Inhalt

LG München I, Endurteil v. 21.04.2020 – 12 O 13797/19
Titel:

Streit um Kapital-Lebensversicherung

Normenketten:
VVG aF § 5a Abs. 2 S. 4, § 8
VVG § 152 Abs. 2 S. 2
BGB § 242, § 357, § 812 Abs. 1 S. 1
Leitsätze:
"Die Rückabwicklung eines im Policenmodell abgeschlossen Versicherungsvertrags nach Widerruf bzw. Widerspruch nach § 8 VVG a. F. bzw. § 5a VVG a. F. erfolgt auch entgegen BGH nicht nach Bereicherungsrecht, sondern nach § 152 Abs. 2 VVG."   (Rn. 38 – 39)
1. Eine Widerspruchsbelehrung, die nicht im Fettdruck unter als einer von mehreren "wichtigen Hinweisen" aufgeführt ist, ist unzulänglich. (Rn. 13) (redaktioneller Leitsatz)
2. Weder eine Kündigung des Versicherungsvertrages noch die Änderung einer Einzugsermächtigung oder die Bitte um Bescheinigungen zur Vorlage bei dem Finanzamt sind Umstände, die eine Verwirkung des Widerspruchsrechts rechtfertigen. (Rn. 18 – 19) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Versicherungsschein, Lebensversicherung, Policenmodell, Rückabwicklung, Bereicherungsrecht, Widerspruchsrecht, Belehrung, Nutzungsersatz
Fundstellen:
VersR 2020, 1166
MDR 2020, 924
BeckRS 2020, 13304
LSK 2020, 13304

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
III. Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrags vorläufig vollstreckbar.
IV. Der Streitwert wird auf 10.786,70 € festgesetzt.

Tatbestand

1
Der Kläger macht bereicherungsrechtliche Ansprüche auf verzinsliche Rückzahlung sämtlicher Prämien infolge Widerspruch gemäß § 5a VVG a.F. einer im Policenmodell abgeschlossenen Kapital-Lebensversicherung geltend.
2
Der Klage liegt folgender Sachverhalt zugrunde:
3
Der Kläger beantragte am 05.04.1999 bei der Beklagten den Abschluss einer Kapital-Lebensversicherung (Anlage K1). Mit Schreiben vom 06.05.1999 erhielt der Kläger den Versicherungsschein (Anlage K2, Anlage B2) und ein Begleitschreiben (Anlage K3). Versicherungsbeginn war der 01.05.1999. Die Beitragszahlung sollte im Erlebensfall längstens 24 Jahre bis zum 01.05.2023 erfolgen. Vereinbart war ein anfänglicher Monatsbeitrag in Höhe von 100 DM mit einer jährlichen Dynamik um 5%. Das Todesfallrisiko war mit einer Versicherungssumme von 10.225,84 € mitversichert. Nach Kündigung mit Schreiben vom 14.06.2016 (Anlage K4) rechnete die Beklagte die streitgegenständliche Kapital-Lebensversicherung mit Schreiben vom 29.08.2016 ab (Anlage K5). Sie bezifferte den Rückkaufswert auf einen Betrag in Höhe von 12.007,33 € und zahlte diesen Betrag aus. Am 24.10.2016 erklärte der Kläger den Widerspruch gegen den Vertrag (Anlage K6), der nachfolgend mit Schreiben der Beklagten vom 01.12.2016 zurückgewiesen wurde (Anlage K7).
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Die Klagepartei ist der Ansicht, die im Versicherungsschein enthaltene Widerspruchsbelehrung (dort Seite 2) sei nicht ausreichend gewesen. Sie sei nicht drucktechnisch deutlich hervorgehoben und inhaltlich fehlerhaft. Denn sie sei nicht umfassend und eindeutig und habe keinen ausreichenden Hinweis auf die Vertragsgrundlagen (nämlich den Versicherungsschein, die Versicherungsbedingungen und Verbraucherinformationen) enthalten. Auch die Informationen über Fristbeginn und die, die Frist auslösenden Unterlagen sei nicht ausreichend gewesen. Im Übrigen seien auch dem Kläger nicht die Verbraucherinformationen vollumfänglich überlassen worden. Sie seien zudem nicht übersichtlich gegliedert gewesen und wichtige Informationen über Prämien, Nebengebühren und Überschussbeteiligung und Weiteres sei nicht enthalten gewesen. Wegen der Einzelheiten zu den behaupteten Mängeln der Widerspruchsbelehrung wird auf die Klagebegründung vom 07.10.2019 Bezug genommen. Die Beklagte sei daher verpflichtet die eingezahlten Beiträge abzüglich der Risikokosten und erfolgter Auszahlungen zurückzuzahlen, zuzüglich der gezogenen Nutzungen aus dem Deckungsstock, der unverbrauchten Risikoanteile und der unverbrauchten Abschlusskosten und Verwaltungskosten. Wegen der Einzelheiten der Berechnung dieser Positionen und der Argumentation hierzu wird insbesondere auf die Seiten 16 ff. der Klagebegründung Bezug genommen.
