Inhalt

LG Memmingen, Endurteil v. 05.06.2020 – 25 O 1690/19
Titel:

Schadensersatz aufgrund des Erwerbs eines vom sogenannten Abgasskandal betroffenen Fahrzeugs (hier: Seat Leon 1,6 TDI)

Normenketten:
ZPO § 32
BGB § 31, § 204 Abs. 1 Nr. 1a, § 826
Leitsätze:
1. Zur VW-Abgasskandal-Thematik vgl. grundlegend BGH BeckRS 2020, 10555; vgl. auch OLG München BeckRS 2020, 34041; BeckRS 2020, 34151; BeckRS 2020, 34153; OLG Bamberg BeckRS 2020, 33045; BeckRS 2020, 33157; sowie die Aufzählung ähnlich gelagerter VW-Diesel-Fälle bei OLG München BeckRS 2020, 25691 (dort Ls. 1); OLG München BeckRS 2020, 27215 (dort Ls. 1); OLG Köln BeckRS 2019, 42328 (dort Ls. 1); OLG Koblenz BeckRS 2020, 14352 (dort Ls. 1), OLG Stuttgart BeckRS 2020, 7002 (dort Ls. 1), OLG Jena BeckRS 2020, 8618 (dort Ls. 1), OLG Oldenburg BeckRS 2020, 6234 (dort Ls. 1) und KG BeckRS 2019, 29883 (dort Ls. 5); mit gegenteiligem Ergebnis noch: OLG München BeckRS 2019, 33738; BeckRS 2019, 33753; OLG Braunschweig BeckRS 2019, 2737. (redaktioneller Leitsatz)
2. Dem Käufer eines vom Diesel-Abgasskandal erfassten Fahrzeugs steht gegen die Herstellerin des Motors ein Schadensersatzanspruch aus §§ 826, 31 BGB auf Erstattung des für den Erwerb des Fahrzeugs aufgewandten Kaufpreises abzüglich Vorteilsausgleich für die Nutzung Zug um Zug gegen Übereignung und Herausgabe des Fahrzeugs zu. (Rn. 33) (redaktioneller Leitsatz)
3. Eine im Dezember 2019 erhobene Klage unterliegt nicht der Verjährung, wenn der Käufer die Verjährung durch Anmeldung seiner Ansprüche zur Musterfeststellungsklage am 28.12.2018 gehemmt und seine Anmeldung am 30.09.2019 zurückgenommen hatte. (Rn. 34) (redaktioneller Leitsatz)
4. Zu typischen Detailfragen aus VW-Dieselfällen hier: Annahmeverzug; Gesamtlaufleistung 200.000 km; Geschäftsgebühr von 1,3, da die Klägervertreter neben dem Kläger eine Vielzahl von Käufern in Parallelverfahren vertreten haben; keine Deliktszinsen. (Rn. 35, 65, 69 und 71 – 72) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Diesel-Abgasskandal, Eigentumsanwartschaft, Abschalteinrichtung, Schadensersatz, Rückzahlung des Kaufpreises, EA 189, EG-Typgenehmigung, Umschaltlogik, sekundäre Darlegungslast, Stickoxid
Fundstelle:
BeckRS 2020, 12797

Tenor

1. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klagepartei 5.628,37 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz ab dem 14.11.2019 Zug-um-Zug gegen Übereignung und Herausgabe des Fahrzeugs Seat Leon 1,6 TDI mit der Fahrgestellnummer ... zu zahlen.
2. Es wird festgestellt, dass sich die Beklagte mit der Annahme des in Ziffer 1 näher bezeichneten Fahrzeugs seit dem 14.11.2019 in Verzug befindet.
3. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger als Ersatz für die vorgerichtlichen Kosten seiner Prozessbevollmächtigten 650,34 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 14.11.2019 zu zahlen.
4. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen,
5. Von den Kosten des Rechtsstreits haben der Kläger 2/3 und die Beklagte 1/3 zu tragen.
6. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar, für den Kläger jedoch nur gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrags. Der Kläger kann die Vollstreckung der Beklagten durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrags leistet.
7. Der Streitwert wird auf 13.000,00 € festgesetzt.

Tatbestand

1
Die Parteien streiten um deliktische Schadensersatzansprüche der Klagepartei aus dem Erwerb eines vom Rückruf des Kraftfahrtbundesamts (Bescheid vom 15.10.2015) betroffenen Seat-Markenfahrzeugs.
