Inhalt

VG Ansbach, Urteil v. 04.06.2020 – AN 11 K 18.00414
Titel:

Feststellung des Verlusts des Rechts auf Einreise- und Aufenthalt eines ein freizügigkeitsberechtigten Unionsbürgers

Normenketten:
FreizügG/EU § 2 Abs. 2, § 6 Abs. 1, Abs. 4, Abs. 5 S. 1, § 7
EMRK Art. 8
RL 2004/38/EG Art. 28 Abs. 2
Leitsatz:
Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte haben bei der Prüfung, ob im Sinne des § 6 Abs. 2 Satz 2 FreizügG/EU eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Sicherheit durch ein persönliches Verhalten des Betroffenen zu erkennen ist, eine eigenständige Prognose zur Wiederholungsgefahr zu treffen. (Rn. 23) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Verlustfeststellung Freizügigkeitsrecht EU, bestehende Alkohol- und Drogenproblematik, Wiederholungsgefahr, Einreise, Ausreiseaufforderung, Straftat, Schuldfähigkeit, Wohnung, Freizügigkeit, Drogenproblematik
Fundstelle:
BeckRS 2020, 12989

Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.
Das Urteil ist insoweit vorläufig vollstreckbar.
3. Der Kläger kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe der festgesetzten Kosten abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

1
Der Kläger wendet sich gegen die Feststellung, dass er das Recht auf Einreise und Aufenthalt in der Bundesrepublik verloren hat.
2
Der 1993 geborene Kläger ist rumänischer Staatsangehöriger. Im Alter von fünf Jahren zog er zu seiner Großmutter, seine Mutter hielt sich inIt. auf. Mit 14 Jahren zog er nach … und etwa fünf Jahre später nach D., als er inIt. keine Anstellung mehr fand. Er besuchte die Schule in Rumänien für etwa acht Jahre, verließ diese ohne Abschluss und erlernte keinen Beruf. Im … 2015 zog er in das Stadtgebiet der Beklagten und war für Zeitarbeitsfirmen tätig, zuletzt war er bis Herbst 2016 als Lagerarbeiter und Kommissionierer beschäftigt.
3
Strafrechtlich ist der Kläger im Bundesgebiet wie folgt in Erscheinung getreten:
1. Staatsanwaltschaft …, …2012,
Hausfriedensbruch, von der Verfolgung abgesehen nach § 45 Abs. 1 JGG;
2. Amtsgericht …, … 2015, vier Wochen Jungendarrest wegen Diebstahls im besonders schweren Fall in vier Fällen, davon in zwei Fällen gemeinschaftlich handelnd, versuchter Diebstahl, Erschleichen von Leistungen, Sachbeschädigung;
3. Amtsgericht …, … 2016, Geldstrafe von 40 Tagessätzen zu je 15 Euro wegen Diebstahls geringwertiger Sachen, versuchter Nötigung in Tateinheit mit versuchter Körperverletzung;
4. Amtsgericht …, …2016, zwei Monate Freiheitsstrafe wegen Diebstahls;
5. Staatsanwaltschaft …, …2016, gefährliche Körperverletzung, von der Verfolgung abgesehen nach § 45 Abs. 1 JGG;
6. Landgericht …, … 2017, Freiheitsstrafe von vier Jahren und neun Monaten wegen gefährlicher Körperverletzung in Tateinheit mit Bedrohung, die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt wurde angeordnet.
4
Der Verurteilung durch das Landgericht lag zugrunde, dass der Kläger in der Nachtschicht vom … auf den ... 2016 als Kommissionierer bei … in … arbeitete und sich anschließend zu seiner Wohnung im Anwesen der ... in … begab. Diese Wohnung bewohnte er bis zu diesem Zeitpunkt mit zwei Schwestern, die in dieser Nacht entschieden, aus der Wohnung des Klägers auszuziehen. Sie verständigten deshalb drei Brüder, die ihnen helfen sollten, ihr Hab und Gut aus der Wohnung in ihre neue Wohnung zu bringen. Ein Freund eines dieser Brüder war ebenfalls dabei, dieser kannte den Kläger nicht. Der Kläger kam am …2016 gegen 9.00 Uhr vor dem Anwesen ... an, wobei er eine 0,7 Liter Flasche Whiskey mit sich führte, aus der bereits ab ca. 06.30 Uhr zu trinken begonnen hatte. Er begab sich nicht in seine Wohnung, sondern setzte sich auf eine Steinmauer zwischen dem Anwesen und der U-Bahnstation … Er nahm zu den beiden Schwestern, den drei Brüdern sowie dem Freund Kontakt auf, die in seiner Wohnung auf dem Balkon waren. Er forderte sie auf, aus der Wohnung zu ihm hinunterzukommen, um gemeinsam den Whiskey zu trinken, den er wegen seines Geburtstags bei sich habe. Der Freund der Brüder kam dieser Aufforderung nach, schließlich kamen auch zwei der Brüder sowie eine der beiden Schwestern, danach brachte die andere Schwester nach Aufforderung noch zwei Gläser aus der Wohnung. Der Kläger war auf einen Bruder aufgrund dessen Beziehung zu einer der Schwestern eifersüchtig, er verhielt sich deshalb ihm gegenüber ab etwa 09.30 