5
Die Klagepartei beantragt,
1.
Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger einen Betrag in Höhe von 10.786,70 € zuzüglich Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 01.12.2016 zu zahlen.
2.
Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger außergerichtliche Rechtsanwaltskosten in Höhe von 23,80 € zuzüglich Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 01.12.2016 zu zahlen.
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Die Beklagtenpartei beantragt,
die Klage kostenpflichtig abzuweisen.
7
Die Beklagte ist der Ansicht, dass es im vorliegenden Fall nicht darauf ankäme, ob die kurze Frist aus der Widerrufsbelehrung maßgeblich sei. Denn die Ansprüche des Klägers seien jedenfalls verwirkt. Der Kläger habe den Vertrag bis zur Kündigung im Jahr 2016 17 Jahre unbeanstandet durchgeführt und den Widerspruch auch erst mehrere Monate nach der Kündigung erklärt. Neben dem Zeitmoment lägen auch Umstände vor, die die Annahme einer Verwirkung rechtfertigten. Der Kläger habe in den Jahren 2000, 2002 und 2003 der Beitragsdynamik widersprochen, im Jahr 2004 eine neue Einzugsermächtigung erteilt, eine Vielzahl von Bescheinigungen für das Finanzamt erhalten, sei jährlich über die Weiterentwicklung informiert worden und habe im Juni 2016 auf seinen Antrag hin eine Abschrift des Versicherungsantrags erhalten. Er habe auch im Jahr 2016 trotz bekannter öffentliche Diskussion über das Widerspruchsrecht nur die Kündigung und nicht den Widerspruch erklärt. Im Übrigen seien die Berechnungen der Klagepartei zu den angeblichen Ansprüchen teilweise nicht schlüssig und auch inhaltlich nicht berechtigt. Risikokosten, Abschlusskosten und Verwaltungskosten seien nicht abzuziehen, ebenso nicht etwaige daraus gezogene Nutzungen. Wegen der Einzelheiten wird insbesondere auf die Klageerwiderung vom 18.11.2019 Bezug genommen.
8
Die Klagepartei verwies auf zahlreiche Fundstellen zur Rechtsprechung dazu, dass ihrer Meinung nach der Anspruch nicht verwirkt sei. Wegen der Einzelheiten wird auf die Replik vom 29.11.2019 hingewiesen.
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Auf das Protokoll vom 1212.2019 und die übrigen gewechselten Schriftsätze mit Anlagen wird Bezug genommen. Mit Beschluss vom 28.01.2020 wurde den Parteien die von der Rechtsprechung des BGH zur Rückabwicklung solcher Verträge abweichende Rechtsauffassung des erkennenden Gerichts erläutert. Die Parteien nahmen hierzu Stellung und erklärten ihr Einverständnis mit schriftlichem Verfahren. Als Zeitpunkt, der dem Schluss der mündlichen Verhandlung entspricht und bis zu dem Schriftsätze eingereicht werden können, wurde der 21.04.2020 bestimmt. Auf den übrigen Akteninhalt wird verwiesen.

Entscheidungsgründe

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Die Klage ist nicht begründet.
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Die Ansprüche des Klägers sind zwar nicht verjährt oder verwirkt. Nach Rückabwicklung des Vertrags aufgrund der Kündigung im Jahr 2016 ist aber nicht ersichtlich, dass dem Kläger noch weitere Ansprüche gegen die Beklagte zustehen.
I.
12
1. Gemäß § 5a VVG a. F. (29.07.1994 bis 31. 7. 2001) beginnt die Widerrufsfrist erst zu laufen, wenn der Versicherungsnehmer bei Aushändigung des Versicherungsscheins schriftlich, in drucktechnisch deutlicher Form über das Widerspruchsrecht, den Fristbeginn und die Dauer belehrt worden ist.
