Inhalt

VG Bayreuth, Beschluss v. 08.05.2020 – B 7 E 20.419
Titel:

Erfolgloser Eilantrag gegen die coronabedingte Begrenzung der Verkaufsfläche von Einzelhandelsgeschäften auf 800 qm

Normenketten:
VwGO § 123 Abs. 1
3. BayIfSMV § 4 Abs. 4 S. 1 Nr. 2
Leitsatz:
Bei der fortschreitenden Lage einer potentiell tödlich verlaufenden Viruserkrankung, gegen die weder ein Impfstoff noch suffiziente Medikamente vorhanden sind, sind auch Phase einer (partiellen) Lockerung von zuvor getroffenen Infektionsschutzmaßnahmen keine überhöhten Anforderungen an die Geeignetheit und Erforderlichkeit der Maßnahme zu stellen. (Rn. 11 – 12) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Corona, Einzelhandel, Beschränkung der Verkaufsfläche, 800-Quadratmeter-Regel, Verhältnismäßigkeit
Rechtsmittelinstanz:
VGH München, Beschluss vom 17.06.2020 – 20 CE 20.1238
Fundstelle:
BeckRS 2020, 10927

Tenor

1. Der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes wird abgelehnt.
2. Die Antragstellerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
3. Der Streitwert wird auf 2.500,00 EUR festgesetzt.

