07 - BeckRS 2012, 8036 - Rn. 278) und des Bundesverwaltungsgerichts (B.v. 13.2.2019 - 1 B 2.19 - juris; U.v. 31.1.2013 - 10 C 15.12 - BVerwGE 146, 12) ergibt sich, dass die Annahme einer unmenschlichen Behandlung allein durch die humanitäre Lage und die allgemeinen Lebensbedingungen ein sehr hohes Gefährdungsniveau voraussetzt. Nur dann liegt ein außergewöhnlicher Fall vor, in dem die gegen die Aufenthaltsbeendigung sprechenden humanitären Gründe zwingend sind. Entscheidend ist, dass die Person keiner Situation extremer materieller Not ausgesetzt wird, die es ihr unter Inkaufnahme von Verelendung verwehrt elementare Bedürfnisse zu befriedigen.
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Für den Eintritt einer dahingehenden Verschlechterung der humanitären Verhältnisse in Nigeria fehlen dem Gericht zum jetzigen Entscheidungszeitpunkt (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Hs. 2 AsylG) greifbare Anhaltspunkte. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass gerade hinsichtlich der wirtschaftlichen Folgen der COVID-19-Pandemie ein Gegensteuern des nigerianischen Staates erkennbar ist. So wurde ein Notfallfonds für das „Nigeria Centre for Disease Control“ eingerichtet, ebenso wie Konjunkturpakete, um die Auswirkungen für Haushalte und Betriebe zu lindern (https://www.theafricareport.com/26444/coronavirus-recession-in-nigeria-likely-despite-measures-in-place/; vom 20.4.2020, zuletzt abgerufen am 8.6.2020). Darüber hinaus hat der internationale Währungsfonds Soforthilfen für Nigeria in Höhe von 3,4 Milliarden US-Dollar gewährt (https://www.imf.org/en/News/Articles/2020/04/28/pr20191-nigeria-imf-executive-board-approves-emergency-support-to-address-covid-19; vom 28.4.2020, zuletzt abgerufen am 8.6.2020). Das Gericht geht zudem davon aus, dass gerade der für viele Nigerianer als Einnahmequelle bedeutende informelle Sektor nach dem Aufheben der vorübergehenden, nicht landesweit gleich strikten und im Übrigen bereits wieder gelockerten Ausgangsbeschränkungen (vgl. etwa https://www.africanews.com/2020/06/01/nigeria-coronavirus-hub-updates-covid-19/, zuletzt abgerufen am 8.6.2020; https://www.kas.de/de/laenderberichte/detail/-/content/nigeria-seit-vier-wochen-im-lockdown; 29.4.2020, zuletzt abgerufen am 8.6.2020) auch dem Kläger wieder zur Verfügung stehen wird (vgl. Handelsblatt vom 2.6.2020, https://www.handelsblatt.com/politik/international/pandemie-das-coronavirus-verschaerft-die-wirtschaftlichen-und-sozialen-probleme-afrikas/25873896.html).
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Entsprechendes gilt auch im Hinblick auf das Vorliegen der Voraussetzungen für ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG aufgrund der COVID-19-Pandemie.
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Zunächst ist insoweit festzustellen, dass der Kläger mangels entgegenstehender Anhaltspunkte nicht mit dem neuartigen SARS-CoV-2 („Coronavirus“) infiziert ist bzw. nicht an der hierdurch hervorgerufenen Ekrankung COVID-19 leidet.
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Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Gemäß § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG sind Gefahren nach Satz 1, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen. Nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG kann die oberste Landesbehörde aus völkerrechtlichen oder humanitären Gründen oder zur Wahrung politischer Interessen der Bundesrepublik Deutschland anordnen, dass die Abschiebung von Ausländern aus bestimmten Staaten oder von in sonstiger Weise bestimmten Ausländergruppen allgemein und in bestimmte Staaten für längstens drei Monate ausgesetzt wird.