13
a) Die Belehrung auf Seite 2 des Versicherungsscheins ist nicht in drucktechnisch deutlicher Form hervorgehoben. Nach dem Sinn und Zweck des Belehrungserfordernisses ist hierfür erforderlich, dass die Belehrung in den Vertragsunterlagen nicht untergehen darf, sondern so deutlich hervorzuheben ist, dass sie dem Versicherungsnehmer nicht entgehen kann, selbst wenn er nicht nach einer Widerspruchsmöglichkeit sucht (OLG Hamm, Urteil vom 20.03.2019, AZ: 20 U 10/19; BGH, Urteil vom 28.01.2004, AZ IV ZR 58/03). Die Widerspruchsbelehrung auf Seite 2 des Versicherungsscheins befindet sich als 2. Absatz unter der Überschrift „Wichtige Hinweise für Sie“. Sie ist nicht fett gedruckt. Auf Seite 3 geht es außerdem weiter mit weiteren Hinweisen unter der Überschrift „Beachten Sie bitte ferner:“ Jemand, der nicht gerade nach einer Widerspruchsbelehrung sucht, kann sie beim oberflächlichen Durchblättern der Unterlagen daher übersehen. Außerdem fehlt in der Belehrung der Hinweis darauf, dass zur Wahrung der Frist die rechtzeitige Absendung des Widerspruchs genügt.
14
b) Nach dem damals gültigen § 5a VVG (a. F.) war die Belehrung zeitgleich mit Übersendung des Versicherungsscheins vorgeschrieben. Zwar hat der EuGH in seinem Urteil vom 19.12.2019, AZ: C-355/18 festgehalten, dass nicht jede unrichtige Information über das Rücktrittsrecht (Entscheidung zu § 8 VVG a. F.) als fehlerhafte Belehrung anzusehen ist (juris: Rn. 78) und der Kläger wurde hier zusätzlich in dem Versicherungsantrag in einem drucktechnisch, nämlich durch Fettdruck deutlich hervorgehobenen Absatz unmittelbar über der Unterschrift zutreffend über den Fristbeginn belehrt. Allerdings sind in dieser Belehrung wiederum nicht alle nötigen Unterlagen benannt. Nach der Rechtsprechung des EuGH handelt es sich damit nicht um einen geringfügigen Fehler. Denn die Belehrung erreicht nur den mit ihr verfolgten Zweck der praktischen Wirksamkeit, wenn die dazu erteilten Informationen eindeutig und detailliert sind (EuGH, a.a.O., juris, Rn. 70). Bei einem Versicherungsnehmer kann es zu Verwirrung führen, wenn in dem Antragsformular andere Voraussetzungen genannt werden, als im Versicherungsschein.
15
Das Widerrufsrecht ist mithin nicht verjährt, denn der BGH hat mit Urteil vom 07.05.2014, AZ IV ZR 76/11 im Anschluss an die Rechtsprechung des EuGH klargestellt, dass die in § 5a Abs. 2 Satz 4 VVG a. F. festgelegte Maximalfrist für die Ausübung des Widerspruchsrechts von einem Jahr auch bei fehlerhafter Belehrung wegen Europarechtswidrigkeit der Norm bei Verträgen der vorliegenden Art nicht anzuwenden ist.
16
2. Der Anspruch ist auch nicht verwirkt.
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a) Der Widerspruch wurde zwar erst 17 Jahre nach Beginn des Vertrags und zudem erst 4 Monate nach der Kündigung ausgesprochen. Jedoch reicht die verstrichene Zeit allein nicht aus, um eine Verwirkung zu begründen. Nötig sind zusätzlich besondere Umstände.
18
b) Eine vorausgegangene Kündigung gehört per se nicht dazu. Sowohl der EuGH (AO, juris, Rn. 102) als auch der BGH (zahlreiche Fundstellen in der Replik auf Seite 11) betonen, dass erst eine ordnungsgemäße Belehrung den Versicherungsnehmer in die Lage versetzt sein Wahlrecht zwischen Kündigung und Widerspruch (EuGH in der vorgenannten Entscheidung zum Rücktritt nach § 8 VVG a. F) ordnungsgemäß auszuüben. Zwar hat die Beklagte ausgeführt, dass zu der Zeit, als der Kläger den Vertrag kündigte, die Problematik der ordnungsgemäßen Belehrung und die sich daraus ergebenden Rechte der Versicherungsnehmer öffentlich diskutiert worden seien. Die Beklagte trägt jedoch selbst nicht vor, dass der Kläger zu der maßgeblichen Zeit überhaupt Kenntnis davon hatte.