2
Am 07.06.2012 erwarb die Klagepartei bei dem Händler ... den von der Seat AG hergestellten Gebrauchtwagen Seat Leon 1,6 TDI mit der Fahrzeugidentifikationsnummer ... zum Kaufpreis von 13.000 € brutto. Den Kaufpreis finanzierte der Kläger über ein mittlerweile zurückgeführtes Darlehen seiner Mutter. Wegen der Einzelheiten wird auf die als Anlage K1 vorgelegten Kaufunterlagen verwiesen.
3
Bei der Übergabe an die Klagepartei hatte das Fahrzeug eine Laufleistung von 17.700 km. Im Zeitpunkt des Schlusses der mündlichen Verhandlung belief sich dessen Laufleistung auf 121.073 km.
4
Das Auto war bei seiner Auslieferung und auch noch bei der Übergabe an die Klagepartei mit einem von der Beklagten hergestellten Dieselmotor des Typs EA189 ausgestattet. Für den Fahrzeugtyp wurde die Typgenehmigung nach der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 mit der Schadstoffklasse Euro 5 erteilt.
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Die im Zusammenhang mit dem Motor verwendete Software erkannte, ob das Fahrzeug auf einem Prüfstand dem Neuen Europäischen Fahrzyklus (NEFZ) unterzogen wird und schaltete in diesem Fall in den Abgasrückführungsmodus 1, einen Stickoxid (NOx)-optimierten Modus. In diesem Modus fand eine Abgasrückführung mit niedrigem Stickoxidausstoß statt. Im normalen Fahrbetrieb außerhalb des Prüfstands schaltete der Motor dagegen in den Abgasrückführungsmodus 0, bei dem die Abgasrückführungsrate geringer und der Stickoxidausstoß höher war. Für die Erteilung der Typgenehmigung der Emissionsklasse Euro 5 maßgeblich war der Stickoxidausstoß auf dem Prüfstand. Die Stickoxidgrenzwerte der Euro 5-Norm wurden nur im Abgasrückführungsmodus 1 eingehalten.
6
Im September 2015 räumte die Beklagte öffentlich die Verwendung einer entsprechenden Software ein. Unter dem 15. Oktober 2015 erging gegen sie ein bestandskräftiger Bescheid des Kraftfahrtbundesamts mit nachträglichen Nebenbestimmungen zur Typgenehmigung, der auch das Fahrzeug der Klagepartei betraf.
7
In Umsetzung der Vorgaben des Kraftfahrtbundesamts bot die Beklagte für die betroffenen Fahrzeuge das Aufspielen eines Software-Updates an, nach dem der Motor nur noch in einem angepassten Modus 1 lief. In Fahrzeuge mit einem 1,6 Liter Motor wurde zudem ein Strömungstransformator eingebaut.
8
Die Maßnahmen der Beklagten wurden auch für das Modell der Klagepartei vom Kraftfahrtbundesamt freigegeben.
9
Die Klagepartei ließ ihr Fahrzeug entsprechend überarbeiten.
10
Am 29.12.2018 meldete die Klagepartei ihre Ansprüche zur beim Oberlandesgericht Braunschweig gegen die Beklagte rechtshängig gemachten Musterfeststellungsklage 4 MK 1/18 an.
11
Mit am 30.09.2019 beim Bundesamt für Justiz eingegangener Erklärung nahm die Klagepartei ihre Anmeldung zurück.
12
Mit Rechtsanwaltsschreiben vom 30.10.2019 ließ die Klagepartei der Beklagten eine außergerichtliche Zahlungsaufforderung zukommen.
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Die Klage vom 15.11.2019 ging am selben Tag beim Landgericht Memmingen ein. Sie wurde der Beklagten am 21.12.2019 zugestellt.
14
Die Klagepartei macht im Kern folgendes geltend, wobei wegen der Einzelheiten auf die Ausführungen in der Klageschrift vom 15.11.2019 (Bl. 1/95 d.A.), dem Schriftsatz vom 10.03.2020 (Bl. 163/165 d.A.) und die Replik vom 10.03.2020 (Bl. 166/271 d.A.) Bezug genommen wird:
15
Die von der Beklagten verwendete Motorsteubrungssoftware sei eine unzulässige Abschalteinrichtung, durch deren Einsatz die Beklagte die Klagepartei vorsätzlich und in einer gegen die guten Sitten verstoßenden Weise geschädigt habe.
