Inhalt

VG Würzburg, Urteil v. 08.06.2020 – W 8 K 20.30074
Titel:

keine andere Beurteilung durch Corona-Pandemie - Abschiebung

Normenketten:
VwGO § 80 Abs. 5, § 84 Abs. 4 , § 102 Abs. 2, § 113 Abs. 1, Abs. 5
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 5, § 71a, § 77 Abs. 2
EMRK Art. 3
Leitsätze:
1. Bezüglich einer möglichen COVID-19-Erkrankung fehlen für die Annahme des Vorliegens der Voraussetzungen des subsidiären Schutzes im Hinblick auf Nigeria jegliche Anhaltspunkte für die Annahme einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von § 3c AsylG i.V.m. § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG (Rn. 19 – 21) (redaktioneller Leitsatz)
2. Es ist zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt nicht hinreichend beachtlich wahrscheinlich, dass sich die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse in Nigeria totz der weltweiten COVID-19-Pandemie derart negativ entwickeln werden, dass von dem Vorliegen der Voraussetzungen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK ausgegangen werden kann. (Rn. 23 – 26) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
vorangegangener Gerichtsbescheid, Nigeria, unzulässiger Zweitantrag, Bedrohung durch Clan, keine zielstaatsbezogenen Abschiebungshindernisse, Bezugnahme auf Bundesamtsbescheid, auf Beschluss im Sofortverfahren und auf vorangegangenen Gerichtsbescheid, Änderung der Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung zu Gunsten des Klägers während des Gerichtsverfahrens, kein weiteres vertieftes Vorbringen im Klageverfahren, kein Erscheinen des Klägers in der mündlichen Verhandlung, keine andere Beurteilung durch Corona-Pandemie, Abschiebungshindernisse, Corona-Pandemie, Ausreiseaufforderung, Abschiebungsandrohung
Fundstelle:
BeckRS 2020, 12951

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Tatbestand

1
Der Kläger, nigerianischer Staatsangehöriger, verließ sein Heimatland nach eigenen Angaben im Jahr 2015 und hielt sich mehrere Jahre in Italien auf. In Italien wurde sein Asylantrag abgelehnt. Am 28. März 2019 stellte der Kläger einen weiteren Asylantrag in Deutschland. Zur Begründung seines Asylantrags brachte er im Wesentlichen vor: Er müsse ebenso wie sein Vater als Erstgeborener Mitglied eines Clans werden. Wegen seiner Weigerung sei er auch schon tätlich angegriffen und schwer verletzt worden. Er werde mit dem Tode bedroht.
2
Mit Bescheid vom 9. Januar 2020 hob das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge seinen Bescheid vom 23. April 2019 (Az. …) auf (Nr. 1) und lehnte den Antrag als unzulässig ab (Nr. 2). Weiter stellte es fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 3). Der Kläger wurde aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe der Entscheidung zu verlassen. Die Abschiebung nach Nigeria oder in einem anderen Staat wurde angedroht (Nr. 4). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG wurde angeordnet und auf 15 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 5). Zur Begründung ist im Wesentlichen ausgeführt: Der Asylantrag sei unzulässig, wenn im Falle eines Zweitantrages nach § 71a AsylG ein weiteres Asylverfahren nicht durchzuführen sei (§ 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG). Der Kläger habe keine neuen Gründe und Beweismittel vorgelegt. Er habe sich nur auf Sachverhalte berufen, die er schon in Italien vorgebracht habe oder hätte vorbringen können. Ihm sei es zuzumuten, sich in einem anderen Landesteil Nigerias niederzulassen. Weiter gebe es Hilfseinrichtungen sowie auch Rückkehr- und Starthilfen sowie Reintegrationsprogramme. Grundsätzlich sei davon auszugehen, dass für Rückkehrer in Nigeria die Möglichkeit bestehe, ökonomisch eigenständig allein zu leben und auch mit oder ohne Hilfe Dritter zu überleben. Der Kläger könne sich eine Existenz aufbauen, ohne dass etwaige Unterhaltsverpflichtungen gegenüber seinem Sohn dagegensprächen.