19
c) Auch die von der Beklagtenseite vorgetragenen Umstände hinsichtlich des Verhaltens des Klägers während der Dauer der Versicherung reichen für die Annahme einer Verwirkung nicht aus. Beim Widerspruch gegen die Beitragsdynamik, dem Erteilen einer neuen Einzugsermächtigung und der schlichten Entgegennahme von Bescheinigungen für das Finanzamt und weiterer Informationen hat der Kläger jeweils nur Handlungen im Rahmen des laufenden Vertrags wahrgenommen. Darin können noch keine Bekräftigung des Willens gesehen werden, am Vertrag festzuhalten, so wie es wäre, wenn der Vertrag zur Kreditsicherung abgetreten worden wäre. Auch in der schlichten Bitte, eine Abschrift des Antrags zu erhalten, kann solches nicht erblickt werden.
20
Das Widerspruchsrecht ist mithin nicht verwirkt.
21
3. Jedoch ist nicht ersichtlich, dass dem Kläger nach der aufgrund der Kündigung bereits erfolgten Rückabwicklung des Vertrags noch weitere Ansprüche gegen die Beklagte zustehen. Die Parteien wurden auf die vom erkennenden Gericht vertretene Rechtsauffassung hierzu hingewiesen, die von der Rechtsprechung des BGH abweicht:
22
Nach der Rechtsprechung des BGH sind nach einem wirksamen Widerspruch gegen einen im Policenmodell nach § 5a VVG a. F. abgeschlossenen Versicherungsvertrag die erbrachten Leistungen nach §§ 812, 818 BGB rückabzuwickeln (z.B. BGH, Urteil vom 07.05.2014, AZ: IV ZR 76/11, juris Rn. 44 und BGH).
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Es gibt jedoch Erwägungen, die Anlass dazu geben, die Rechtsprechung des BGH zu überdenken:
24
a) Vor der Einführung des § 152 VVG mit der VVG-Reform zum 01.01.2008 waren die Wirkungen von Widerspruch bzw. Widerruf nach § 5a VVG a. F. bzw. § 8 Abs. 5 VVG a. F. bei Versicherungsverträgen nach dem Policenmodell im VVG nicht geregelt. Die europarechtlichen Bestimmungen verwiesen auf das nationale Recht (Art. 15 Abs. 1 Richtlinie 90/619, Art. 35 Richtlinie 2002/83, zitiert in EuGH, Urteil vom 19.12.2019, AZ: C-355/18, juris, Rn. 3, Rn. 8). Nach nationalem Recht wurde auf die Vorschriften des Bereicherungsrechts bzw. die Vorschriften über das Rücktrittsrecht zurückgegriffen (Prölss/Martin, 30. Aufl., § 152 VVG, Rn. 3, mit weiteren Nachweisen). In § 5a VVG a. F. und § 8 Abs. 5 VVG a. F. war dabei jeweils für die Ausübung des Widerspruchs bzw. des Widerrufs eine Höchstfrist von einem Jahr vorgesehen, unabhängig davon, ob die Belehrung ordnungsgemäß erfolgte oder nicht.
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b) Durch den Wegfall der ursprünglich vorgesehenen Jahresgrenze auf der Basis des Urteils des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 19.12.2013 (C-209/12), entstand eine planwidrige Regelungslücke (BGH, Urteil vom 16.10.2013, Az: ZR 52/12, juris Rn.17). Der Gesetzgeber konnte bei der ursprünglichen Einführung der §§ 8 Abs. 5 VVG bzw. 5a VVG a. F. nicht vorhersehen, dass von diesem Recht wegen Wegfalls der Jahresgrenze noch nach Jahrzehnten Gebrauch gemacht werden würde.
26
c) Nach allgemeiner Rechtsprechung muss die Ausfüllung einer Regelungslücke durch die Gerichte allgemeinen Gerechtigkeitsvorstellungen entsprechen und in möglichst enger Anlehnung an das geltende Recht vorgenommen werden (z. B. Urteil des BGH vom 07.05.2014, IV ZR 76/11,juris, Rn 28).