16
Die Beklagte habe veranlasst, dass der Motor EA189 auch in Fahrzeuge der Herstellerin Seat AG eingebaut wurde.
17
Die Klagepartei, die durch den Einsatz der unzulässigen Abschalteinrichtung den Verlust der Zulassung ihres Fahrzeugs zu befürchten gehabt habe, hätte das Fahrzeug nicht erworben, wenn sie von deren Einsatz Kenntnis gehabt hätte.
18
Die von der Beklagten vorgenommenen Maßnahmen seien nicht geeignet, den am Fahrzeug der Klagepartei fortbestehenden Mangel zu beseitigen. Vielmehr brächten sie andere Nachteile mit sich.
19
Die Beklagte habe die Klagepartei so zu stellen, als hätte sie das gegenständliche Fahrzeug nicht gekauft.
20
Eine Nutzungsentschädigung sei vom bezahlten Kaufpreis nicht in Abzug zu bringen. Jedenfalls betrage die Gesamtlaufleistung des von der Klagepartei erworbenen Fahrzeugs mindestens 300.000 km.
21
Die Klagepartei beantragt:
1. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klagepartei 13.000,00 € nebst Zinsen in Höhe von 4 Prozent seit dem 07.03.2012 bis 13.11.2019 und seither fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz abzüglich einer im Termin zu beziffernden Nutzungsentschädigung Zug-um-Zug gegen Rückgabe und Übereignung des Fahrzeugs mit der Fahrgestellnummer ... zu zahlen.
2. Es wird festgestellt, dass sich die Beklagte seit dem 14.11.2019 mit der Annahme des in Klageantrag zu 1. bezeichneten Gegenstands in Annahmeverzug befindet.
3. Die Beklagte wird verurteilt, die Kosten der außergerichtlichen Rechtsverfolgung in Höhe von 1.461,32 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 14.11.2019 zu zahlen.
22
Die Beklagte rügt die örtliche Zuständigkeit des LG Memmingen und beantragt,
die Klage abzuweisen.
23
Die Beklagte beruft sich im Kern auf folgendes, wobei wegen der Einzelheiten auf die Klageerwiderung vom 05.02.2020 (Bl. 105/158 d.A.) und die Duplik vom 30.04.2020 (Bl. 274/340 d.A.) Bezug genommen wird:
24
Das Fahrzeug der Klagepartei sei stets technisch sicher und in seiner Fahrbereitschaft nicht eingeschänkt gewesen.
25
Die Beklagte habe die Klagepartei im Zusammenhang mit dem Erwerb des Fahrzeugs weder getäuscht noch sonst in sittenwidriger Weise geschädigt. Die Klagepartei habe auch keinerlei Vermögenseinbuße erlitten.
26
Zudem entspreche das Fahrzeug der Klagepartei nach dessen technischen Überarbeitung durch die Beklagte, mit der keine Nachteile verbunden seien, vollumfänglich den Vorgaben.
27
Dass der Vorstand der Beklagten vom Einsatz der Umschaltlogik Kenntnis gehabt habe, lege die Klagepartei schon nicht schlüssig dar. Die Umschaltlogik sei von Mitarbeitern der Arbeitsebene programmiert und bedatet worden.
28
Schließlich hält sie dem geltend gemachten Anspruch den Eintritt der Verjährung entgegen.
29
Jedenfalls sei bei der Schadensberechnung eine Nutzungsentschädigung, die sich an einer Gesamtlaufleistung, die im Bereich von 200.000 km bis 250.000 km anzusetzen sei, zu berücksichtigen.
30
Wegen der weiteren Einzelheilen des Sach- und Streitstands und zur Ergänzung des Tatbestands wird auf die von den Parteien eingereichten Schriftsätze nebst Anlagen und die Sitzungsniederschrift vom 11.05.2020 Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

I.
31
Die zulässige Klage hat nur zum Teil Erfolg.