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Die derzeitige COVID-19-Pandemie stellt in Nigeria mangels einer solchen Abschiebestopp-Anordnung allenfalls eine allgemeine Gefahr dar, die aufgrund der Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG grundsätzlich nicht rechtfertigen kann. Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG kommt ausnahmsweise nur dann in Betracht, wenn es zur Vermeidung einer verfassungswidrigen Schutzlücke, d.h. zur Vermeidung einer extremen konkreten Gefahrenlage erforderlich ist (vgl. etwa BVerwG, 24.6.2008 - 10 C 43/07 - juris; Dollinger in Bergmann/Dienelt, Ausländerecht, 13. Auflage 2020, § 60 AufenthG, Rn. 100 m.w.N.). Die drohende Gefahr, dass der Kläger sich in Nigeria mit dem SARS-CoV-2-Virus infiziert, muss nach Art, Ausmaß und Intensität von einem solchen Gewicht sein, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für den Ausländer die begründete Furcht ableiten lässt, selbst in erheblicher Weise ein Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden. Die Gefahren müssen dem Ausländer mit hoher Wahrscheinlichkeit drohen. Nach diesem hohen Wahrscheinlichkeitsgrad muss eine Abschiebung dann ausgesetzt werden, wenn der Ausländer ansonsten „gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde“ (vgl. BVerwG, U.v. 12.7.2001 - 1 C 5.01 - BVerwGE 115, 1 m.w.N. - juris). Schließlich müssen sich diese Gefahren alsbald nach der Rückkehr realisieren. Das bedeutet nicht, dass im Falle der Abschiebung der Tod oder schwerste Verletzungen sofort, gewissermaßen noch am Tag der Abschiebung, eintreten müssen. Vielmehr besteht eine extreme Gefahrenlage beispielsweise auch dann, wenn der Ausländer mangels jeglicher Lebensgrundlage den baldigen sicheren Hungertod ausgeliefert werden würde (vgl. BVerwG, U.v. 29.9.2011 - 10 C 24.10 - juris sowie VG Cottbus, B.v. 29.5.2020 - 9 L 226/20.A - juris mit Bezug auf VG Bayreuth, U.v. 21.4.2020 - B 8 K 17.32211; OVG NRW - U.v. 24.3.2020 - 19 A 4470/19.A - juris m.w.N.; vgl. auch schon VG Würzburg, B.v. 4.6.2020 - W 8 S 20.30546; B.v. 28.5.2020 - W 8 S 20.30558, G.v. 14.5.2020 - W 8 K 20.30421; U.v. 6.5.2020 - W 8 S 20.30493; B.v. 17.4.2020 - W 8 S 20.30448 - juris; B.v. 27.3.2020 - W 8 S 20.30378).
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Eine solche extreme, konkrete Gefahrenlage ist vorliegend für den Kläger im Hinblick auf die Verbreitung des „Coronavirus“ für das Gericht derzeit nicht erkennbar. Der ca. 27 Jahre alte Kläger ohne relevante Vorerkrankungen gehört nicht zu der Personengruppe mit einem höheren Risiko für einen schweren, möglicherweise lebensbedrohlichen Verlauf der COVID-19 Erkrankung (vgl. RKI, Informationen und Hilfestellungen für Personen mit einem höheren Risiko für einen schweren COVID-19-Krankheitsverlauf; abrufbar unter https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Risikogruppen.html; Stand: 13.5.2020; zuletzt abgerufen am 8.6.2020). Unter Berücksichtigung der oben aufgeführten tagesaktuellen Fallzahlen und des damit einhergehenden Ansteckungsrisikos besteht in Nigeria derzeit nach dem oben genannten Maßstab keine hohe Wahrscheinlichkeit eines schweren oder tödlichen Verlaufs der Erkrankung für die Personengruppe, welcher der Kläger angehört. Er muss sich letztlich, wie hinsichtlich etwaiger anderer Erkrankungen, wie etwa Malaria, bei der die Wahrscheinlichkeit einer Ansteckung um ein Vielfaches höher liegt als bei dem „Coronavirus“ (vgl. OVG NRW, U.v. 24.3.2020 - 19 A 4479/19.A - juris; VG Karlsruhe, U.v. 26.2.2020 - A 4 K 7158/18 - juris), im Bedarfsfalle auf die Möglichkeiten des - zugegebenermaßen mangelhaften - nigerianischen Gesundheits- und Sozialsystems (vgl. BFA, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Nigeria, Stand: 18.12.2019, S. 48 ff. und 51 ff.; Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria, Stand: September 2019, vom 16.1.2020, S. 22 ff.) verweisen lassen.
45
Des Weiteren ist festzuhalten, dass die Ansteckungsgefahr mit dem „Coronavirus“ auch in Nigeria nicht in allen Landesteilen gleich hoch ist. Vielmehr gibt es erhebliche regionale Unterschiede (vgl. BFA, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Kurzinformation der Staatendokumentation Afrika, Covid-19 - aktuelle Lage vom 23.3.2020, S. 2; New York Times vom 17.5.2020, https://www.nytimes.com/2020/05/17/world/africa/coronavirus-kano-nigeria-hotspot.html) beim Risiko, angesteckt zu werden. Darüber hinaus bestehen - wie auch in anderen Staaten, wie etwa in Deutschland - individuell persönliche Schutzmöglichkeiten, wie das Tragen einer Gesichtsmaske oder die Wahrung von Abstand zu anderen Personen, um das Risiko einer Ansteckung durch eigenes Verhalten zu minimieren.