27
aa) Der BGH führte in der o. g. Entscheidung aus, dass auf solche Verträge (nach § 5a VVG a. F.) die bereicherungsrechtlichen Vorschriften anwendbar seien. Jedoch hat sich der BGH dabei kaum mit den Rechtsfolgen von sehr späten Widersprüchen bzw. Widerrufen gegen Versicherungsverträge nach dem Policenmodell auseinandergesetzt. Einen Anspruch auf Nutzungsentschädigung über den Rückkaufswert einschließlich der Überschussanteile hinaus hat der BGH in diesem Zusammenhang (Rn. 44) nicht einmal erwähnt.
28
bb) Der BGH vertrat in der Entscheidung die Auffassung, dass auf das Widerspruchsrecht bei Altverträgen nicht die Vorschrift des § 152 Abs. 2 S. 2 VVG neue Fassung analog angewendet werden könne, weil § 152 VVG voraussetze, dass der Versicherungsnehmer bei Vertragsabschlüssen ab 2008 in anderer Weise belehrt wird (Rn. 44) und den Vertragsparteien bei Abschluss des Versicherungsvertrags die entsprechenden Vorschriften noch nicht bekannt gewesen seien. Es könne ein Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot vorliegen. Nach Prölss/Martin (30. Aufl., Art. 1 EGVVG Rn. 11) soll das neue Recht für die Rückabwicklung bei Widerspruch schon wegen des rückwirkenden Wirksamwerdens der Erklärung nicht gelten.
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cc) Hier geht es jedoch gar nicht um die Frage, welches Recht für die Belehrung gilt (also Rechtsgrund für den Widerruf bzw. Widerspruch), sondern um die Rechtsfolgen einer solchen Erklärung. Gegen die Anwendung des § 152 Abs. 2 S. 2 VVG für die Rechtsfolgen von Widerspruch und Widerruf bestehen keine Bedenken, wenn diese nach dem Inkrafttreten von § 152 Abs. 2 S. 2 VVG ausgeübt werden. In diesem Fall liegt nämlich eine sogenannte „unechte Rückwirkung“ vor, die zulässig ist (s. auch Marko Brambach in Rüffer/Halbach/ Schimikowski, Versicherungsvertragsgesetz, 4. Aufl., 2020 § 152 VVG Rn. 29) und vom Gesetzgeber bei der Regelung von Versicherungsverhältnissen jedenfalls grundsätzlich auch für vertretbar und sachgerecht gehalten wurde, was sich aus Art. 1 EGVVG in Verbindung mit dem zum 01.01.2008 eingeführten § 152 VVG für das Widerspruchs-/Widerrufsrecht ergibt (Prölss/Martin, 30. Aufl., Art. 1 EG VVG, Rn. 3, vor Art. 1 EGVVG, Rn. 2). Beim Erlass der Übergangsvorschrift zum 01.01.2008 war die nachfolgende Rechtsprechung des EuGH und des BGH hierzu dem Gesetzgeber auch noch nicht bekannt. Es bestand daher gar kein Bedürfnis für weit zurückliegende Versicherungsverträge Regelungen zu erlassen.
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dd) Der Verweis auf das Bereicherungsrecht und die Vorschriften des Rücktrittsrechts war nur unproblematisch so lange diese Rechte maximal auf einen Zeitraum von einem Jahr begrenzt waren. Ein Anspruch auf gezogene Nutzungen aus den Beiträgen war innerhalb dieses Zeitraums kaum von Gewicht.
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ee) Dem Bereicherungsrecht und den Vorschriften über den Rücktritt liegt eine andere Interessenlage zugrunde, als dem Widerrufs- bzw. Widerspruchsrecht:
32
Das Bereicherungsrecht bezweckt eine Korrektur einer unbeabsichtigten Leistung bzw. eines unbeabsichtigten Leistungsaustauschs. Die Rücktrittsregeln gelten dann, wenn ein Rücktrittsrecht vertraglich vereinbart ist oder kraft gesetzlicher Verweisung, was in der Regel Folge einer Leistungsstörung in einem Vertragsverhältnis ist, die vom Rücktrittsgegner zu verantworten ist. In solchen Fällen ist es sachgerecht, wenn nicht nur die ursprünglich ausgetauschten Leistungen zurückgewährt werden müssen, sondern auch die inzwischen daraus gezogenen Nutzungen.
