Titel:
Räum- und Streupflicht für selbstständige Geh- und Radwege
Normenketten:
VwGO § 43
BayStrWG Art. 51, Art. 53 Nr. 2
RSV § 2 Abs. 2a, § 9
Leitsätze:
1. Die Gemeinden können Sicherungspflichten für Gehwege an öffentlichen Straßen gegen Schnee und Glatteis auf die anliegenden Grundstückseigentümer durch Rechtsverordnung übertragen. (Rn. 20) (redaktioneller Leitsatz)
2. Das Bayerische Straßen- und Wegegesetz enthält keine Ermächtigung, Sicherungspflichten in Bezug auf Gefahren durch Schnee und Glatteis auf die Grundstückseigentümer abzuwälzen, soweit es selbstständige Gehwege betrifft. (Rn. 21 – 24) (redaktioneller Leitsatz)
3. Die fehlende gesetzliche Grundlage für die Abwälzung führt dazu, dass die Sicherungspflichten für selbstständige Geh- und Radwege bei der Gemeinde verbleiben. (Rn. 25) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Feststellungsklage, Fehlende Ermächtigungsgrundlage für Räum- und Streupflicht von Anliegern selbständiger Gehwege, Gehweg, Radweg, Anlieger, Ermächtigungsgrundlage, Räum- und Streupflicht
Fundstelle:
BeckRS 2020, 12943
Tenor
I. Es wird festgestellt, dass keine Verpflichtung der Klägerin zur Reinigung- und Sicherung bezogen auf die Straße „…steig“, FlNr. … Gemarkung …, besteht.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Klägerin vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
1
Die Beteiligten streiten über das Bestehen einer Räum- und Streupflicht der Klägerin für einen am Grundstück der Klägerin entlanglaufenden Fußweg.
2
Die Klägerin ist Eigentümerin des Grundstücks FlNr. … der Gemarkung … Das Grundstück der Klägerin liegt an der …-Straße und am …steig an, der die …-Straße mit der …-Straße verbindet. Der …steig ist als beschränkt öffentlicher Weg mit der Widmungsbeschränkung „nur für Fußgänger“ gewidmet. Der Weg führt vom Anwesen der Klägerin steil nach oben bis zur …-Straße, ist ca. 60 m lang und verfügt über 66 Stufen.
3
In mehreren Schreiben, zuletzt vom 3. Februar 2019, teilte die Beklagte der Klägerin mit, dass sie als Anliegerin des …steigs räum- und streupflichtig sei.
4
Die Klägerin widersprach dem und stellte hilfsweise Antrag auf Befreiung von dieser Verpflichtung, dem die Beklagte nicht entsprochen hat.
5
Mit bei Gericht per Fax am 15. Juli 2019 eingegangenem Schreiben ihrer Prozessbevollmächtigten hat die Klägerin Klage erhoben.
6
Das klägerische Grundstück verfüge über keine Zufahrt zum …steig. Außerdem sei jedenfalls eine Befreiung von der Reinigungs- und Sicherungspflicht zu erteilen, weil diese eine besondere Härte für die Klägerin darstelle.
7
Die Klägerin beantragt zuletzt,
8
I. Es wird festgestellt, dass keine Verpflichtung der Klägerin zur Reinigung und Sicherung bezogen auf die Straße „…steig“ besteht.
9
II. Die Beklagte wird verpflichtet, die Klägerin von der Reinigungs- und Sicherungspflicht bezogen auf die Straße „…steig“ zu befreien,
10
die Beklagte zu verpflichten, unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts über den Antrag der Klägerin auf Befreiung von den Reinigungs- und Sicherungspflichten bezogen auf die Straße „…steig“ erneut zu entscheiden.
11
Die Beklagte beantragt,
12
die Klage in Haupt- und Hilfsantrag abzuweisen.
13
Sie verweist auf Art. 51 Abs. 4 und 5 BayStrWG und ihre VO über die Reinhaltung und Reinigung der öffentlichen Straßen und der Sicherung der Gehbahnen im Winter in der Stadt … (VO).
14
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtssowie die Behördenakte Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
15
I. Die Klage ist im Hauptantrag (Ziffer I) zulässig und begründet.
16
Für die Klägerin besteht hinsichtlich des beschränkt öffentlichen Weges „…steig“ keine Sicherungspflicht nach § 9 der Reinigungs- und Sicherungsverordnung der Beklagten.
17
18
Eine solche Sicherungspflicht der Klägerin folgt nicht aus § 9 i.V.m. § 2 Abs. 2 Buchst. a VO der Beklagten. Zwar können die Gemeinden grundsätzlich anliegende Grundeigentümer zur Sicherung öffentlicher Straßen verpflichten (1.), dies gilt mangels gesetzlicher Ermächtigung jedoch nicht für selbstständige Gehwege (2.).