3
Am 15. Januar 2020 erhob der Kläger zu Protokoll des Urkundsbeamten Klage gegen den streitgegenständlichen Bescheid. Zur Begründung verwies der Kläger auf die beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vorgetragenen Gründe und führte weiter aus: Er sei im November telefonisch kontaktiert und erinnert worden, dass er den Platz seines Vaters einnehmen solle. Müsste er zurückgehen, würde seinem Sohn das gleiche Schicksal wie ihm drohen, wenn er alt genug wäre.
4
Mit Schriftsatz vom 23. März 2020 ließ der Kläger im Wesentlichen weiter vorbringen: Die Fluchtgründe des Klägers seien im Rahmen der nationalen Abschiebungsverbote aus humanitären Gründen zusätzlich zu werten und zu würdigen. Dem Kläger müsse insoweit gestattet werden, diese Gründe dem Gericht im Rahmen einer öffentlichen Verhandlung vorzutragen.
5
Die Beklagte beantragte mit Schriftsatz vom 16. Januar 2020,
die Klage abzuweisen.
6
Sie teilte mit: Im Hinblick auf die höchstrichterlich noch nicht geklärte Rechtsfrage, ob sich aus dem Urteil des EuGH vom 19. Juni 2018 ergebe, dass die Ausreisefrist noch nicht mit Bekanntgabe des Ablehnungsbescheides des Bundesamtes zu laufen beginnen dürfe, würde die im angefochtenen Bescheid verfügte Abschiebungsanordnung wie folgt geändert: „Der Antragsteller wird aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe der Ablehnung des Antrags nach § 80 Abs. 5 VwGO zu verlassen.“ Die zuständige Ausländerbehörde sei entsprechend informiert worden.
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Mit Beschluss vom 15. Januar 2020 übertrug die Kammer den Rechtsstreit dem Berichterstatter als Einzelrichter zur Entscheidung.
8
Mit Beschluss vom 20. Januar 2020 (W 8 S 20.30075) lehnte das Gericht im Sofortverfahren den Antrag des Klägers auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage ab.
9
Mit Beschluss vom 10. Februar 2020 lehnte das Gericht den Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung der (mittlerweile bestellten) Prozessbevollmächtigten ab.
10
Gegen einen vom Gericht mit Datum vom 5. März 2020 erlassenen Gerichtsbescheid ließ der Kläger mit Schriftsatz vom 23. März 2020 Antrag auf mündliche Verhandlung stellen.
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In der mündlichen Verhandlung am 8. Juni 2020, in der der Kläger nicht persönlich erschienen war, beantragte die Klägerbevollmächtigte,
die Nummern 2 bis 5 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 9. Januar 2020 aufzuheben;
hilfsweise festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegen;
hilfsweise das Einreise- und Aufenthaltsverbot auf Null Monate zu befristen.
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Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakte (einschließlich der Akte in der Sofortsache W 8 S 20.30075) und die Behördenakte Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Die Klage, über die entschieden werden konnte, obwohl nicht alle Beteiligten in der mündlichen Verhandlung erschienen sind (§ 102 Abs. 2 VwGO), ist zulässig, aber unbegründet.
14
Der angefochtene Bescheid ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 und Abs. 5 VwGO), weil ein unzulässiger Zweitantrag gemäß § 71a AsylG i.V.m. § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG vorliegt und keine zielstaatsbezogenen Abschiebungshindernisse nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG bestehen.
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Im Einzelnen folgt das Gericht seiner Begründung im Gerichtsbescheid vom 5. März 2020 (§ 84 Abs. 4 VwGO) sowie den Feststellungen und der Begründung im angefochtenen Bescheid und sieht zur Vermeidung von Wiederholung von einer nochmaligen Darstellung ab (§ 77 Abs. 2 AsylG). Des Weiteren nimmt das Gericht auf seinen Beschluss im Sofortverfahren (VG Würzburg, B.v. 20.1.2020 - W 8 S 20.30075 - juris) Bezug, in dem es das klägerische Vorbringen schon ausführlich gewürdigt hat.
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Der Kläger hat im gerichtlichen Verfahren, insbesondere auch nach Ergehen des ihm betreffenden Beschlusses im Sofortverfahren bzw. nach Erlass des Gerichtsbescheides, keine weiteren Gesichtspunkte vorgebracht, die eine andere Beurteilung rechtfertigen. Solche Gründe sind auch sonst nicht ersichtlich, da erübrigt sich weitergehende Ausführungen zu den Entscheidungsgründen.