Uhr zunehmend aggressiv, wobei er mindestens die halbe Flasche Whiskey zuvor konsumierte (Blutalkoholkonzentration von mindestens 2,1 Promille im Tatzeitpunkt). Er beleidigte ihn zunächst mit den Worten: „Deine Mutter soll sterben“. Der Freund der Brüder trat dazwischen und versuchte, den Kläger zu beruhigen. Dabei stellte er sich zwischen die beiden Brüder und den Kläger, wobei er diesem den Rücken zuwandte. Ohne Vorwarnung zog der Kläger ein Keramikmesser mit einer Klingenlänge von ungefähr 20 cm aus seinem Ärmel, das er dort versteckt gehalten hatte. Die Beteiligten bemerkten das Messer und machten auch den Freund darauf aufmerksam, dieser drehte sich zum Kläger um, der ihn sogleich mit dem Messer und den Worten „Komm her, ich schneide dir den Hals durch“, bedrohte. Dabei vollführte er mit dem Messer in der rechten Hand eine waagerechte Schwingbewegung in Richtung des Halses des Freundes in der Absicht, diesen dort zu verletzen. Wie der Kläger wusste, wäre eine entsprechende Verletzung lebensgefährlich gewesen. Das Opfer konnte nach hinten ausweichen und wurde dadurch nicht am Hals, sondern mit dem Messer im Gesicht an der Oberlippe getroffen, er erlitt ein circa 3 cm lange, klaffende, mäßig blutende, glattrandige, weniger als 5 mm tiefe Schnittwunde quer über der linken Oberlippe sowie eine ca. 1 cm lange, weniger als 5 mm tiefe, glattrandige, nicht klaffende, nicht blutende Schnittwunde an der linken Wange. Der Kläger vollführte sogleich eine weitere Schwingbewegung mit dem Messer gegen das Opfer, als dieses sich umdrehte, um vor ihm zu flüchten. Das Messer traf diesen im Bereich des linken Schulterblattes, Folge an dieser Stelle war eine ca. 15 cm lange, mäßig blutende, unterschiedlich tiefe (maximal 1 cm), klaffende, glattrandige Wunde. Der Angegriffene versuchte sich sodann, mit seinem linken Arm gegen die Angriffe zu schützen. Der Kläger vollführte eine dritte Schwingbewegung, wobei er dem Angegriffenen am linken Arm eine ca. 12 cm lange, klaffende, blutende, bis auf den Muskel reichende, glattrandige, vom Olecranon nach proximal-medial verlaufende Schnittwunde zufügte, wobei die Sehne der Trizepsmuskulator auf einer Länge von 5 - 8 cm durchtrennt wurde. Alle Verletzungen nahm der Kläger durch sein Handeln zumindest billigend in Kauf, ebenso sogar einen möglichen Tod. Obwohl es ihm möglich gewesen wäre, weiter auf das Opfer einzustechen, ließ er von dem Angegriffenen ab und flüchtete. Während er den Tatort verließ, äußerte er zu den Beteiligten, es wäre besser gewesen, wenn er den Angegriffenen am Hals erwischt hätte. Nach dem Geschehen schrieb der Kläger der Zeugin, auf deren Beziehung er eifersüchtig war, auf Facebook eine Nachricht, in der er ihr empfahl, sich zu schützen, sie werde ihm nicht entwischen.
5
Das eingeholte psychiatrische Fachgutachten (vom 9.4.2017, Bl. 170 ff. der Behördenakte) beinhaltet u.a., bezüglich der Frage, ob die Suchtproblematik bereits als Hang im Sinne des § 64 StGB zu qualifizieren sei, spreche bereits mehr für als gegen die Annahme; der Kläger habe angegeben, vor ein oder zwei Jahren letztmalig in Rumänien gewesen zu sein, mit dreizehn oder vierzehn das erste Mal Alkohol getrunken und mit vierzehn das erste Mal Cannabis geraucht zu haben, er habe immer ein Problem mit Alkohol gehabt.
6
Die Beklagte hörte den Kläger zur beabsichtigten Feststellung des Verlustes des Freizügigkeitsrechts, Ausreiseaufforderung und Abschiebungsdrohung an. Die Klägerbevollmächtige regte (mit Schreiben vom 4.12.2017) an, von den geplanten Maßnahmen abzusehen. Der Kläger befinde sich in der forensischen Klinik, er nehme pflichtgemäß an dem suchttherapeutischen Intensivprogramm teil. Bisher hätten die Therapiegespräche auf Rumänisch stattgefunden. Der Kläger habe bedingt eingesehen, dass er eine längere Therapie benötige. Er sei hochmotiviert, die Therapie zu absolvieren. Eine Abschiebung nach Rumänien würde für ihn nur einen Rückschritt in die alten Verhaltensmuster und einen Rückfall in die Alkohol- und Drogensucht bedeuten. Der Kläger lebe seit seinem 18. Lebensjahr in D. und sei hier bereits in der Lage gewesen, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Die Prognose der Therapeuten in der Klinik sowie das o.g. Gutachten ließen eine erfolgreiche Therapie erkennen, nach welcher der Kläger drogen- und straffrei sein werde. Dieser sei gewillt, sein Leben zu ändern.