32
Das Landgericht Memmingen ist gemäß § 32 ZPO örtlich zuständig, weil der Kläger deliktische Schadensersatzansprüche schlüssig behauptet und der Kläger das streitbefangene Fahrzeug im hiesigen Gerichtsbezirk gekauft hat.
33
Der Klagepartei steht gemäß §§ 826, 31 BGB ein Schadensersatzanspruch gegen die Beklagte in Höhe des Kaufpreises von 13.000,00 € abzüglich einer angemessenen Entschädigung für die Nutzung des streitgegenständlichen Fahrzeugs, die das Gericht gemäß § 287 ZPO auf 7.371,63 € schätzt, insgesamt mithin von 5.628,37 € zu.
34
Die Beklagte kann die Leistung nicht wegen Verjährungseintritts verweigern. Die Klagepartei hat die Verjährung durch Anmeldung ihrer Ansprüche zur Musterfeststellungsklage vor Verjährungseintritt am 31.12.2018 gehemmt, § 204 Abs. 1 Nr. 1 a BGB. Die Klage wurde der Beklagten noch innerhalb der Frist des § 204 Abs. 2 Satz 2 BGB zugestellt. Tatsachen, die ein Berufen der Klagepartei auf die Hemmung rechtsmissbräuchlich erscheinen ließen, zeigt die Beklagte nicht auf.
35
Die Feststellung des Annahmeverzugs ist wegen § 756 Abs. 1 ZPO geboten. Die Klagepartei hat der Beklagten die Übereignung des Fahrzeugs mit Schreiben vom 30.10.2019 unter Fristsetzung bis 14.11.2019 in verzugsbegründender Weise angeboten.
36
Die Forderung ist ab 14.11.2019 zu verzinsen, §§ 286, 288 BGB.
37
Eine weitergehende Verzinsung gemäß §§ 849, 246 BGB steht der Klagepartei nicht zu.
38
Die geltend gemachten vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten sind aus einem Gegenstandswert von 6.121,84 € unter Ansatz der Mittelgebühr zu berechnen und deshalb in Höhe von 650,34 € begründet.
39
Im Einzelnen lässt sich das Gericht von folgenden Erwägungen leiten:
40
1. Das Gericht macht sich nach Prüfung die zutreffenden Ausführungen des Oberlandesgerichts München im Endurteil vom 17.12.2019, 18 U 3363/19, zitiert nach BeckRS 2019, 33717, b.-o., soweit sie auf den hier zu beurteilenden Sachverhalt übertragbar sind, zu Eigen. Zur Vermeidung von Wiederholungen beschränkt sich das Gericht im Nachfolgenden auf eine kurze Begründung und verweist im Übrigen vollumfänglich auf die Begründung des Urteils des Oberlandesgerichts München vom 17.12.2019 und die jeweils dort weiterführend angegebenen Nachweise.
2. Haftungsgrund:
41
Das Inverkehrbringen eines Motors mit der streitgegenständlichen Umschaltlogik stellt eine konkludente Täuschung der Klagepartei durch die Beklagte dar, wobei die Beklagte sich nicht damit entlasten kann, dass nicht sie, sondern die Seat AG das von der Klagepartei erworbene Fahrzeug hergestellt hat (vgl. OLG München, Endurteil vom 15.10.2019, 24 U 797/19, zitiert nach BeckRS 2019, 25424).
42
Der Käufer eines Kraftfahrzeugs kann nicht nur davon ausgehen, dass im Zeitpunkt des Erwerbs des Fahrzeugs die notwendige EG-Typgenehmigung formal vorliegt, sondern auch davon, dass keine nachträgliche Rücknahme oder Änderung droht, weil die materiellen Voraussetzungen bereits bei Erteilung nicht vorgelegen haben. Entsprechend dieser selbstverständlichen Käufererwartung ist dem Inverkehrbringen eines Motors der Erklärungswert beizumesen, dass auch die materiellen Voraussetzungen für die Erteilung der EG-Typgenehmigung für Fahrzeuge, in denen dieser Motor eingebaut wird, vorliegen.
43
Vorliegend enthielt jedoch die im streitgegenständlichen Fahrzeug installierte Motorsteuerungssoftware eine Umschaltlogik, die als unzulässige Abschalteinrichtung zu qualifizieren ist.