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Ergänzend wird nur angemerkt, dass das Gericht in seinen Entscheidungen schon miteinbezogen hat, dass der Kläger gegebenenfalls mit seiner Frau und seinem Kind gemeinsam zurückkehrt und dass er sich abseits seiner bisherigen Heimatgegend eine neue Existenz aufbauen muss.
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An der Beurteilung ändert des Weiteren auch die weltweite COVID-19-Pandemie nichts.
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Zunächst ist festzuhalten, dass deswegen kein weiteres Asylverfahren mit einer erneuten sachlichen Prüfung des Asylantrags zu erfolgen hat. Denn dies wäre nur der Fall, wenn ein schlüssiger Vortrag vorliegen würde, der eine für den Kläger günstigere Entscheidung möglich erscheinen ließe. Hieran fehlt es aber, da der Kläger bezogen auf die COVID-19-Pandemie und deren Folgen konkret für seine Person auch nicht nur ansatzweise substanziiert hat, dass und inwieweit ihm persönlich zum jetzigen Zeitpunkt insofern eine konkrete Gefahr mit beachtlicher bzw. hoher Wahrscheinlichkeit drohen könnte.
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Laut den allgemein zugänglichen Quellen gibt es indes in Nigeria im maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt 12.486 (Deutschland 185.853) bestätigte Corona-Fälle; davon sind 3.959 (Deutschland 169.094) Personen genesen; außerdem gibt es 354 (Deutschland 8.776) Todesfälle (Stand: 8.6.2020; siehe etwa Nigeria Centre for Disease Control https://covid19.ncdc.gov.ng/ oder https://www.worldometers.info/coronavirus/country/nigeria/). Jedoch bleibt der nigerianische Staat nicht tatenlos, wobei in den einzelnen Bundesstaaten unterschiedliche Maßnahmen getroffen werden (vgl. BFA, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Kurzinformation der Staatendokumentation Afrika, Covid-19 - aktuelle Lage vom 23.3.2020, S. 2). So gelten angesichts der Corona-Pandemie in Nigeria in bestimmten Landesteilen bzw. Staaten - gerade in Hotspots - teilweise strenge bzw. strengere Ausgangssperren und Quarantäneregelungen, die von den nigerianischen Sicherheitskräften auch überwacht werden. Die Regierung hat hingegen mittlerweile etwa die Ausgangssperre für Lagos und Abuja wieder aufgehoben, allerdings an anderen Stellen (etwa in Kano) verlängert und erweitert (vgl. Handelsblatt vom 2.6.2020, https://www.handelsblatt.com/politik/international/pandemie-das-coronavirus-verschaerft-die-wirtschaftlichen-und-sozialen-probleme-afrikas/25873896.html; New York Times vom 17.5.2020, https://www.nytimes.com/2020/05/17/world/africa/coronavirus-kano-nigeria-hotspot.html; ferner n-tv.de vom 15.4.2020, https://www.n-tv.de/panorama/Corona-Krise-entfacht-Gewalt-in-Nigeria-article21716861.html oder merkur.de vom 16.4.2020 https://www.merkur.de/welt/coronavirus-afrika-news-nigeria-suedafrika-uganda-katastrophe-experte-warnung-pandemie-covid-19-who-zr-13606904.html).
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Dem Gericht fehlen vor diesem Hintergrund jegliche Anhaltspunkte für die Annahme des Vorliegens der Voraussetzungen des subsidiären Schutzes, weil nicht ersichtlich ist, dass - bezogen auf eine mögliche COVID-19-Erkrankung - eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung einem Akteur im Sinne von § 3c AsylG i.V.m. § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG zugeordnet werden kann.
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Ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung nach Nigeria ergeben sich nach Vorstehendem des Weiteren nicht im Hinblick auf die Verneinung des Vorliegens der Voraussetzungen etwaiger Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 bzw. 7 Satz 1 AufenthG durch das Bundesamt.
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Insbesondere rechtfertigt die weltweite COVID-19-Pandemie keine andere Sichtweise in Bezug auf das Vorliegen etwaiger Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 bzw. 7 Satz 1 AufenthG.