46
Gegebenenfalls kann der Kläger auch auf private Hilfsmöglichkeiten oder Hilfsorganisationen zurückgreifen, sodass er nicht völlig mittellos wäre und sich in Nigeria etwa auch mit Medikamenten, Desinfektionsmitteln oder Gesichtsmasken versorgen könnte. Abgesehen davon könnten dem Kläger bei Bedarf auch Medikamente, Desinfektionsmittel oder Gesichtsmasken für eine Übergangszeit mitgegeben werden (vgl. OVG NRW, U.v. 24.3.2020 - 19 A 4470/19.A - juris; BayVGH, B.v. 10.10.2019 - 19 CS 19.2136).
47
Wie schon ausgeführt hat das Gericht weiter keine triftigen Anhaltspunkte, geschweige denn konkrete Belege, dass die Lebensverhältnisse und die humanitären Lebensbedingungen in Folge der Covid-19-Pandemie in Nigeria in der Weise verschlechtert hätten oder alsbald verschlechtern würden, dass generell für jeden Rückkehrer eine extreme Gefahr im oben zitierten Sinn mit hoher Wahrscheinlichkeit drohen würde. Gerade angesichts der regionalen Unterschiede und dem unterschiedlichen Vorgehen der einzelnen Bundesstaaten bestehen weiterhin ausreichende Möglichkeiten, sich ein Existenzminimum zu erwirtschaften, so dass eine Rückkehr nach Nigeria zumutbar ist.
48
Denn es gibt keine belastbaren Anhaltspunkte dafür, dass sich Wirtschaft und Versorgungslage der Bevölkerung trotz internationaler humanitärer Hilfe, trotz Gegensteuerns des nigerianischen Staates und trotz lokaler Hilfsbereitschaft infolge der Pandemie derart verschlechtern würde, dass der Kläger nicht mehr in der Lage wäre, den Lebensunterhalt für sich und gegebenenfalls auch Frau und Kindern in Nigeria sicherzustellen (ebenso VG Cottbus, B.v. 29.5.2020 - 9 L 226/20.A - juris).
49
Das Gericht verkennt - auch unter Berücksichtigung der COVID-19-Pandemie - nicht die mitunter schwierigen Lebensverhältnisse in Nigeria. Diese betreffen jedoch nigerianische Staatsangehörige in vergleichbarer Lage in gleicher Weise.
50
Im Übrigen wird auf den angefochtenen Bundesamtsbescheid Bezug genommen und von einer weiteren Darstellung der Gründe abgesehen (§ 77 Abs. 2 AsylG). Dies gilt auch hinsichtlich der Begründung der Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung sowie der Anordnung und Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots.
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In dem Zusammenhang wird ergänzend auf § 37 Abs. 2 AsylG hingewiesen, wonach die Ausreisefrist 30 Tage nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens endet, nachdem das Gericht im Sofortverfahren W 8 S 20.30182 die aufschiebende Wirkung der Klage angeordnet hatte. Abgesehen davon war die Offensichtlichkeitsentscheidung im streitgegenständlichen Bescheid, die sich auf § 30 Abs. 3 Nr. 1 AsylG stützt, auch im Hinblick auf die Regelung des § 10 Abs. 3 Satz 2 AufenthG nicht aufzuheben (vgl. dazu etwa VG Frankfurt, U.v. 2.12.2019 - 2 K 2312/17.A - juris; Dienelt in Bergmann/Dienel, AuslR 13. Aufl. 2020, § 10 AufenthG, Rn. 50 ff.). Dies gilt auch unter Berücksichtigung der Ausführungen im Sofortverfahren (VG Würzburg, B.v. 11.2.2020 - W 8 S 20.30182 - juris), weil es dem Kläger nicht gelungen ist, etwaige Zweifel am Vorliegen der Voraussetzungen des § 30 Abs. 3 Nr. 1 AsylG zu zerstreuen. Denn gerade durch die unkommentierte Vorlage der unzutreffenden Dokumente aus Nigeria, um Vorteile im Asylverfahren zu erlangen, hat er seine Mitwirkungspflichten in schwerwiegender Weise verletzt hat.
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Nach alledem war die Klage mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG abzuweisen.
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Von einer Klageabweisung als offensichtlich unbegründet (§ 78 Abs. 1 Satz 1 AsylG) hat das Gericht zugunsten des Klägers abgesehen.