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Mit Bescheid der Beklagten vom 31. Januar 2018 wurde der Verlust des Rechts auf Einreise- und Aufenthalt für die Bundesrepublik D. festgestellt (Nr. I), die Wirkungen der Feststellung des Verlustes des Freizügigkeitsrechtes (Einreise- und Aufenthaltsverbot) und einer gegebenenfalls durchzuführenden Abschiebung wurden auf die Dauer von acht Jahren ab Ausreise/Abschiebung befristet (Nr. II) und der Kläger aufgefordert, die Bundesrepublik D. innerhalb einer Frist von einem Monat nach Eintritt der Unanfechtbarkeit der Entscheidung zu verlassen (Nr. III). Die Abschiebung, insbesondere nach Rumänien, wurde angedroht (Nr. IV). Nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU habe ein freizügigkeitsberechtigter Unionsbürger das Recht auf Einreise und Aufenthalt nach Maßgabe des Freizügigkeitsgesetzes. Gemeinschaftsrechtlich freizügigkeitsberechtigt seien die im § 2 Abs. 2 FreizügG/EU genannten Personen; zu Gunsten des Klägers werde angenommen, dass er allein aufgrund seiner Staatsangehörigkeit Freizügigkeit genieße. Aufgrund des mehr als fünfjährigen Voraufenthalts im Bundesgebiet sei die Voraussetzung des § 6 Abs. 4 FreizügG/EU erfüllt, danach sei die Feststellung des Verlustes der Freizügigkeit nur aus schwerwiegenden Gründen zulässig, diese lägen im Fall des Klägers vor. Die Voraussetzungen des § 6 Abs. 5 Satz 1 FreizügG/EU seien nicht gegeben, da sich der Kläger seit höchstens sechs Jahren im Bundesgebiet aufhalte. Bei der Verlustfeststellung sei zu beachten, dass nicht jeder Verstoß gegen innerstaatliche Vorschriften dazu führe, dass Gründe der öffentlichen Ordnung vorlägen, welche ein Beschränken des Freizügigkeitsrechtes rechtfertigten. Vielmehr müsse hinzutreten, dass eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung der öffentlichen Ordnung gegeben sei, die das Grundinteresse der Gesellschaft berühre. Die Tatsache einer strafrechtlichen Verurteilung genüge deshalb für sich alleine nicht, um die Aufenthaltsbeendigung zu begründen. Aus dem vom Kläger gezeigten Verhalten und dem gegen ihn ergangenen Strafurteil ergebe sich eine gegenwärtige Gefahr der öffentlichen Ordnung und eine tatsächliche und schwerwiegende Gefährdung, welche die Grundinteressen der Gesellschaft berühren. Der Kläger habe sich hier als drogenabhängiger Gewohnheitsstraftäter mit hohem Gewaltpotenzial erwiesen. Das Strafgericht habe mit Urteil vom … festgestellt, alle Handlungen des Klägers gegen den Geschädigten seien potenziell lebensbedrohend und beim Kläger sei Tötungsvorsatz vorhanden gewesen. Zu einer Verurteilung wegen versuchten Mordes oder Totschlages sei es nur deshalb nicht gekommen, weil der Kläger letztlich von der Vollendung der Tat zurückgetreten sei. Bei der Verurteilung wegen gefährlicher Körperverletzung habe berücksichtigt werden müssen, dass der Geschädigte massive Verletzungen davontrug und der Kläger gegen eine Person, die nur habe schlichten wollen, mit Tötungsvorsatz das vorher hinterlistig im Ärmel verbundene Keramikmesser eingesetzt habe. Der Kläger sei auch einschlägig vorbestraft und zeige eine hohe Rückfallgeschwindigkeit. Erst im … 2016 sei er aus der Haft entlassen worden. Die Hafterfahrung habe offensichtlich keinen Eindruck auf den Kläger gemacht und diesen von weiteren, weitaus gefährlicheren Straftaten nicht abhalten können. Die Bedrohung einer Zeugin nach der Tat runde das Bild der Gefährlichkeit des Klägers ab. Dem fachpsychiatrischen Gutachten sei die Diagnose einer Alkohol- und Drogenabhängigkeit zu entnehmen. Drogenerwerb und -konsum hätten im Leben des Klägers eine erhebliche Rolle gespielt, insbesondere sei es zu Beschaffungsdelinquenz gekommen. Da die Suchtproblematik beim Kläger noch nicht überwunden sei, bestehe für die Zukunft bei weiterem unkontrolliertem Drogenkonsum ein Risiko für die Begehung neuer Straftaten in dem Bereich der Betäubungsmitteldelinquenz und Aggressionsdelikte. Bei der Begehung der vorgenannten Straftat habe der Kläger eine ganz erhebliche kriminelle Energie an den Tag gelegt. Sein Verhalten lasse begründet darauf schließen, dass bei einem weiteren Aufenthalt nach der Entlassung aus der JVA oder einer erneuten Einreise konkret weitere Straftaten seitens des Klägers drohten. Bei der Entscheidung seien die besondere Rechtsstellung der vom Gemeinschaftsrecht privilegierten Personen und die besondere Bedeutung der Grundfreiheiten in den Blick zu nehmen; weiter sei auch den weiteren Grundrechten des Betroffenen Rechnung zu tragen. Danach sei insbesondere der nach Art. 6 GG und Art. 8 EMRK garantierte Schutz des Familienlebens zu Gunsten des Unionsbürgers zu beachten. Nach Aktenlage habe der Kläger im Bundesgebiet keine schützenswerte, zu beachtende Beziehung; seine Schwester wohne zwar in N., aber sie habe den Kontakt zu ihm abgebrochen. Die Abwägung der persönlichen Interessen des Klägers mit dem öffentlichen Interesse an der Aufenthaltsbeendigung bzw. des Verbots der Einreise, müsse zu Gunsten des öffentlichen Interesses entschieden werden. Unter Berücksichtigung aller für und gegen den Kläger sprechenden bekannten Umstände werde die Wirkung der Verlustfeststellung auf die Dauer von acht Jahren befristet.