24
Auch wenn sich die wirtschaftliche Situation in Nigeria aufgrund der Auswirkungen der COVID-19-Pandmie verschlechtert (vgl. auch Handelsblatt vom 2.6.2020, https://www.handelsblatt.com/politik/international/pandemie-das-coronavirus-verschaerft-die-wirtschaftlichen-und-sozialen-probleme-afrikas/25873896.html), hält es das Gericht zum jetzigen maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt nicht für hinreichend beachtlich wahrscheinlich, dass sich die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse derart negativ entwickeln werden, dass von einer grundsätzlich abweichenden Beurteilung der Voraussetzungen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK ausgegangen werden kann. Schlechte humanitäre Verhältnisse können dabei nur in ganz außergewöhnlichen Fällen zu einer Verletzung von Art. 3 EMRK führen, nämlich dann, wenn es sich hierbei um zwingende humanitäre Gründe handelt (vgl. OVG NRW, U.v. 24.3.2020 - 19 A 4470/19.A - juris m.w.N.). Aus der Rechtsprechung des EGMR (U.v. 28.6.2011 - Nr. 8319/07 und 11449/07 - BeckRS 2012, 8036 - Rn. 278) und des Bundesverwaltungsgerichts (B.v. 13.2.2019 - 1 B 2.19 - juris; U.v. 31.1.2013 - 10 C 15.12 - BVerwGE 146, 12) ergibt sich, dass die Annahme einer unmenschlichen Behandlung allein durch die humanitäre Lage und die allgemeinen Lebensbedingungen ein sehr hohes Gefährdungsniveau voraussetzt. Nur dann liegt ein außergewöhnlicher Fall vor, in dem die gegen die Aufenthaltsbeendigung sprechenden humanitären Gründe zwingend sind. Entscheidend ist, dass die Person keiner Situation extremer materieller Not ausgesetzt wird, die es ihr unter Inkaufnahme von Verelendung verwehrt elementare Bedürfnisse zu befriedigen.
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Für den Eintritt einer dahingehenden Verschlechterung der humanitären Verhältnisse in Nigeria fehlen dem Gericht zum jetzigen Entscheidungszeitpunkt (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Hs. 2 AsylG) greifbare Anhaltspunkte. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass gerade hinsichtlich der wirtschaftlichen Folgen der COVID-19-Pandemie ein Gegensteuern des nigerianischen Staates erkennbar ist. So wurde ein Notfallfonds für das „Nigeria Centre for Disease Control“ eingerichtet, ebenso wie Konjunkturpakete, um die Auswirkungen für Haushalte und Betriebe zu lindern (https://www.theafricareport.com/26444/coronavirus-recession-in-nigeria-likely-despite-measures-in-place/; vom 20.4.2020, zuletzt abgerufen am 8.6.2020). Darüber hinaus hat der internationale Währungsfonds Soforthilfen für Nigeria in Höhe von 3,4 Milliarden US-Dollar gewährt (https://www.imf.org/en/News/Articles/2020/04/28/pr20191-nigeria-imf-executive-board-approves-emergency-support-to-address-covid-19; vom 28.4.2020, zuletzt abgerufen am 8.6.2020). Das Gericht geht zudem davon aus, dass gerade der für viele Nigerianer als Einnahmequelle bedeutende informelle Sektor nach dem Aufheben der vorübergehenden, nicht landesweit gleich strikten und im Übrigen bereits wieder gelockerten Ausgangsbeschränkungen (vgl. etwa https://www.africanews.com/2020/06/01/nigeria-coronavirus-hub-updates-covid-19/, zuletzt abgerufen am 8.6.2020; https://www.kas.de/de/laenderberichte/detail/-/content/nigeria-seit-vier-wochen-im-lockdown; 29.4.2020, zuletzt abgerufen am 8.6.2020) auch dem Kläger wieder zur Verfügung stehen wird (vgl. Handelsblatt vom 2.6.2020, https://www.handelsblatt.com/politik/international/pandemie-das-coronavirus-verschaerft-die-wirtschaftlichen-und-sozialen-probleme-afrikas/25873896.html).
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Entsprechendes gilt auch im Hinblick auf das Vorliegen der Voraussetzungen für ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG aufgrund der COVID-19-Pandemie.
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Zunächst ist insoweit festzustellen, dass der Kläger mangels entgegenstehender Anhaltspunkte nicht mit dem neuartigen SARS-CoV-2 („Coronavirus“) infiziert ist bzw. nicht an der hierdurch hervorgerufenen Ekrankung COVID-19 leidet.