Gründe

I.
1
Die Antragstellerin betreibt in B…, …, ein Einzelhandelsgeschäft mit einer Verkaufsfläche von … qm für die Sortimente Schuhe und Textilien.
2
Sie beantragte mit am …2020, … Uhr, bei Gericht in elektronischer Form eingegangenem Schriftsatz die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes mit folgendem Antrag:
Es wird vorläufig bis zur Entscheidung der Hauptsache festgestellt, dass die Antragstellerin in ihrem Einzelhandelsgeschäft in … B…, …, über die bisher geöffnete Verkaufsfläche von 800 qm hinaus auch die weitere Verkaufsfläche von … qm, somit insgesamt … qm, ab sofort wieder öffnen darf.
3
Auf die umfangreichen Ausführungen zum Bestehen eines Anordnungsanspruchs wird verwiesen. Ferner sei auch ein Anordnungsgrund gegeben. Das Landratsamt … gehe von der Gültigkeit der Beschränkung auf 800 qm Verkaufsfläche gemäß § 4 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2,
1.
Hs. der 3. BayIfSMV aus, so dass bei Öffnung der über 800 qm hinausgehenden Verkaufsfläche des Einzelhandelsgeschäfts der Antragstellerin mit einem Einschreiten des Landratsamts … (Untersagung, Bußgeldbescheid) zu rechnen sei. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung sei dringend geboten, um schwere Nachteile auf Seiten der Antragstellerin abzuwenden, die durch den Vollzug des § 4 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2, Hs. 1 der 3. BayIfSMV entstehen würden und bei einem Erfolg im Hauptsacheverfahren nicht rückgängig zu machen seien. Nunmehr zähle jeder Tag, um die vollen Lagerbestände, die noch vor dem Shutdown geordert worden seien, wenigstens teilweise absetzen zu können. Es sei daher nicht zumutbar, eine Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten und auch nicht die gemäß § 12 der
4.
BayIfSMV vom 05.05.2020 zulässige Öffnung aller Ladengeschäfte ab 11.05.2020. Insbesondere die beiden Tage vor dem Muttertag, d. h. Freitag, der 08. und Samstag, der 09. Mai 2020, seien umsatzstarke Einkaufstage. Dies alles gelte um so mehr, als vergleichbare Schuhgeschäfte unter 800 qm öffnen dürften und in der Zwischenzeit der Antragstellerin Käufer wegzögen. Vorgelegt wurde eine eidesstattliche Erklärung, die von einer der Geschäftsführerinnen der Antragstellerin unterschrieben wurde.
4
Das Landratsamt … hat innerhalb der gesetzten Frist keine Äußerung zu dem Eilantrag abgegeben.
5
Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird entsprechend § 117 Abs. 3 Satz 2 VwGO auf die Gerichtsakte Bezug genommen. Beigezogen wurde die Gerichtsakte zum Verfahren …
II.
6
1. Über den vorliegenden Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes entscheidet mit Blick auf die Dringlichkeit nach § 123 Abs. 2 Satz 3, § 80 Abs. 8 VwGO der Vorsitzende. Die Antragstellerin hat eine Entscheidung durch den Vorsitzenden in ihrem Antragsschriftsatz auch ausdrücklich beantragt.
7
2. Der zulässige Antrag hat in der Sache keinen Erfolg.
8
Nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO kann das Gericht eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO kann das Gericht eine einstweilige Anordnung auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn diese Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus anderen Gründen nötig erscheint. Erforderlich ist für einen Erfolg des Antrags, dass der Antragsteller einen materiellen Anspruch (Anordnungsanspruch) und die Notwendigkeit einer vorläufigen Regelung (Eilbedürftigkeit) gerade im einstweiligen Rechtsschutzverfahren (Anordnungsgrund) glaubhaft machen kann.
9
Vorliegend hat die Antragstellerin einen Anordnungsgrund nicht glaubhaft gemacht. Voraussetzung für das Vorliegen eines Anordnungsgrundes ist grundsätzlich, dass unter Berücksichtigung der Interessen des Betroffenen, aber auch der öffentlichen Interessen und der Interessen anderer Personen es der Antragspartei nicht zumutbar ist, die Hauptsacheentscheidung abzuwarten. Führt die einstweilige Anordnung zu einer Vorwegnahme der Hauptsache, kann sie nur dann erlassen werden, wenn eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit des Obsiegens in der Hauptsache besteht. Von Bedeutung ist insbesondere auch, ob der Betroffene einen irreparablen Rechtsverlust erleiden würde für den Fall, dass das Gericht keine vorläufige Regelung trifft (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, § 123, Rn. 26 ff.).
10
Das Gericht verkennt nicht, dass die im Zuge der Corona-Pandemie angeordnete (teilweise) Betriebsschließung für die Antragstellerin erhebliche Eingriffe in ihre rechtlich geschützten Positionen mit sich bringt, vor allem aufgrund der Umsatzeinbußen.
11