8
Mit Schriftsatz seiner Bevollmächtigten vom 28. Februar 2018 ließ der Kläger hiergegen Klage erheben; er beantragt,
Der Bescheid der Beklagten vom 31. Januar 2018 wird aufgehoben.
Hilfsweise wird beantragt die Sperrfrist für die Ausweisung auf maximal zwei Jahre zu begrenzen.
9
Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, der angefochtene Bescheid sei rechtswidrig. Der Kläger genieße Freizügigkeit und habe ein Daueraufenthaltsrecht erworben, weshalb der Verlust nur nach § 6 Abs. 1 Satz 1 i. V. m. Abs. 4 FreizügG/EU festgestellt werden könne. Letztlich müsse sich klar erkennbar aus dem persönlichen Verhalten des Klägers eine tatsächliche hinreichend schwere Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ergeben und ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt sein. Aus der Straftat, die Anlass für den Bescheid sei, ergebe allerdings keine hinreichend schwere Gefährdung für die öffentliche Sicherheit und Ordnung. Die strafrechtliche Verurteilung dürfe nicht ausschlaggebend für die Beurteilung sein. Heranzuziehen sei lediglich das persönliche Verhalten des Klägers; in diesem Fall richtigerweise, der Alkohol- und Drogenkonsum sowie die hieraus resultierende Aggressivität des Klägers. Jedoch rechtfertige dies keine Annahme der schweren Gefährdung der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit. Das vorgelegte Gutachten vom 9. April 2017 diagnostiziere für den Kläger eine psychische Störung und Verhaltensstörung (verursacht durch ein Abhängigkeitssyndrom). Es läge jedoch Therapiebereitschaft des Klägers vor, dieser habe erkennbar den Entschluss zu einem straf- und drogenfreien Neubeginn gefasst. Mit dem prognostizierten Therapieerfolg bestehe im persönlichen Verhalten des Klägers keine schwerwiegende Gefährdung für die Sicherheit und Ordnung.
10
Die Beklagte beantragt,
Klageabweisung.
11
Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, die Wiederholungsgefahr sei bereits in der vom Kläger ausgeführten Straftat, weiter in seiner fehlenden sozialen und wirtschaftlichen Integration sowie der nach wie vor bestehenden Suchtproblematik begründet. Angesichts der versuchten Tötung eines Menschen mit einem versteckt getragenen - erfahrungsgemäß besonders scharfen - Keramikmesser, seien an die Prognose der Wiederholungsgefahr angesichts des zu erwartenden Schadens und der damit verbundenen Rechtsgutverletzung im Wiederholungsfalle nur geringe Anforderungen zu stellen.
12
Ergänzend wurde eine Stellungnahme des BKH … vom 25. Juni 2019 sowie ein Beschluss des Landgerichts … vom 4. September 2019 vorgelegt und im Wesentlichen ausgeführt, zunächst habe die Strafvollstreckungskammer (mit Beschluss vom 7.6.2019) die Fortdauer der Unterbringung angeordnet. Daraufhin habe der Kläger sein Entweichen aus der Therapieeinrichtung geplant und sei schließlich am 19. Juni 2019 unter dem Vorwand, sich in … eine SIM-Karte besorgen zu wollen, aus dem Maßregelvollzug entwichen. Vorher habe er durch das BKH auch noch Zugriff auf seinen rumänischen Personalausweis erlangt. Der Kläger sei (am 3.8.2019) im Hafen von … festgenommen und im BKH dann festgestellt worden, dass der Kläger intoxikiert gewesen sei. Mit Beschluss des Landgerichtes … (vom 4.9.2019) sei der Maßregelvollzug für erledigt erklärt worden, diesem habe eine Stellungnahme des BKH zugrunde gelegen, in der die Aussichtslosigkeit weiterer Therapieangebote für den Kläger dargelegt worden sei. Die Stellungnahme beinhaltet u.a. zusammenfassend, dass es dem Kläger seit der Aufnahme (am …2017) nach zwei Jahren Therapie nicht gelungen sei, sich hinreichend mit dem Maßregelvollzug zu identifizieren, therapeutische Vorgaben authentisch anzuerkennen und für sich sinnvoll umzusetzen und somit eine tragfähige Sozialisierungsperspektive zu entwickeln. In Anbetracht des zurückliegenden Zeitraums der aktuellen Entweichung müsse festgestellt werden, dass der Kläger von den therapeutischen Angeboten nicht habe profitieren können und es nahezu ausgeschlossen erscheine, dass ihm die grundlegende Persönlichkeits- und Verhaltensänderung, die als notwendige Voraussetzung für den erfolgreichen Abschluss der Therapie erachtet werde, noch gelingen könne. Trotz vielfältiger, intensiver und langer Therapie scheine das Ziel der Sucht- und Deliktfreiheit kaum erreichbar.