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Das Widerspruchsrecht bzw. das Widerrufsrecht wird Verbrauchern hingegen eingeräumt, um sich ohne Angabe von Gründen und unabhängig vom Verhalten der Gegenseite von einem ursprünglich gewollten Vertragsverhältnis zu lösen (sogenanntes „Reuerecht“, Prölss/Martin, 30. Aufl. § 152 VVG Rn. 2).
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ff) Das ist eine andere Sachlage, die vom Gesetzgeber auch an verschiedenen Stellen in Form von Vorschriften berücksichtigt wurde:
35
Die §§ 355 ff. BGB enthalten nach zunehmender europarechtliche Harmonisierung abschließende Bestimmungen für das Widerrufsrecht und die Rechtsfolgen für immer mehr unterschiedliche Vertragsgestaltungen mit gleicher Interessenlage (vgl. dazu Palandt, 79. Aufl. von 2020, vor § 355 BGB Rn. 3). Nach § 357 BGB hat im Rahmen des Anwendungsbereichs dieser Vorschriften der Kunde nach Widerruf zwar einen Anspruch auf Rückgewähr etwaiger geleisteter Zahlungen, jedoch keinen Anspruch auf Nutzungen, die der Unternehmer in der Zwischenzeit aus seinen Zahlungen gezogen hat (Palandt, 79. Aufl. von 2020 vor § 355 Rn. 3). Das galt auch bereits für das Rücktrittsrecht nach § 361 a Abs. 2 BGB in der bis 31.12.2001 geltenden Fassung und das Widerrufsrecht nach § 357 Abs. 4 BGB in der Fassung bis zum 12.06.2014. Das gleiche gilt seit 01.01.2008 auch nach § 152 VVG für die Rückabwicklung von Lebensversicherungsverträgen nach neuem Recht. Zudem sieht Art. 229 § 32 EGBGB für vor dem 13.06.2014 abgeschlossene Verbraucherverträge (Fernabsatzvertrag, Haustürgeschäft, Finanzdienstleistungen) bei nicht ordnungsgemäßer Belehrung über das Widerrufsrecht ausdrücklich eine zeitliche Befristung vor, bis zu der das Widerrufsrecht trotz unzureichender Belehrung ausgeübt werden muss.
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Für das inzwischen eingeführte Regelungswerk zum Widerrufsrecht bei Verbraucherverträgen ist es zudem unerheblich, ob in den Vorschriften, die darauf Bezug nehmen, von einem aufgeschobenen Vertragsschluss bis zum Ablauf des Widerrufsrechts ausgegangen wurde oder von einem Lösungsrecht von einem bereits wirksam geschlossenen Vertrag. (Siehe dazu auch Palandt, 79. Aufl. von 2020, Überblick vor § 104 Rn. 32a und § 355 Rn. 2 und Prölss/Martin, 30. Aufl., § 152 VVG Rn 4.).
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gg) All diese Vorschriften und Übergangsvorschriften wurden erlassen, bevor der BGH nach Maßgabe des Urteils des EuGH mit Urteil vom 19.12.2013 (C - 209/12) die Jahresfrist für die Ausübung von Widerspruch bzw. Widerruf bei Versicherungsverträgen nach dem Policenmodell für unwirksam erklärte. Deshalb ist das Argument des BGH (im Urteil vom 07.05.2014, Az: ZR 76/11, juris, Rn. 44), aus Art. 1 Abs. 1 GG VVG ergäbe sich nach dem Willen des Gesetzgebers, dass das VVG in der neuen Fassung nicht auf Altverträge bis zum 31.12.2008 anzuwenden sei, nicht überzeugend. Bei Erlass der Übergangsvorschrift des Art. 1 Abs. 1 GG VVG war dem Gesetzgeber die nachfolgende Änderung der Rechtsprechung des EuGH und des BGH noch nicht bekannt. Es darf angesichts der nachträglich erlassenen Regelungen in anderen Gesetzen zum Widerrufsrecht bezweifelt werden, dass der Gesetzgeber Art. 1 EGVVG hinsichtlich der Anwendbarkeit des neuen § 152 Abs. 2 S. 2 VVG tatsächlich so formuliert hätte, wenn er die nachfolgende Änderung in der Rechtsprechung vorhergesehen hätte.