44
Aufgrund der unzulässigen Abschalteinrichtung waren entgegen dem konkludenten Erklärungswert des Inverkehrbringens gerade nicht die materiellen Voraussetzungen für die Erteilung der EG-Typgenehmigung gegeben, so dass die Gefahr einer Betriebsuntersagung des streitgegenständlichen Fahrzeugs durch die für die Zulassung zum Straßenverkehr zuständige Behörde bestand.
45
Das Inverkehrbringen eines Motors, mit einer nicht offen gelegten unzulässigen Abschalteinrichtung stellt eine konkludente Täuschung auch solcher Käufer durch die Beklagte dar, die das Fahrzeug, wie hier, gebraucht von einem Dritten erworben haben.
46
Das Verhalten der Beklagten war sittenwidrig.
47
Die Sittenwidrigkeit des Handelns ergibt sich im vorliegenden Fall aus dem nach Ausmaß und Vorgehen besonders verwerflichen Charakter der Täuschung von Kunden unter Ausnutzung des Vertrauens der Käufer in eine öffentliche Institution, nämlich das Kraftfahrtbundesamt, und unter Inkaufnahme nicht nur der Schädigung der Käufer, sondern auch der Umwelt allein im Profitinteresse.
48
Überdies hegt eine vorsätzliche Täuschung vor mit dem Ziel, unter Ausnutzung der Fehlvorstellung der Kunden hohe Absatzzahlen zu erreichen.
3. Schaden:
49
Durch diese Täuschung hat die Klagepartei einen Vermögensschaden erlitten, der in dem Abschluss des Kaufvertrages zu sehen ist.
50
Es kommt nicht darauf an, ob das Fahrzeug im Zeitpunkt des Erwerbs angesichts der unzulässigen Abschalteinrichtung einen geringeren Marktwert hatte oder seine Nutzbarkeit eingeschränkt war. Der Schaden des in die Irre geführten Käufers liegt schon in der Belastung mit einer ungewollten Verbindlichkeit, nicht erst in dadurch verursachten wirtschaftlichen Nachteilen. Entscheidend ist mithin allein, dass der Geschädigte durch ein haftungsbegründendes Verhalten zum Abschluss eines Vertrages gebracht worden ist, den er sonst nicht geschlossen hätte, und dass die Leistung für seine Zwecke nicht voll brauchbar war.
51
Für die Beurteilung der Frage, ob ein Schaden eingetreten ist, kommt es dabei allein auf den Zeitpunkt des Kaufvertragsabschlusses an. Danach eingetretene Umstände können die sittenwidrige Einwirkung auf das Vorstellungsbild des Geschädigten nicht ungeschehen machen.
4. Subjektive Haftungsvoraussetzungen:
52
Auch die subjektiven Voraussetzungen einer Haftung der Beklagten nach § 826 BGB liegen vor. Beim Vorstand der Beklagten lagen sowohl der Schädigungsvorsatz sowie die Kenntnis der Tatumstände vor, die das Verhalten als sittenwidrig erscheinen lassen.
53
Die Beklagte trifft eine sekundäre Darlegungslast, weil die Klagepartei außerhalb des maßgeblichen Geschehensablaufs steht und den Sachverhalt von sich aus nicht ermitteln kann, während der Beklagten die erforderliche tatsächliche Aufklärung möglich und zumutbar ist.
54
Ihrer Darlegungslast genügt die Beklagte mit der Rüge, dass die Klagepartei schon nicht substantiiert darlege, dass der Vorstand der Beklagten vom Einsatz der Umschaltlogik Kenntnis gehabt habe, nicht. Sie kann sich nicht mit dem Vortrag begnügen, die Umschaltlogik sei allein von Mitarbeitern der Arbeitsebene zu verantworten.
55
Angesichts dessen, dass die Klageplartei außerhalb des maßgeblichen Geschehensablaufs steht, reicht einerseits ihre Behauptung aus, dass dem Vorstand der Beklagten die maßgeblichen Umstände bekannt gewesen seien, während sich die Beklagte als Folge der sie treffenden sekundären Darlegungslast nicht auf das Bestreiten der Kenntnis von Vorständen im aktienrechtlichen Sinne im Zeitpunkt des Abschlusses des Kaufvertrags beschränken durfte. Die Beklagte hätte durch substantiierten Vortrag die Behauptung des Klägers erschüttern müssen.