19
1. Nach Art. 51 Abs. 1 Satz 1 BayStrWG liegt die Sicherungspflicht für die öffentlichen Straßen innerhalb der geschlossenen Ortslage grundsätzlich bei den Gemeinden. Sie sind nach ihrer Leistungsfähigkeit dazu verpflichtet, die öffentlichen Straßen zu beleuchten, zu reinigen, von Schnee zu räumen und alle gefährlichen Fahrbahnstellen, die Fußgängerüberwege und die Gehbahnen bei Glätte zu streuen, wenn das dringend erforderlich ist und nicht andere auf Grund sonstiger Rechtsvorschriften hierzu verpflichtet sind.
20
Soweit es die Sicherungspflicht gegen Schnee und Glatteis betrifft, können die Gemeinden nach Art. 51 Abs. 5 BayStrWG zur Verhütung von Gefahren für die im Gesetz genannten Individualrechtsgüter die Sicherungspflichten auf den in Art. 51 Abs. 4 genannten Personenkreis durch Rechtsverordnung übertragen. Der Sache nach übertragen können die Gemeinden die Sicherung der Gehwege sowie der gemeinsamen Geh- und Radwege der an ihr Grundstück angrenzenden oder ihr Grundstück erschließenden öffentlichen Straßen oder, wenn kein Gehweg oder gemeinsamer Geh- und Radweg besteht, der öffentlichen Straße selbst in der für den Fußgängerverkehr erforderlichen Breite. Aus dem Gesetzestext unmittelbar folgt demnach, dass durch Rechtsverordnung nach Art. 51 Abs. 5 BayStrWG Sicherungspflichten in Bezug auf unselbstständige gemeinsame Geh- und Radwege und - eingeschränkt - Straßen ohne Gehwege übertragen werden können.
21
2. Art. 51 Abs. 5 BayStrWG enthält hingegen keine Ermächtigung, auf die in Art. 51 Abs. 4 BayStrWG bezeichneten Personen Sicherungspflichten in Bezug auf Gefahren durch Schnee und Glatteis abzuwälzen, soweit es selbstständige Gehwege betrifft.
22
Art. 51 Abs. 5 Satz 1 BayStrWG bezieht die gemeindliche Übertragungsmöglichkeit auf „die Gehwege sowie die gemeinsamen Geh- und Radwege der an ihr Grundstück angrenzenden oder ihr Grundstück erschließenden öffentlichen Straßen“ bzw. - soweit überhaupt kein Gehweg vorhanden ist - auf die Straße selbst in eingeschränkter Breite.
23
Die letztgenannte Formulierung erfasst selbstständige Gehwege ersichtlich nicht, da unter einer Straße, an der kein Gehweg oder gemeinsamer Geh- und Radweg besteht, ein selbstständiger Gehweg eindeutig nicht subsumiert werden kann. Denn das Gesetz geht gerade davon aus, dass kein Gehweg vorhanden ist.
24
Aus der Formulierung „die Gehwege (…) der öffentlichen Straßen“ wird wiederum deutlich, dass nach der Vorstellung des Gesetzgebers neben dem Gehweg noch eine Straße vorhanden sein muss. Würde man mit der Ansicht der Beklagten die selbstständigen Geh- und Radwege (Art. 53 Nr. 2 BayStrWG) hierunter fassen, ergäbe die Formulierung in Art. 51 Abs. 5 Satz 1 BayStrWG mit ihrer Genitiv-Konstruktion grammatikalisch keinen Sinn. Denn ein selbstständiger Gehweg ist in Art. 53 Nr. 2 BayStrWG gerade als ein Gehweg definiert, der nicht Bestandteil einer Straße ist. Ein Gehweg der nicht Bestandteil einer Straße ist, kann aber konsequenterweise kein „Gehweg (…) der (…) öffentlichen Straßen“ sein.
25
Die fehlende gesetzliche Grundlage für eine Abwälzung führt dazu, dass die betreffenden Sicherungspflichten bei der Gemeinde verbleiben (BayVGH v. 4.4.2007 - 8 B 05.3195). Ebenso wie bei den kombinierten Geh- und Radwegen, die der zitierten Entscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs zu Grunde lagen, fehlt es im vorliegenden Fall an einer Entscheidung des Gesetzgebers, für selbstständige Gehwege ebenfalls eine Abwälzungsmöglichkeit zu schaffen. Die von der Beklagten angeführten Wertungsgesichtspunkte mögen bei der gesetzgeberischen Entscheidung hierzu relevant sein, sie führen aber für sich genommen nicht auf eine - hier fehlende - Ermächtigung bzw. können eine fehlende ausdrückliche Ermächtigung nicht ersetzen.
26
§ 9 i.V.m. § 2 Abs. 2 Buchst. a RSV ist daher mangels Ermächtigungsgrundlage nichtig, soweit die Regelung eine Abwälzung der Sicherungspflichten für selbstständige Gehwege begründet. Die Klägerin ist daher für den „…steig“ weder räum- noch streupflichtig.
27
II. Die Klage war daher im Hauptantrag begründet, so dass es einer Entscheidung über die Hilfsanträge (Befreiungsantrag - Ziffer II. ist hier sinngemäß als Hilfsantrag auszulegen) nicht mehr bedurfte. Die Beklagte trägt als Unterlegene die Kosten des Verfahrens (§ 154 Abs. 1 VwGO). Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.