13
Ergänzend wurde der Schriftverkehr der Beklagten mit der JVA … nachgereicht: Vorgesehenes Haftzeitende nach dem Vollstreckungsdatenblatt ist danach der ... 2021.
14
Die Regierung von Mittelfranken beteiligte sich als Vertretung des öffentlichen Interesses am Verfahren und trat der Auffassung der Beklagten bei; auf den Schriftsatz vom 15. April 2020 wird Bezug genommen.
15
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichts- und Behördenakten sowie auf das Protokoll über die mündliche Verhandlung Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Die zulässige Klage hat in der Sache keinen Erfolg.
17
Der Bescheid der Beklagten vom 31. Januar 2018 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten; der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Verkürzung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO, Abs. 5 Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO).
18
Die in Ziffer I verfügte Feststellung des Verlusts des Rechts auf Einreise und Aufenthalt für die Bundesrepublik D. ist ebenso wenig zu beanstanden, wie die in Ziffer III bzw. IV verfügte Annexentscheidung. Auch begegnet die unter Ziffer II verfügte Befristung der Wirkungen der Feststellung des Verlusts des Freizügigkeitsrechts auf die Dauer von acht Jahren ab Ausreise/Abschiebung derzeit keinen durchgreifenden rechtlichen Bedenken.
19
Zur Vermeidung von Wiederholungen wird auf die zutreffenden Ausführungen in dem angefochtenen Bescheid, denen das Gericht folgt, Bezug genommen (§ 117 Abs. 5 VwGO). Ergänzend wird hierzu Folgendes ausgeführt:
20
Maßgeblicher Zeitpunkt für die rechtliche Beurteilung der Feststellung des Verlusts des Freizügigkeitsrechts ist die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (vgl. BVerwG, U.v. 16.7.2015 - 1 C 22/14 - juris Rn. 11).
21
1. Nach § 6 Abs. 1 Satz 1 des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (FreizügG/EU) kann der Verlust des Rechts eines Unionsbürgers auf Einreise und Aufenthalt nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU unbeschadet des § 2 Abs. 7 und des § 5 Abs. 4 FreizügG/EU nur aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit festgestellt werden. Gemäß § 6 Abs. 2 Satz 1 FreizügG/EU genügt die Tatsache einer strafrechtlichen Verurteilung für sich alleine nicht, um die Verlustfeststellung zu begründen. Es dürfen nach § 6 Abs. 2 Satz 2 FreizügG/EU nur im Bundeszentralregister nicht getilgte strafrechtliche Verurteilungen und diese nur insoweit berücksichtigt werden, als die ihnen zugrundeliegenden Umstände ein persönliches Verhalten erkennen lassen, das eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstellt. Es muss gemäß § 6 Abs. 2 Satz 3 FreizügG/EU eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliegen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt.
22
Gemäß § 6 Abs. 4 FreizügG/EU darf eine Feststellung nach Abs. 1 nach Erwerb des Daueraufenthaltsrechts nur aus schwerwiegenden Gründen getroffen werden; diese Regelung dient der Umsetzung des Art. 28 Abs. 2 RL 2004/38/EG und erhöht die Anforderungen an die Verlustfeststellung (vgl. Dienelt in Bergmann/Dienelt, 13. Aufl. 2020, § 6 FreizügG/EU Rn. 49 ff.). Darüber hinaus darf nach § 6 Abs. 5 Satz 1 FreizügG/EU die Verlustfeststellung bei Unionsbürgern, die ihren Aufenthalt in den letzten zehn Jahren im Bundesgebiet hatten, nur aus zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit getroffen werden. Zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit können gemäß § 6 Abs. 5 Satz 3 FreizügG/EU u.a. nur dann vorliegen, wenn der Betroffene wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens fünf Jahren verurteilt wurde. Bei der Entscheidung über die Verlustfeststellung sind nach § 6 Abs. 3 FreizügG/EU insbesondere die Dauer des Aufenthalts des Betroffenen in D., sein Alter, sein Gesundheitszustand, seine familiäre und wirtschaftliche Lage, seine soziale und kulturelle Integration in D. und das Ausmaß seiner Bindungen zum Herkunftsstaat zu berücksichtigen.
23
Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte haben nach ständiger Rechtsprechung bei der Prüfung, ob im Sinne des § 6 Abs. 2 Satz 2 FreizügG/EU eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Sicherheit durch ein persönliches Verhalten des Betroffenen zu erkennen ist, ebenso wie bei einer spezialpräventiven Ausweisungsentscheidung, eine eigenständige Prognose zur Wiederholungsgefahr zu treffen (vgl. BVerwG, B.v. 11.9.2015 - 1 B 39/15 -InfAuslR 2016, 1; BayVGH, B.v. 15.10.2019 - 19 ZB 19.914 - juris Rn. 9 m.w.N.). Nach dem Gefahrenmaßstab des § 6 Abs. 2 Satz 3 FreizügG/EU muss eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliegen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Dieser Maßstab verweist - anders als der Begriff der Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung im deutschen Polizeirecht - nicht auf die Gesamtheit aller Rechtsnormen, sondern auf einen spezifischen Rechtsgüterschutz, nämlich ein Grundinteresse der Gesellschaft, das berührt sein muss (vgl. NdsOVG, B.v. 5.9.2019 - 13 ME 278/19 - juris Rn. 6). Eine strafrechtliche Verurteilung kann eine Verlustfeststellung nur insoweit rechtfertigen, als die ihr zugrundeliegenden Umstände ein persönliches Verhalten erkennen lassen, das eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstellt (vgl. EuGH, U.v. 17.4.2018 - C-316/16 und C-424/16 - juris Rn. 92; U.v. 29.4.2004 - C-482/01 und C-493/01 - DVBl. 2004, 876, Rn. 67 m.w.N.). Es besteht keine dahingehende Regel, dass bei schwerwiegenden Taten das abgeurteilte Verhalten allein die hinreichende Besorgnis neuer Verfehlungen begründet (vgl. BVerwG, B.v. 30.6.1998 - 1 C 27.95 - InfAuslR 1999, 59). Ob die Begehung einer Straftat nach deren Art und Schwere (vgl. EuGH, U.v. 29.4.2004, a.a.O., Rn. 99) ein persönliches Verhalten erkennen lässt, welches ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, kann nur aufgrund der Umstände des Einzelfalles beurteilt werden.
24
a) Bei der Prognose, ob eine Wiederholung vergleichbarer Straftaten mit hinreichender Wahrscheinlichkeit droht, sind insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Straftat, die Umstände ihrer Begehung, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts sowie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und die Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt zu berücksichtigen. An die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts sind bei dieser Prognose umso geringere Anforderungen zu stellen, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist. Auch der Rang des bedrohten Rechtsguts ist dabei zu berücksichtigen; an die nach dem Ausmaß des möglichen Schadens zu differenzierende hinreichende Wahrscheinlichkeit dürfen andererseits keine zu geringen Anforderungen gestellt werden (vgl. BayVGH, B.v. 15.10.2019 - 19 ZB 19.914 - juris Rn. 9).
25
b) Nach Überzeugung des Gerichts liegt eine vom Kläger ausgehende gegenwärtige tatsächliche und hinreichende schwere Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung vor, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Die Verlustfeststellung ist vorliegend aus schwerwiegenden Gründen i.S.v. § 6 Abs. 4 FreizügG/EU gerechtfertigt.
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Die Beklagte geht zu Gunsten des Klägers, ohne die Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 Freizügigkeitsgesetz/EU (FreizügG/EU) im Einzelnen zu prüfen, davon aus, dass der Kläger schon auf Grund seiner rumänischen Staatsangehörigkeit ein freizügigkeitsberechtiger Unionsbürger ist. Zu Gunsten des Klägers geht die Beklagte weiter davon aus, dass der Kläger den besonderen Schutzstatus nach § 6 Abs. 4 FreizügG/EU erworben hat, weil er sich wohl seit mehr als fünf Jahren ständig rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat und damit die für ein Daueraufenthaltsrecht nach § 4 a FreizügG/EU notwendigen Voraussetzungen erfüllt sind. Den besonderen Status des § 6 Abs. 5 FreizügG/EU hat der Kläger noch nicht erworben, weil er die dafür erforderliche Aufenthaltszeit von zehn Jahren noch nicht erreicht hat.
27
Der Kläger wurde mit Urteil des Landgerichts … vom … (Bl. 277 ff. der Behördenakte) wegen gefährlicher Körperverletzung in Tateinheit mit Bedrohung zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und neun Monaten verurteilt, nachdem er am … 2016 den Geschädigten zunächst bedroht und diesem dann die drei vorgenannten Schnittverletzungen mit einem Keramikmesser zufügte; er war im Tatzeitpunkt mit einer Blutalkoholkonzentration von mindestens 2,1 Promille alkoholisiert. Im Rahmen der Strafzumessung wurde berücksichtigt, dass ein minder schwerer Fall trotz des Geständnisses des Klägers aufgrund des gezeigten zu negativen Tatbildes nicht vorliege. Zudem seien die Körperverletzungshandlungen sogar mit bedingtem Tötungsvorsatz geführt worden. Die Schuldfähigkeit des Klägers sei nicht ausschließbar nicht nur unerheblich beeinträchtigt gewesen. Zugunsten des Klägers wurde das umfassende von Reue und Schuldeinsicht getragene Geständnis gewertet, ebenso, dass bei dem (nicht erschienen) Opfer keine Spätfolgen des Tatgeschehens festgestellt wurden. Zulasten des Klägers wurden u.a. die massiven Verletzungen des Opfers, die einen Krankenhausaufenthalt mit einer Operation notwendig machten, das Tatbild (der Kläger kommt mit einem im Ärmel versteckten Messer zum Tatort und setzt dieses, nachdem er aus Eifersucht gegenüber dem vermeintlichen Nebenbuhler aggressiv geworden war, mit bedingtem Tötungsvorsatz gegen eine ihm bis dahin unbekannte Person ein, die nur streitschlichtend eingreifen wollte), die hohe Rückfallgeschwindigkeit und das Nachtatverhalten des Klägers mit der Bedrohung der Zeugin über Facebook berücksichtigt. In dem Strafurteil wurde auch festgestellt, dass bei einem Fortbestehen der Alkohol- und Opiatabhängigkeit des Klägers ein erhöhtes Risiko für die Begehung neuer Betäubungsmittel- und Aggressionsdelikte gleicher Intensität besteht. Die Unterbringung des Klägers in einer Entziehungsanstalt wurde angeordnet. Dementsprechend trat der Kläger am … 2017 eine Therapie im Bezirksklinikum … an. Der Stellungnahme der Bezirkskliniken … vom …2019 - Antrag auf Abbruch der Maßregel wegen Aussichtslosigkeit - ist zwar zu entnehmen, dass der Kläger trotz als unstet zu bezeichnender Mitarbeit Lockerungsstufen erhalten hat. Zu einem erfolgreichen Abschluss der Alkohol- und Drogentherapie ist es aber nicht gekommen, da mit Beschluss des Landgerichts … vom 4. September 2019 u.a. die angeordnete Unterbringung des Klägers für erledigt erklärt wurde; bei Gesamtwürdigung des seitens des Klägers während des Therapieverlaufs gezeigten Verhaltens sei die Strafvollstreckungskammer zu der Überzeugung gelangt, dass der Kläger aus Gründen, die in seiner Person liegen, das Therapieziel voraussichtlich nicht erreichen werde.