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Da hier die Grundsätze der sekundären Darlegungslast eingreifen, gilt der Vortrag der Klägerseite als zugestanden gemäß § 138 Abs. 3 ZPO.
57
Zudem besteht eine tatsächliche Vermutung dafür, dass ein Vorstand oder Repräsentant der Beklagten den Einsatz der beanstandeten Motorsteuerungssoftware gekannt und gebilligt hat, weil ein „Verhaltensexzess eines untergeordneten Mitarbeiters“, der den Vorstand bzw. Repräsentanten, der den Einsatz der Motorsteuerungssoftware genehmigt hat, ebenfalls getäuscht haben müsste, höchst unwahrscheinlich wäre.
5. Kausalzusammenhang:
58
Bereits nach der Lebenserfahrung würde niemand ein Kraftfahrzeug kaufen, wenn ihm bekannt wäre, dass dieses zwar formal über eine EG-Typgenehmigung verfügte, aber wegen Verwendung einer unzulässigen Abschalteinrichtung diese nicht hätte erhalten dürfen, weshalb Maßnahmen der die Typgenehmigung erteilenden Behörde und dem folgend der Zulassungsstelle bis hin zur Stilllegung drohen.
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Dass die Klagepartei das Fahrzeug nicht unmittelbar von der Beklagten erworben hat, stellt den Kausalzusammenhang zwischen konkludenter Täuschung und Fahrzeugerwerb nicht in Frage. Denn durch das Inverkehrbringen des Motors hat die Beklagte den Kausalverlauf bewusst unter Einschaltung ihres Vertriebssystems in Gang gesetzt. Die mit dem Inverkehrbringen des Fahrzeugs verbundene konkludente Täuschung seitens der Hersteller von Motor und Fahrzeug über das Vorliegen der materiellen Voraussetzungen für die EG-Typgenehmigung wirkt auch fort.
6. Schadenshöhe:
60
Die Beklagte hat gemäß §§ 249 ff. BGB der Klagepartei sämtliche aus der sittenwidrigen Schädigung resultierenden Schäden zu ersetzen.
61
Der Ersatzanspruch richtet sich bei § 826 BGB auf das negative Interesse. Der Geschädigte ist so zu stellen, wie er stehen würde, wenn er nicht getäuscht worden wäre. Wenn er dann - wie die Klagepartei im vorliegenden Fall - den PKW nicht erworben hätte, besteht die nach § 249 Abs. 1 BGB zu leistende Naturalrestitution im Geldersatz in Höhe des für den Erwerb aufgewendeten Kaufpreises gegen Übertragung des aus dem Vertrag Erlangten auf den Schädiger.
62
Da es für die Schadensentstehung, wie dargelegt, maßgeblich auf den Zeitpunkt des Kaufvertragsabschlusses ankommt, entfällt der Schaden nicht durch die nach Vertragsschluss durchgeführte Installation des Software-Updates. Es ist rechtlich lediglich als Angebot zur Verhinderung weiterer Nachteile zu bewerten.
63
Vom geleisteten Kaufpreis ist eine angemessene Nutzungsentschädigung in Abzug zu bringen, weil der Geschädigte infolge des schädigenden Ereignisses nicht besser gestellt werden darf, als er ohne das schädigende Ereignis stünde.
64
Die danach anzurechnende Nutzungsentschädigung bemisst das Gericht im Wege der Schätzung nach § 287 Abs. 1 ZPO ausgehend vom Bruttokaufpreis des streitgegenständlichen PKW. Dieser betrug 13.000,00 €.
65
Die im Einzelfall unter gewöhnlichen Umständen zu erzielende Gesamtlaufleistung eines Seat Leon, die den Gesamtgebrauchswert darstellt, schätzt das Gericht gemäß § 287 ZPO auf 200.000 km, die Restlaufleistung des streitgegenständlichen PKW beim Kauf durch die Klagepartei also auf 182.300 km. Die gefahrenen Kilometer belaufen sich auf 103.373 (121.073 km am Tag der mündlichen Verhandlung abzüglich 17.700 km im Erwerbszeitpunkt). Dies ergibt eine zu berücksichtigende Nutzungsentschädigung von 7.371,63 € (= 13.000 € × 103.373 km : 182.300 km).