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hh) Eine analoge Anwendung des § 152 Abs. 2 S. 2 VVG in der seit 01.01.2008 geltenden Fassung auch auf Altfälle des Widerspruchs/Widerrufs bei Verträgen nach dem sogenannten Policenmodell berücksichtigt den vom Gesetzgeber hinsichtlich Rücktritts- und Bereicherungsrecht einerseits und Widerrufsrecht/Widerrufsrecht andererseits gesehenen Unterschied. Der Versicherungsnehmer hätte damit bei einem Widerspruch bzw. Widerruf von Policenmodell-Verträgen nach altem Recht zwar einen Anspruch auf Erstattung der bezahlten Prämien oder den Rückkaufswert einschließlich der Überschussanteile, nicht jedoch einen darüber hinausgehenden Anspruch auf Nutzungsentschädigung gemäß § 818 BGB bzw. nach Rücktrittsrecht.
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ii) Diese Lösung ist nach Meinung des erkennenden Gerichts interessengerechter, als die bisherigen Lösungsansätze. Es ist nicht angemessen, den Versicherungsnehmer bei einem Widerspruch/Widerruf an den gezogenen Nutzungen (d. h. den Gewinnen) der Versicherung zu beteiligen, soweit dies über die vertraglichen Regelungen hinausgeht, weil der Versicherungsnehmer auch bei der anfänglichen Entscheidung für ein anderes Versicherungs- oder Finanzprodukt keinen Anspruch auf solche Gewinne gehabt hätte und die rückwirkende Beteiligung an solchen Gewinnen speziell nach einem Widerspruch/Widerruf nach langer Zeit die Gemeinschaft der Versicherung unangemessen benachteiligt und oft allein aus Renditegesichtspunkten erfolgt (siehe OLG München, Urteil vom 27.08.2019, Aktenzeichen 25 U 2619/19, Ziffer 2.3.6. der Entscheidungsgründe). Solche Gesichtspunkte haben auch nach der Entscheidung des EuGH vom 19.12.2019 (ECLI:AZ:C -355/18, juris, Rn. 120) außer Betracht zu bleiben. Nach EuGH ist für die Beurteilung der Bedürfnisse des Versicherungsnehmers auf den Zeitpunkt des Vertragsabschlusses abzustellen (Rn. 120). Die praktische Wirksamkeit des mit dem eingeräumten Widerrufs-/Widerspruchsrecht verfolgten Zwecks muss gewährleistet sein (Rn. 62). Dazu ist nach EuGH erforderlich, dass sich der Versicherungsnehmer bei Ausübung seiner Rechte jedenfalls für die Zukunft vom Vertrag lösen kann und eine echte Wahlfreiheit hat (Rn. 102), also jedenfalls nicht schlechter gestellt wird, als bei der Kündigung. Genau dieses bezweckt die Regelung des § 152 Abs. 2 Satz 2 VVG (Prölss-Martin Versicherungsvertragsrecht, 30. Aufl., § 152, Rn. 13 und 14 mit weiteren Nachweisen). § 152 VVG steht in Einklang mit den unionsrechtlichen Vorgaben (Vgl. hierzu die ausführlichen Erörterungen in OLG Karlsruhe, Urteil vom 17. Mai 2019 - 12 U 141/17 -, juris, Rn. 73 ff.). Auf der anderen Seite vermeidet diese Lösung, dass dem Versicherungsnehmer nach langer Zeit ein Recht auf Widerspruch bzw. Widerruf im Hinblick auf die Rechtsprechung zur Verwirkung vollständig versagt wird, sondern ermöglicht ihm, sich für eine gegebenenfalls restliche Vertragslaufzeit für ein anderes Versicherungs- oder Finanzprodukt zu entscheiden oder von einer Investition ganz abzusehen. Dies wird dem gesetzgeberisch beabsichtigten Zweck des Widerspruchs-/Widerrufsrecht gerecht.
40
Hier hat der Kläger seinen Vertrag durch die 4 Monate zuvor erklärte Kündigung bereits beendet. Das hindert ihn zwar nicht noch nachträglich den Widerspruch gegen den Vertrag zu erklären. Jedoch ist nicht ersichtlich, dass er deshalb noch weitergehende Ansprüche gegen die Beklagte hat.
41
4. Daher besteht auch kein Anspruch auf die geltend gemachten Nebenforderungen.
42
Die Klage war insgesamt abzuweisen.
II.
43
Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 ZPO.
44
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar gemäß § 709 ZPO.
45
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 3 ZPO.