Andererseits sind bei der fortschreitenden pandemischen Lage einer potentiell tödlich verlaufenden Viruserkrankung, gegen die weder ein Impfstoff noch suffiziente Medikamente vorhanden sind, keine überhöhten Anforderungen an die Geeignetheit und Erforderlichkeit der Maßnahmen zu stellen (vgl. BayVGH, B.v. 05.05.2020 - 20 NE 20.926, Rn. 21 ff.).
12
Diese Erwägungen gelten für die Phase der (partiellen) Lockerung von zuvor getroffenen Maßnahmen in gleicher Weise, also beispielsweise mit Blick auf den konkreten Zeitpunkt, in dem als vertretbar angesehen wird, eine Verbots- oder Beschränkungsmaßnahme teilweise aufzuheben oder dergestalt zu modifizieren, dass sie sich für die Betroffenen weniger einschneidend auswirkt.
13
Legt man dies zugrunde, so ist in einer Konstellation, in der der maßgebliche Schritt der Lockerung bereits unmittelbar bevorsteht - hier: Wegfall der Begrenzung der Verkaufsfläche auf 800 qm ab dem 11.05.2020 -, im Rahmen des vorläufigen Rechtsschutzverfahrens, das auf eine Vorwegnahme der Hauptsache abzielt, für die Glaubhaftmachung des Anordnungsgrundes zu fordern, dass die für den Erlass einer einstweiligen Anordnung sprechenden Gründe dezidiert dargelegt werden und hinreichend gewichtig erscheinen. Nur wenn diese erhöhten Anforderungen erfüllt sind, kann davon gesprochen werden, dass der betroffene Antragsteller „wesentliche Nachteile“ im Sinne des § 123 Abs. 1 VwGO erleiden würde, so dass trotz baldigen Auslaufens einer beschränkenden Regelung gleichwohl die Vorwegnahme der Hauptsache im Rahmen des vorläufigen Rechtsschutzverfahrens begehrt werden kann. Diese Überlegungen gelten im Rahmen der gerichtlichen Prüfung, ob ein Anordnungsgrund glaubhaft gemacht wurde, zunächst unabhängig von materiell-rechtlichen Aspekten, die (erst) im Rahmen der Glaubhaftmachung des Anordnungsanspruchs zu würdigen wären.
14
An einer Glaubhaftmachung des Anordnungsgrundes im hier notwendigen Maße fehlt es. Bezogen auf den Erlass des vorliegenden Beschlusses am Mittag bzw. frühen Nachmittag des 08.05.2020 steht eine frühzeitigere vollständige Öffnung des Ladengeschäfts der Antragstellerin von ca. 1,5 Tagen im Raum. Eine teilweise Öffnung ihres Geschäfts bis 800 qm einhergehend mit der Möglichkeit, entsprechende Umsätze zu erzielen, ist aber nach den Regelungen der 3. BayIfSMV möglich und wird vom Antragsgegner auch nicht in Frage gestellt. Alleine mit der Ausführung, dass es sich bei den 1,5 in Rede stehenden Tagen um umsatzstarke Tage handele und dass nunmehr jeder Tag zähle, um die Lagerbestände absetzen zu können, wird nicht hinreichend glaubhaft gemacht, dass ein Zuwarten der Antragstellerin bis zum 11.05.2020, also zu dem Zeitpunkt, in dem die vollständige Öffnung ihres Geschäfts ohnehin nicht mehr streitig sein wird, mit „wesentlichen Nachteilen“ im oben beschriebenen Sinne verbunden wäre.
15
In der besonderen Situation der Antragstellerin ist auch zu berücksichtigen, dass diese bereits am 27.04.2020 ein Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes gegen denselben Antragsgegner anhängig gemacht hatte (Az. …). Zwar hat sich jenes Verfahren aufgrund übereinstimmender Erklärungen unstreitig erledigt und wurde mit Beschluss des Gerichts vom 29.04.2020 eingestellt. Gegenstand des Verfahrens war die Frage, ob eine (vorläufige) Öffnung des Ladengeschäfts bis 800 qm zulässig ist. Allerdings hat die Antragstellerin bereits damals ausführen lassen, dass eine Differenzierung allein anhand des Maßes der Verkaufsfläche nicht unmittelbar infektionsschutzrechtlich begründet sei. Die hier offensichtlich übernommene Flächengröße, die in der Rechtsprechung für planerische Großflächigkeit zugrunde gelegt werde, sei für infektionsschutzrechtliche Aspekte völlig ungeeignet und untauglich (S. 7 des Schriftsatzes vom 27.04.2020). Die durch Verordnung verfügte Verkaufsflächenbegrenzung auf 800 qm war der Antragstellerin demnach bewusst und sie hegte bereits seit dem 27.04.2020 Zweifel an der materiellen Rechtmäßigkeit der Regelung.
16
Für eine besondere Dinglichkeit und das Bestehen eines Anordnungsgrundes im vorliegenden Verfahren kann aber nicht zugunsten der Antragstellerin angeführt werden, dass sie die Thematik einerseits bereits am 27.04.2020 in einem gerichtlichen Verfahren gegen denselben Antragsgegner zumindest deutlich anschneidet, andererseits aber mit ihrem hiesigen vorläufigen Rechtsschutzbegehren bis zum späten Nachmittag des 07.05.2020 zuwartet, um dann ca. 2 Verkaufstage vor dem Auslaufen der Verkaufsflächenbegrenzung auf 800 qm eine Eilentscheidung zu ihren Gunsten erwirken zu wollen. Jedenfalls wurden keine Aspekte dafür vorgetragen, die diese Ungereimtheit ausräumen können.
17
3. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1 und 2 GKG i.V.m. Nr. 1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013.