66
Damit verbleibt ein ersatzfähiger Schadensbetrag von 5.628,37 €. Dieser Betrag ist gemäß §§ 286 Abs. 1 Satz 1, 288 Abs. 1 BGB zu verzinsen.
67
Der gemäß §§ 826, 249 Abs. 1 BGB erstattungsfähige Schaden der Klagepartei umfasst auch die Haftung für die vorgerichtlichen Kosten ihres anwaltlichen Vertreters.
68
Für den Gegenstandswert bezüglich der vorgerichtlichen Tätigkeit ist der Wert des verfolgten Anspruchs zum Zeitpunkt des Tätigwerdens des Klägervertreters maßgeblich. Das Forderungsschreiben des Klägervertreters an die Beklagte datiert auf den 30.10.2019. Das Gericht schätzt - ausgehend von einer „linearen“ Verteilung der durch die Klagepartei mit dem Auto gefahrenen Kilometer - die bis dahin gefahrenen Kilometer auf 96.453 km, was bei der oben dargestellten Berechnungsweise eine Nutzungsentschädigung von 6.878,16 € ergibt. Damit bestand damals eine berechtigte Forderung in Höhe von 6.121,84 €. Aus diesem Wert sind die vorgerichtlichen Kosten zu berechnen.
69
Das Gericht setzt für die Geschäftsgebühr nach 2300 VV RVG die Mittelgebühr von 1,3 an. Ein Ansatz einer über die Mittelgebühr hinausgehenden Gebühr ist nicht gerechtfertigt. Im Übrigen ist gerichtsbekannt, dass die Klägervertreter neben dem Kläger eine Vielzahl von Käufern in Parallelverfahren vertreten haben. Die durch die Parallelität der Sachverhalte bedingte ganz erhebliche Verringerung des zeitlichen Aufwands für das konkrete Mandat kann im Rahmen der Gesamtwürdigung maßgeblich berücksichtigt werden.
70
Damit ergibt sich eine erstattungsfähige Gebühr in Höhe von 650,34 €.
7. Deliktszinsen:
71
Die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 849 BGB liegen nicht vor.
72
Dem Kläger ist durch die an seine Mutter geleisteten Zahlungen kein Verlust an Nutzbarkeit entstanden, der nicht anderweitig ausgeglichen werden könnte. Die „Entziehung“ wurde nämlich dadurch kompensiert, dass die Klagepartei im Gegenzug für die Zahlung des Kaufpreises die Eigentumsanwartschaft und den Besitz am Fahrzeug mit der abstrakten Möglichkeit, dieses jederzeit nutzen zu können, erhalten hat.
II.
73
Die Kostenentscheidung beruht auf § 92 Abs. 1 ZPO.
74
Bei der Kostenverteilung war, auch wenn nur als Nebenforderung gemäß § 4 ZPO geltend gemacht, der von der Klagepartei beanspruchte Deliktszins miteinzubeziehen, nachdem dieser einen erheblichen Wert von überschlägig gerechnet rund 3.800 € ausmacht (vgl. hierzu Jaspersen, BeckOK ZPO, Vorwerk/Wolf, 36. Edition Stand 01.03.2020, § 92 ZPO Rz. 26).
75
Die geltend gemachten 13.000,00 €, die für den Gebührenstreitwert bestimmend sind, sind daher fiktiv um 3.800,00 € zu erhöhen. Der Gesamtbetrag in Höhe von 16.800,00 € ist mit dem Erfolg der Klage in Höhe von 5.628,37 € ins Verhältnis zu setzen, so dass der Kläger mit seiner Klage überschlägig bewertet insgesamt etwa zu einem Drittel Erfolg hat.
76
Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit folgt für den Kläger aus § 709 Satz 1 und Satz 2 ZPO und für die Beklagte aus §§ 708 Nr. 11, 711, 709 ZPO.
77
Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 33 Abs. 2 Satz 1, 48 Abs. 1 Satz 1 GKG in Verbindung mit § 3 ZPO. Der Gebührenstreitwert bemisst sich nach der vom Kläger geltend gemachten Forderung in Höhe von 13.000,00 €. Eine Nutzungsentschädigung war bei der Streitwertfestsetzung nicht zu berücksichtigen, weil die Klage jedenfalls zuletzt davon ausgeht, dass der Kläger der Beklagten Nutzungsvorteile nicht herauszugeben hat.