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Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Gemäß § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG sind Gefahren nach Satz 1, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen. Nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG kann die oberste Landesbehörde aus völkerrechtlichen oder humanitären Gründen oder zur Wahrung politischer Interessen der Bundesrepublik Deutschland anordnen, dass die Abschiebung von Ausländern aus bestimmten Staaten oder von in sonstiger Weise bestimmten Ausländergruppen allgemein und in bestimmte Staaten für längstens drei Monate ausgesetzt wird.
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Die derzeitige COVID-19-Pandemie stellt in Nigeria mangels einer solchen Abschiebestopp-Anordnung allenfalls eine allgemeine Gefahr dar, die aufgrund der Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG grundsätzlich nicht rechtfertigen kann. Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG kommt ausnahmsweise nur dann in Betracht, wenn es zur Vermeidung einer verfassungswidrigen Schutzlücke, d.h. zur Vermeidung einer extremen konkreten Gefahrenlage erforderlich ist (vgl. etwa BVerwG, 24.6.2008 - 10 C 43/07 - juris; Dollinger in Bergmann/Dienelt, Ausländerecht, 13. Auflage 2020, § 60 AufenthG, Rn. 100 m.w.N.). Die drohende Gefahr, dass der Kläger sich in Nigeria mit dem SARS-CoV-2-Virus infiziert, muss nach Art, Ausmaß und Intensität von einem solchen Gewicht sein, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für den Ausländer die begründete Furcht ableiten lässt, selbst in erheblicher Weise ein Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden. Die Gefahren müssen dem Ausländer mit hoher Wahrscheinlichkeit drohen. Nach diesem hohen Wahrscheinlichkeitsgrad muss eine Abschiebung dann ausgesetzt werden, wenn der Ausländer ansonsten „gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde“ (vgl. BVerwG, U.v. 12.7.2001 - 1 C 5.01 - BVerwGE 115, 1 m.w.N. - juris). Schließlich müssen sich diese Gefahren alsbald nach der Rückkehr realisieren. Das bedeutet nicht, dass im Falle der Abschiebung der Tod oder schwerste Verletzungen sofort, gewissermaßen noch am Tag der Abschiebung, eintreten müssen. Vielmehr besteht eine extreme Gefahrenlage beispielsweise auch dann, wenn der Ausländer mangels jeglicher Lebensgrundlage den baldigen sicheren Hungertod ausgeliefert werden würde (vgl. BVerwG, U.v. 29.9.2011 - 10 C 24.10 - juris sowie VG Cottbus, B.v. 29.5.2020 - 9 L 226/20.A - juris mit Bezug auf VG Bayreuth, U.v. 21.4.2020 - B 8 K 17.32211; OVG NRW - U.v. 24.3.2020 - 19 A 4470/19.A - juris m.w.N.; vgl. auch schon VG Würzburg, B.v. 4.6.2020 - W 8 S 20.30546; B.v. 28.5.2020 - W 8 S 20.30558, G.v. 14.5.2020 - W 8 K 20.30421; U.v. 6.5.2020 - W 8 S 20.30493; B.v. 17.4.2020 - W 8 S 20.30448 - juris; B.v. 27.3.2020 - W 8 S 20.30378).
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Eine solche extreme, konkrete Gefahrenlage ist vorliegend für den Kläger im Hinblick auf die Verbreitung des „Coronavirus“ für das Gericht derzeit nicht erkennbar. Der ca. 25 Jahre alte Kläger ohne relevante Vorerkrankungen gehört nicht zu der Personengruppe mit einem höheren Risiko für einen schweren, möglicherweise lebensbedrohlichen Verlauf der COVID-19 Erkrankung (vgl. RKI, Informationen und Hilfestellungen für Personen mit einem höheren Risiko für einen schweren COVID-19-Krankheitsverlauf; abrufbar unter https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Risikogruppen.html; Stand: 13.5.2020; zuletzt abgerufen am 8.6.2020). Unter Berücksichtigung der oben aufgeführten tagesaktuellen Fallzahlen und des damit einhergehenden Ansteckungsrisikos besteht in Nigeria derzeit nach dem oben genannten Maßstab keine hohe Wahrscheinlichkeit eines schweren oder tödlichen Verlaufs der Erkrankung für die Personengruppe, welcher der Kläger angehört. Er muss sich letztlich, wie hinsichtlich etwaiger anderer Erkrankungen, wie etwa Malaria, bei der die Wahrscheinlichkeit einer Ansteckung um ein Vielfaches höher liegt als bei dem „Coronavirus“ (vgl. OVG NRW, U.v. 24.3.2020 - 19 A 4479/19.A - juris; VG Karlsruhe, U.v. 26.2.2020 - A 4 K 7158/18 - juris), im Bedarfsfalle auf die Möglichkeiten des - zugegebenermaßen mangelhaften - nigerianischen Gesundheits- und Sozialsystems (vgl. BFA, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Nigeria, Stand: 18.12.2019, S. 48 ff. und 51 ff.; Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria, Stand: September 2019, vom 16.1.2020, S. 22 ff.) verweisen lassen.