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Es liegt demnach beim Kläger nach der Überzeugung des Gerichts immer noch ein nicht therapiertes Alkohol- und Drogenproblem vor; die Suchtproblematik des Klägers ist noch nicht überwunden. Daher erachtet die Kammer auch im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung eine gegenwärtige, tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung der öffentlichen Ordnung sowie auch die gesteigerten Anforderungen hinsichtlich des berührten Grundinteresses der Gesellschaft für gegeben. Die körperliche Unversehrtheit des Menschen ist ein überragend wichtiges Gemeinschaftsgut (vgl. BayVGH, B.v. 26.10.2016 - 19 C 15.2217 - juris) und das Ausmaß der vom Kläger verursachten Verletzungen des Geschädigten wiegt besonders schwer. Insbesondere der konkrete Einsatz des Keramikmessers belegt die hohe Gefährlichkeit seiner Handlungen für die Gesundheit und das Leben des Opfers. Das persönliche Verhalten des Klägers stellt auch eine tatsächliche und gegenwärtige Gefahr dar, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt; auch die vorgenannte Stellungnahme der Bezirkskliniken … (BKH … vom 25.6.2019) belegt letztlich die in der vorgenannten Tat zum Ausdruck kommenden bestehenden charakterlichen Defizite des Klägers. Danach erscheine es nahezu ausgeschlossen, dass dem Kläger die grundlegende Persönlichkeits- und Verhaltensänderung, die als notwendige Voraussetzung für einen erfolgreichen Therapieabschluss erachtet würde, noch gelingen könnte; das Ziel der Sucht- und Deliktfreiheit sei kaum erreichbar. Das im Strafverfahren eingeholte vorgenannte Gutachten (vom 9.4.2017) stellt fest, dass die Tat im Alkoholrausch erfolgte; ein symptomatischer Zusammenhang mit der komplexen Suchtproblematik wäre danach damit herstellbar, allerdings liege es nahe davon auszugehen, dass auch andere motivationale Faktoren (Eifersucht) bei der Tat eine Rolle gespielt haben. Danach besteht bei weiter unkontrolliertem Alkohol- und illegalem Drogenkonsum ein Risiko für neue Straftaten aus dem Bereich der Betäubungsmitteldelinquenz und auch für neue Aggressionsdelikte. Es ist beim Kläger weiterhin von einer ganz erheblichen Rückfallgefahr auszugehen. Um die Wiederholungsgefahr im Fall des Klägers ernsthaft in Zweifel ziehen zu können, wäre erforderlich, dass der Kläger die Erwartung künftig straffreien Verhaltens auch nach Straf- bzw. Therapieende - über einen längeren Zeitraum - glaubhaft gemacht hätte (BayVGH, B.v. 2.1.2019 - 10 ZB 18.1638 - juris Rn. 6). Die Kammer geht daher im Hinblick auf die längerfristig angelegte ausländerrechtliche Gefahrenprognose und den Schutz besonders gewichtiger Rechtsgüter mit hinreichender Wahrscheinlichkeit davon aus, dass der Kläger wieder straffällig wird. Von einem Grundinteresse der Gesellschaft kann in diesem Zusammenhang ausgegangen werden, da die vom Kläger ausgehende Gefahr allgemein anerkannte und gesetzlich festgelegte Werte und Normen in einem Maße beeinträchtigt, so dass ein Einschreiten seitens des Staates erforderlich ist.
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c) Die Beklagte hat bei Erlass der Verlustfeststellung das ihr eingeräumte Ermessen pflichtgemäß ausgeübt. Im Rahmen der gebotenen Ermessensentscheidung ist abzuwägen, ob das öffentliche Interesse am Schutz der öffentlichen Ordnung das private Interesse des Unionsbürgers - bzw. des Familienangehörigen eines Unionsbürgers - an seinem Verbleib im Bundesgebiet deutlich überwiegt (BVerwG, U.v. 3.8.2004 - 1 C 30/02 - juris Rn. 27). Es ist insoweit der nach Art. 6 GG und Art. 8 EMRK garantierte Schutz des Familienfriedens zu Gunsten des Betroffenen zu beachten. Hierbei ist gemäß § 6 Abs. 3 FreizügG/EU insbesondere die Dauer des Aufenthalts des Betroffenen in D., sein Alter, sein Gesundheitszustand, seine familiäre und wirtschaftliche Lage, seine soziale und kulturelle Integration in D. und das Ausmaß seiner Bindungen zum Herkunftsstaat zu berücksichtigen.
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Das Gericht kann die Ermessensentscheidung der Beklagten gemäß § 114 Satz 1 VwGO lediglich darauf hin überprüfen, ob die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht worden ist. Gemessen an diesen Vorgaben ist die Entscheidung der Beklagten nicht zu beanstanden. Die Beklagte hat ermessensfehlerfrei festgestellt, dass das öffentliche Interesse am Schutz der öffentlichen Ordnung das private Interesse des Klägers an seinem Verbleib im Bundesgebiet deutlich überwiegt. Sie hat in ihrer Ermessensentscheidung zutreffend berücksichtigt, dass sich der Kläger seit etwa 2012 in der Bundesrepublik aufgehalten hat, mehrfach straffällig wurde und nach Aktenlage keine schützenswerten Beziehungen im Bundesgebiet hat. Eine soziale Integration sei dem Kläger trotzt des mehrjährigen Aufenthalts nicht gelungen, wie schon die Anzahl und Schwere der abgeurteilten Straftaten zeige. Auch unter Berücksichtigung des Art. 6 GG und des Art. 8 EMRK ist die Feststellung des Verlusts des Freizügigkeitsrechts des Klägers nicht unverhältnismäßig. Zwar wurde im Rahmen der mündlichen Verhandlung insbesondere geltend gemacht, die im Bundesgebiet lebende Schwester des Klägers sei dessen wichtigste Bezugsperson und könne diesen in Rumänien nicht beaufsichtigen bzw. unterstützen. Die Beklagte hat aber in die Ermessensentscheidung in zutreffender Weise ergänzend eingestellt, dass allein die Tatsache, dass die Schwester den volljährigen Kläger unterstützen wolle, insoweit zu keiner anderen Beurteilung führt; abgesehen davon, könne sie dies ggf. auch in Rumänien tun. Diese Erwägungen sind nicht zu beanstanden. Der Kläger beging seine erste Straftat im Bundesgebiet bereits zeitnah nach seiner Einreise, trotz Hafterfahrung wurde er am …2016 erneut massiv straffällig und war im Tatzeitpunkt alkoholisiert. Es liegt demnach eine hohe Rückfallgeschwindigkeit vor. Die Suchtproblematik des Klägers, der auch bei seiner Rückkehr ins BKH (am …2019) intoxikiert war, besteht nach wie vor. Die Beklagte hat daher in rechtlich nicht zu beanstandender Weise das öffentliche Interesse an einer Beendigung des Aufenthalts des Klägers höher gewichtet, als dessen Interesse, weiterhin im Bundesgebiet zu leben.
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2. Gegen die Rechtmäßigkeit der Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung (Nr. III und IV des Bescheids) bestehen keine durchgreifenden rechtlichen Bedenken (§ 7 Abs. 1 Satz 2 und 3 FreizügG/EU). Die Frist, das Bundesgebiet innerhalb von einem Monat nach Eintritt der Unanfechtbarkeit der Entscheidung zu verlassen, erscheint angemessen.
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3. Ebenfalls keinen rechtlichen Bedenken begegnet die in Ziffer II des streitgegenständlichen Bescheids verfügte Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots auf die Dauer von acht Jahren ab Ausreise/Abschiebung. Rechtsgrundlage ist insoweit § 7 Abs. 2 FreizügG/EU. Dabei ist jeweils auf die aktuelle Tatsachenlage im Zeitpunkt der Überprüfungsentscheidung abzustellen (vgl. EuGH, U.v. 17.6.1997 - C-65/95, C-111/95 - Rn. 39 ff.). Die Frist ist unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles festzusetzen und darf fünf Jahre nur in den Fällen des § 6 Abs. 1 FreizügG/EU - wie hier - überschreiten (§ 7 Abs. 2 Satz 6 FreizügG/EU). Eine Höchstfrist für Verlustfeststellungen nach § 6 Abs. 1 FreizügG/EU ist nicht vorgesehen (vgl. BVerwG, U.v. 25.3.2015 - 1 C 18/14 - juris Rn. 23). Die Beklagte geht zutreffend davon aus, dass von dem Kläger auch künftig Straftaten zu erwarten sind und dass eine zeitnahe Befristung im Hinblick auf die von dem Kläger ausgehende Wiederholungsgefahr hinsichtlich neuer Straftaten den Verlustfeststellungszweck konterkarieren würde. In der mündlichen Verhandlung erklärte die Beklagte, dass die Befristung der Einreisesperre auf acht Jahre der gleichmäßigen Ermessenshandhabung der Beklagten entspreche. Die Kammer erachtet die Frist von acht Jahren im Hinblick auf die von dem Kläger ausgehenden Gefahren als angemessen, insbesondere verhältnismäßig.
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Einer künftigen positiven Entwicklung des Klägers - etwa durch eine erfolgreiche Alkohol- und Drogentherapie - kann ggf. durch eine nachträgliche Verkürzung des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 7 Abs. 2 Satz 8 FreizügG/EU Rechnung getragen werden (vgl. BVerwG, U.v. 25.3.2015 - 1 C 18.14 - DVBl 2015, 780 Rn. 22 ff.).
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4. Die Klage war nach alledem mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen.
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Die vorläufige Vollstreckbarkeit im Kostenpunkt beruht auf § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ZPO.