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Des Weiteren ist festzuhalten, dass die Ansteckungsgefahr mit dem „Coronavirus“ auch in Nigeria nicht in allen Landesteilen gleich hoch ist. Vielmehr gibt es erhebliche regionale Unterschiede (vgl. BFA, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Kurzinformation der Staatendokumentation Afrika, Covid-19 - aktuelle Lage vom 23.3.2020, S. 2; New York Times vom 17.5.2020, https://www.nytimes.com/2020/05/17/world/africa/coronavirus-kano-nigeria-hotspot.html) beim Risiko, angesteckt zu werden. Darüber hinaus bestehen - wie auch in anderen Staaten, wie etwa in Deutschland - individuell persönliche Schutzmöglichkeiten, wie das Tragen einer Gesichtsmaske oder die Wahrung von Abstand zu anderen Personen, um das Risiko einer Ansteckung durch eigenes Verhalten zu minimieren.
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Gegebenenfalls kann der Kläger auch auf private Hilfsmöglichkeiten oder Hilfsorganisationen zurückgreifen, sodass er nicht völlig mittellos wäre und sich in Nigeria etwa auch mit Medikamenten oder Gesichtsmasken versorgen könnte. Abgesehen davon könnten dem Kläger bei Bedarf auch Medikamente oder Gesichtsmasken für eine Übergangszeit mitgegeben werden (vgl. OVG NRW, U.v. 24.3.2020 - 19 A 4470/19.A - juris; BayVGH, B.v. 10.10.2019 - 19 CS 19.2136).
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Wie schon ausgeführt hat das Gericht weiter keine triftigen Anhaltspunkte, geschweige denn konkrete Belege, dass die Lebensverhältnisse und die humanitären Lebensbedingungen in Folge der Covid-19-Pandemie in Nigeria in der Weise verschlechtert hätten oder alsbald verschlechtern würden, dass generell für jeden Rückkehrer eine extreme Gefahr im oben zitierten Sinn mit hoher Wahrscheinlichkeit drohen würde. Gerade angesichts der regionalen Unterschiede und dem unterschiedlichen Vorgehen der einzelnen Bundesstaaten bestehen weiterhin ausreichende Möglichkeiten, sich ein Existenzminimum zu erwirtschaften, so dass eine Rückkehr nach Nigeria zumutbar ist. Dies gilt auch unter Einbeziehung einer möglichen Rückkehr des Klägers zusammen mit Frau und Kind.
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Denn es gibt keine belastbaren Anhaltspunkte dafür, dass sich Wirtschaft und Versorgungslage der Bevölkerung trotz internationaler humanitärer Hilfe, trotz Gegensteuerns des nigerianischen Staates und trotz lokaler Hilfsbereitschaft infolge der Pandemie derart verschlechtern würde, dass der Kläger nicht mehr in der Lage wäre, den Lebensunterhalt für sich und gegebenenfalls seine Frau und Kind in Nigeria sicherzustellen (ebenso VG Cottbus, B.v. 29.5.2020 - 9 L 226/20.A - juris).
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Das Gericht verkennt - auch unter Berücksichtigung der COVID-19-Pandemie - nicht die mitunter schwierigen Lebensverhältnisse in Nigeria. Diese betreffen jedoch nigerianische Staatsangehörige in vergleichbarer Lage in gleicher Weise.
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Die Kostenentscheidung beruht Auf § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG.