Titel:
Erfolglose Klage eines palästinensischen Asylbewerbers aus dem Gazastreifen
Normenketten:
AsylG § 3, § 4 Abs. 1
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7
EMRK Art. 3, Art. 5
Leitsätze:
1. Der Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft steht nach § 3 Abs. 3 S. 1 AsylG entgegen, wenn der Betroffene beim Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästinaflüchtlinge im Nahen Osten (UNWRA) registriert ist. Allein das freiwillige Verlassen des Schutzgebietes des UNWRA führt nicht zum Wegfall des Schutzes i.S.v. § 3 Abs. 3 S. 2 AsylG (vgl. VGH München BeckRS 2017, 133270).. (Rn. 32 – 33) (red. LS Clemens Kurzidem)
2. Ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt i.S.v. § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 AsylG liegt in den Palästinensischen Autonomiegebieten nicht vor, da sich die den Gazastreifen beherrschende Hamas und die in der Westbank regierende Fatah nach früheren gewaltsamen Auseinandersetzungen am 23. März 2014 auf die Bildung einer Einheitsregierung geeinigt haben, die der erste Schritt auf dem Weg zu einer Aussöhnung sein sollte. (Rn. 40) (red. LS Clemens Kurzidem)
3. Ob zwischen Israel und Palästina respektive der den Gazastreifen beherrschenden Hamas ein internationaler bewaffneter Konflikt i.S.v. § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 AsylG besteht, kann offenbleiben. Jedenfalls fehlt es an einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit eines zurückkehrenden Asylbewerbers als Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt. (Rn. 42 – 45) (red. LS Clemens Kurzidem)
4. Vor allem wegen der durch das UNWRA geleisteten Grundversorgung ist bei einer Rückkehr in den Gazastreifen nicht mit einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i.S.v. Art. 3 EMRK zu rechnen. Ein Verstoß gegen Art. 3 EMRK folgt auch nicht aus einer bei einer Rückkehr drohenden allgemeinen Situation der Gewalt, die der EGMR nur in äußerst extremen Fällen annimmt (vgl. VGH München BeckRS 2018, 37516). (Rn. 55) (red. LS Clemens Kurzidem)
5. Eine Abschiebungsandrohung kann auch hinsichtlich der Palästinensischen Autonomiegebiete, konkretisiert durch Gazastreifen oder Westjordanland, erfolgen, obwohl deren völkerrechtlicher Status als Staat wenigstens umstritten ist (OVG Lüneburg BeckRS 2017, 138723). (Rn. 58) (red. LS Clemens Kurzidem)
Schlagworte:
Derzeit kein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt zwischen Hamas und Fatah, Keine ernsthafte individuelle Bedrohung eines aus dem Gazastreifen stammenden, Palästinenser aufgrund der bewaffneten Auseinandersetzung zwischen der Hamas und Israel insb. im Zuge der Grenzproteste („Great March of Return“), Keine gegen Art. 3 EMRK verstoßende humanitäre Lage im Gazastreifen für einen jungen, gesunden, arbeitsfähigen Mann mit Universitätsabschluss und im Gazastreifen lebender Familie, palästinensischer Asylbewerber, Palästinensische Autonomiegebiete, UNWRA, Gazastreifen, Westjordanland, Hamas, Fatah, Israel, Flüchtlingsschutz, subsidiärer Schutz, innerstaatlicher bewaffneter Konflikt, internationaler bewaffneter Konflikt, nationale Abschiebungsverbote, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, Grundversorgung, Abschiebungsandrohung
Fundstelle:
BeckRS 2020, 10879
Tenor
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Tatbestand
1
Der Kläger begehrt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, hilfsweise subsidiären Schutzstatus und weiter hilfsweise die Feststellung des Vorliegens von Abschiebungsverboten.
2
Der Kläger ist … 1989 im Gazastreifen geboren, palästinensischer Volkszugehörigkeit und sunnitisch-islamischen Glaubens. Er reiste nach eigenen Angaben am 6. Juni 2016 auf dem Landweg aus Österreich in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 27. Juni 2016 einen Asylantrag.
3
Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) hörte den Kläger am 17. August 2016 nach § 25 AsylG an. Dort gab der Kläger an, dass er bis zu seiner Ausreise in …, im Stadtteil „…“, in einer eigenen Wohnung gelebt habe. Von seiner Familie würden noch seine Eltern und sieben Geschwister im Gazastreifen leben. Er sei studierter Journalist, habe jedoch nur drei Monate ehrenamtlich als Journalist gearbeitet und sonst oft Aushilfsjobs, beispielsweise als Kellner, ausgeübt.
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Auf die Frage hin, warum er … verlassen und einen Asylantrag in Deutschland gestellt habe, antwortete der Kläger, dass es in … nicht sicher sei. Er sei oft von der Hamas bedroht worden, da er gegen diese demonstriert habe. Er sei auf über 60 Demonstrationen gegen die Hamas gewesen, zum ersten Mal entweder 2009 oder 2010. Auf Nachfrage legte der Kläger Handyfotos vor, die ihn bei der Teilnahme an einer solchen Demonstration zeigen sollen. Oft sei er deswegen im Gefängnis gewesen für zwei bis fünf Tage, einmal sei er sechs Monate im Gefängnis gewesen und einmal drei Monate. Für die drei Monate sei er circa ein Jahr vor der Anhörung eingesperrt worden, dann nach einer Woche freigelassen und gleich für sechs Monate eingesperrt worden. Nach der sechsmonatigen Haft sei er innerhalb von weniger als einem Monat ausgereist. Im Gefängnis sei er jedes Mal misshandelt und geprügelt worden. Von den Gefängnissen, in denen er inhaftiert gewesen sei, befände sich eines im Stadtteil „…“, das andere in der Straße „…“. Er und seine Freunde hätten vor zwei Jahren eine Facebook-Gruppe mit dem Namen „…“ gegründet. Ob es sie noch gebe, wisse er nicht, man müsse dort seinen Namen finden. Wegen dieser Gruppe, mit der er heute kaum noch Kontakt habe, und der Demonstrationen, habe er sich entschlossen, … zu verlassen. Ihm sei angedroht worden, für ein Jahr ins Gefängnis gehen und eine Geldstrafe bezahlen zu müssen. Ob er einen Haftbefehl oder eine Verurteilung bekommen habe, wisse er nicht, da er … schnell verlassen habe. Offiziell vor Gericht habe er in … nicht gestanden, auch sei er nicht offiziell angeklagt worden. Auf die Frage hin, wie er während der Inhaftierung geschlagen worden sei, schilderte der Kläger, dass ihm die Hände auf den Rücken gebunden worden und er nackt in eine Zelle gesperrt worden sei. Er sei mit Händen und Gegenständen geschlagen worden, es sei auch Wasser auf ihn gekippt worden und er sei immer wieder geschlagen worden. Sein rechter Ellbogen sei gebrochen worden, sodass er keine schweren Sachen mehr heben, ihn jedoch noch bewegen könne. Neben ihm sei auch sein Vater bedroht worden, seine Geschwister aber nicht. Man habe seinen Vater angerufen und gesagt, dass wenn er - der Kläger - weiter demonstrieren würde, ihm - dem Kläger - ins Bein geschossen würde. Bei einer Rückkehr nach … fürchte er, wieder eingesperrt zu werden und dass ihm wie angedroht ins Bein geschossen würde. Er wolle nicht wieder zurück nach … Verwandte habe er in Deutschland keine, er sei alleine hier.
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Mit Bescheid vom 3. Juli 2017 erkannte das Bundesamt die Flüchtlingseigenschaft nicht zu (Ziffer 1), lehnte den Antrag auf Asylanerkennung ab (Ziffer 2), erkannte subsidiären Schutzstatus nicht zu (Ziffer 3), stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Ziffer 4), forderte den Kläger auf, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen zu verlassen und drohte andernfalls die Abschiebung in den Gazastreifen oder das Westjordanland an (Ziffer 5) und befristete das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung (Ziffer 6).
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Zur Begründung führte das Bundesamt aus, dass der Kläger kein Flüchtling im Sinne des § 3 AsylG sei. Er habe die begründete Furcht vor Verfolgung nicht glaubhaft gemacht, sein Sachvortrag sei zu pauschal. Außerdem seien Widersprüche zu verzeichnen. So habe der Kläger berichtet, er sei oft für zwei bis fünf Tage verhaftet gewesen und dass er auch einmal sechs Monate und einmal drei Monate im Gefängnis gewesen sei. Auf die Nachfrage hin, wann er für drei Monate eingesperrt worden sei, habe er berichtet, dies sei vor einem Jahr gewesen, er sei jedoch nach einer Woche freigelassen worden. Angesichts seiner Angabe, dass er vor einem Jahr auch für sechs Monate verhaftet gewesen und danach ausgereist sei, sei es nicht nachvollziehbar, wann er dann öfters für zwei bis fünf Tage verhaftet gewesen sein solle. Auch könne er die vermeintlichen Verhaftungen nicht nachweisen. Auf Nachfrage, ob er einen Haftbefehl oder eine Verurteilung bekommen habe, habe er geantwortet, dass er dies wegen seines schnellen Verlassens von … nicht wisse. Weiter sei nicht nachvollziehbar, dass der Kläger nach eigener Angabe bereits 2009 beziehungsweise 2010 über 60 Mal an Demonstrationen teilgenommen habe, zum ersten Mal jedoch erst vor einem Jahr verhaftet worden sei und danach häufiger. Als Begründung habe er lediglich vorgetragen, dass die Zahl der Demonstranten immer weniger geworden sei. Auch habe er nicht nachvollziehbar erklären können, warum er öfters verhaftet worden sei. Er habe lediglich angegeben, gegen die Hamas demonstriert zu haben, sei aber kein Mitglied einer politischen Organisation. An einer Demonstration nähmen hunderte, wenn nicht tausende Menschen teil und nicht jeder Teilnehmer könne verhaftet werden. Der Kläger habe keinerlei Gründe vorgetragen, was ihn von den anderen Teilnehmern unterscheide, dass er öfters verhaftet werden müsse. Für die Feststellung, dem Kläger drohe bei Rückkehr in sein Heimatland Opfer flüchtlingsrechtlich relevanter Verfolgung zu werden, fehle es an einer tragfähigen Prognosegrundlage. Er habe angegeben, dass seinem Vater angedroht worden sei, dem Kläger würde ins Bein geschossen, wenn er weiter demonstrieren würde. Es sei nicht nachvollziehbar, warum der Kläger weiter von der Hamas verfolgt werden sollte, wenn er nicht mehr an den Demonstrationen teilnehme. Auch habe er keinen Kontakt mehr zu den Mitgliedern der Facebook-Gruppe und er wisse nicht, ob diese Gruppe noch existiere und weiter gepflegt werde. Durch seine Ausreise habe der Kläger sein politisches Engagement aufgegeben. Die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG sei somit abzulehnen und wegen deren enger gefassten Voraussetzungen ebenfalls die Asylanerkennung nach Art. 16a Abs. 1 GG.
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Auch die Voraussetzungen des subsidiären Schutzstatus lägen nicht vor. Der Kläger sei bei Rückkehr in den Gazastreifen nicht mit der Todesstrafe bedroht. Auch seien unter Verweis auf die Ausführungen zur Flüchtlingseigenschaft keine Anhaltspunkte ersichtlich, dass dem Kläger bei Rückkehr in den Gazastreifen ein ernsthafter Schaden durch Folter, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung drohe. Eine Schutzfeststellung nach § 4 Abs. 1 Nr. 3 AsylG scheide ebenfalls aus. Es bestehe keine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit des Klägers infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts. Im Gazastreifen bestehe derzeit kein militärischer Konflikt mit Israel oder der Fatah, es bestehe sogar nach dem im April 2014 in Gaza geschlossenen Versöhnungspakt zwischen Hamas und Fatah eine, wenn auch nur sporadisch funktionierende, Einheitsregierung. Größere Kampfhandlungen rivalisierender Gruppen innerhalb des Gazastreifens oder mit dem israelischen Staat seien derzeit nicht bekannt. Daher sei auch nicht erkennbar, dass die Lage in der Herkunftsregion des Klägers einen so hohen Gefahrengrad aufweise, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre.
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Abschiebungsverbote lägen ebenfalls nicht vor. Eine Verletzung des Art. 3 EMRK, die individuell durch einen konkret handelnden Täter drohe, scheide wie bereits im Rahmen der Prüfung des § 4 Abs. 1 Nr. 2 AsylG festgestellt, aus. Auch führten die derzeitigen humanitären Bedingungen im Gazastreifen nicht zu der Annahme, dass bei Abschiebung des Klägers eine Verletzung des Art. 3 EMRK vorläge. Zwar lebten nach Erkenntnissen des österreichischen Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl ungefähr 80 Prozent der Bevölkerung Gazas unter der Armutsgrenze und führten die israelischen Sicherheitsmaßnahmen und die israelisch-palästinensische Gewalt zu einer ständigen Verschlechterung der wirtschaftlichen Situation im Gazastreifen, zu der auch Ägyptens hartes Vorgehen gegen das Schmuggelsystem mittels Tunnel zwischen Gaza und Ägypten beitrüge. Auch seien aufgrund der israelischen Blockade zwischen August 2014 und September 2015 nur neun Prozent des benötigten Baumaterials in den Gazastreifen gelangt. Die Arbeitslosenquote habe im zweiten Quartal 2016 im Gazastreifen bei 41,7 Prozent gelegen. Durch den Treibstoffmangel sei die Wasserversorgung und die Abwasserentsorgung eingeschränkt, etwa 30 Prozent der Bevölkerung hätten keinen regelmäßigen Zugang zu Leitungswasser. Allerdings gehöre der Kläger zur Gruppe der volljährigen, jungen, gesunden und erwerbsfähigen Männer ohne Unterhaltungslasten, bei denen grundsätzlich davon auszugehen sei, dass sie in ihrem Herkunftsland das erforderliche Existenzminimum erlangen können. Zudem sei familiärer Rückhalt gegeben, seinen eigenen Angaben zufolge lebten im Gazastreifen noch seine Eltern und sieben Geschwister. Auch gehöre ihm eine Wohnung im Gazastreifen. Somit seien keine Anhaltspunkte ersichtlich, dass der Kläger nach einer Rückkehr in eine humanitäre Notlage geraten würde. Eine individuelle Gefahr für Leib und Leben, die zur Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 AufenthG führen würde, drohe dem Kläger nicht.
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Die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots auf 30 Monate sei im vorliegenden Fall angemessen. Anhaltspunkte für eine kürzere Fristsetzung wie relevante Bindungen im Bundesgebiet seien weder vorgetragen worden noch lägen sie nach den Erkenntnissen des Bundesamts vor.
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Mit beim Verwaltungsgericht Ansbach am 14. Juli 2017 eingegangenem Schriftsatz seiner damaligen Prozessbevollmächtigten ließ der Kläger Klage erheben. Zur Begründung verwies der Kläger zunächst auf seine Ausführungen in der Anhörung vor dem Bundesamt. Erstmals in der mündlichen Verhandlung trägt der Kläger vor, dass er zwar 60 Mal auf der Straße gewesen sei, aber nur sieben Mal protestiert habe. Auch sei er weder zu einer Haft- noch zu einer Geldstrafe verurteilt, sondern nur bedroht worden. Er trage das erst jetzt vor, weil er keinen Anwalt gehabt habe und ihm geraten worden sei, dies bei der mündlichen Verhandlung zu tun.
- 1.
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den Bescheid der Beklagten vom 3. Juli 2017 aufzuheben.
- 2.
-
die Beklagte zu verpflichten dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, hilfsweise den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen, hilfsweise festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 des AufenthG vorliegen.
- 3.
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der Beklagten die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.
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Die Beklagte beantragt,
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Zur Begründung bezieht sie sich auf den angefochtenen Bescheid.
14
Die Prozessbevollmächtigte des Klägers hat mit Schriftsatz vom 13. November 2018 angezeigt, den Kläger fortan nicht mehr zu vertreten. Im Rahmen einer informatorischen Befragung durch das Gericht in der mündlichen Verhandlung am 5. März 2020 hat der Kläger auf Frage des Gerichts, ob er im Gazastreifen registrierter Flüchtling des Hilfswerks der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten, kurz UNRWA, sei, mitgeteilt, dass er seit seiner Geburt als Palästinenserflüchtling registriert sei. Es fände eine automatische Registrierung statt.
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Auf die Frage, wie oft und wie lange er verhaftet gewesen sei, hat der Kläger geantwortet, dass er zum ersten Mal drei Tage verhaftet worden sei, kurz danach eine Woche und zum dritten Mal drei Monate, außerdem habe er eine Geldstrafe bekommen. Einen Haftbefehl habe er nicht bekommen, man bekomme im Gazastreifen keine Haftbefehle. In der mündlichen Verhandlung hat der Kläger zwei Schriftstücke in arabischer Sprache in Kopie vorgelegt. Deren wesentlichen Inhalt hat der Dolmetscher dahingehend übersetzt, dass es sich um eine Vorladung für den Kläger handele, einmal für Donnerstag, 11. Februar 2016 um 10:00 Uhr, und einmal für Samstag, den 20. Februar 2016 um 10:00 Uhr, der Grund der Vorladung und ein Ausstellungsdatum seien den Schriftstücken nicht zu entnehmen. Die Kopiervorlage hat der Kläger nach der mündlichen Verhandlung nachgereicht.
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Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhaltes wird auf den Inhalt der in elektronischer Form beigezogenen Bundesamtsakte und der Gerichtsakte des Klägers Bezug genommen. Für den Verlauf der mündlichen Verhandlung am 5. März 2020 wird auf die Sitzungsniederschrift verwiesen.
Entscheidungsgründe
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Die Klage ist zulässig, aber unbegründet. Der ablehnende Bescheid der Beklagten vom 3. Juli 2017 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1, Abs. 1 Satz 1 VwGO).
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Dem Kläger steht weder ein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG, noch auf Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus nach § 4 Abs. 1 AsylG oder auf Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu. Auch im Übrigen stößt der angegriffene Bescheid auf keine rechtlichen Bedenken.
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1. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG, weil es an einer begründeten Furcht vor Verfolgung fehlt. Der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft steht überdies § 3 Abs. 3 Satz 1 AsylG entgegen.
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a) Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will, oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will. Hierzu bestimmt § 3a AsylG näher die Verfolgungshandlungen, § 3b AsylG die Verfolgungsgründe, § 3c AsylG die Akteure, von denen Verfolgung ausgehen kann, § 3d AsylG die Akteure, die Schutz bieten können und § 3e AsylG den internen Schutz. Zwischen den in § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG in Verbindung mit § 3b AsylG genannten Verfolgungsgründen und den in § 3a Abs. 1, Abs. 2 AsylG als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen muss gemäß § 3a Abs. 3 AsylG eine Verknüpfung bestehen. Die Handlung muss darauf gerichtet sein, den Betroffenen gerade in Anknüpfung an einen oder mehrere Verfolgungsgründe zu treffen. Ob die Verfolgung in diesem Sinne „wegen“ eines Verfolgungsgrundes erfolgt, ist anhand ihres inhaltlichen Charakters nach der erkennbaren Gerichtetheit der Maßnahme zu beurteilen, nicht hingegen nach den subjektiven Gründen oder Motiven, die den Verfolger leiten (BVerwG, U.v. 4.7.2019 - 1 C 33/18 - NVwZ 2020, 161 Rn. 13).
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Maßstab für die Beurteilung der Furcht des Klägers vor Verfolgung als begründet im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG ist das Vorliegen einer tatsächlichen Gefahr („real risk“) der Verfolgung. Erforderlich ist also, dass dem Kläger mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit bei einer angenommenen Rückkehr Verfolgung droht (BVerwG, U.v. 4.7.2019 - 1 C 33/18 - NVwZ 2020, 161 Rn. 15; BVerwG, U.v. 20.2.2013 - 10 C 23/12 - NVwZ 2013, 936 Rn. 32; BVerwG, U.v. 22.11.2011 - 10 C 29/10 - NVwZ 2012, 1042 Rn. 23 ff.; BVerwG, U.v. 27.4.2010 - 10 C 5/09 - NVwZ 2011, 51 Rn. 22). Die Bejahung einer solchen beachtlichen Wahrscheinlichkeit der Verfolgung setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (BVerwG, U.v. 4.7.2019 - 1 C 33/18 - NVwZ 2020, 161 Rn. 15; BVerwG, U.v. 20.2.2013 - 10 C 23/12 - NVwZ 2013, 936 Rn. 32).
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Diesbezüglich gewährt Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Qualifikations-RL) eine Beweiserleichterung: Für Vorverfolgte wird vermutet, dass ihre Furcht vor Verfolgung begründet ist. Die Vermutung ist widerleglich. Hierfür sind stichhaltige Gründe erforderlich, die dagegen sprechen, dass dem Antragsteller eine erneute derartige Verfolgung droht (BVerwG, U.v. 4.7.2019 - 1 C 33/18 - NVwZ 2020, 161 Rn. 16).
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Hinsichtlich der Geltendmachung des Verfolgungsschicksals befindet sich der Asylbewerber allerdings in einem sachtypischen Beweisnotstand, da es sich um Vorgänge außerhalb des Gastlandes handelt. Insofern ist für die nach § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO erforderliche Überzeugungsbildung den glaubhaften Erklärungen des Asylsuchenden größere Bedeutung zuzumessen als dies sonst in der Prozesspraxis bei Beteiligtenbekundungen der Fall ist (BVerwG, B.v. 29.11.1996 - 9 B 293/96 - juris Rn. 2). Das Gericht darf also keine unerfüllbaren Beweisanforderungen stellen, sondern muss sich in tatsächlich zweifelhaften Fällen mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad an Gewissheit begnügen, der Zweifeln Schweigen gebietet, auch wenn sie nicht vollends auszuschließen sind (SächsOVG, B.v. 21.9.2018 - 5 A 88/18.A - juris Rn. 4). Andererseits muss der Asylbewerber von sich aus unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt schildern. Bei erheblichen Widersprüchen oder Steigerungen im Sachvortrag kann ihm nur bei einer überzeugenden Auflösung der Unstimmigkeiten geglaubt werden (BVerwG, U.v. 12.11.1985 - 9 C 27/85 - juris Rn. 17).
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b) Unter Berücksichtigung dieses Maßstabes ist das Gericht zum maßgeblichen Zeitpunkt des Schlusses der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) nicht davon überzeugt, dass dem Kläger im Falle einer Rückkehr in die Palästinensischen Autonomiegebiete mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG droht. Die Angaben des Klägers bei der Anhörung vor dem Bundesamt, auf die er sich in seiner Klagebegründung bezieht und die Schilderungen in der mündlichen Verhandlung weisen erhebliche Widersprüche auf, die der Kläger nicht ausräumen konnte. Es mangelt an einem in sich stimmig vorgetragenen (Vor) Verfolgungssachverhalt.
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Zunächst sind die Angaben des Klägers zu den Demonstrationen gegen die Hamas, an denen er teilgenommen haben will, pauschal und überdies widersprüchlich. Bei der Anhörung vor dem Bundesamt gab er an, wegen der Lebensumstände und der mangelnden Arbeit gegen die Hamas demonstriert zu haben. In der mündlichen Verhandlung hingegen schilderte der Kläger auf erneute Nachfrage zu seinen Demonstrationszielen, nachdem die erste Frage des Gerichts hierzu nicht präzise beantwortet wurde, dass es ihm beim Demonstrieren um Sicherheit, Essen und Trinken sowie ein ruhiges Leben gegangen sei. Die vor dem Bundesamt angegebene Zahl von 60 Demonstrationen korrigierte der Kläger in der mündlichen Verhandlung auf sieben Demonstrationen, an denen er teilgenommen habe. Die vom Kläger dem Bundesamt vorgelegten Fotos auf Seite 87 und 88 der elektronischen Bundesamtsakte vermögen seinen Vortrag insoweit nicht zu substantiieren, da sie den Kläger zwar erkennbar auf dem Foto auf Seite 87 rechts unten und auf Seite 88 mittig unten zeigen, einmal mit drei, einmal mit zwei anderen Männern und im Fall des Fotos auf Seite 88 ein Banner haltend, dessen Schriftzug der Dolmetscher mit „Jedes Jahr am 1. Mai werden wir gegen euer Unrecht protestieren“ übersetzte. Jedoch wird aus den Fotos nicht die Demonstrationsteilnahme ersichtlich. Insbesondere das Foto auf Seite 88 mit dem gehaltenen Banner zeigt ein Gebäude und drei weitere Menschen im Hintergrund, lässt aber nicht auf eine stattfindende Demonstration schließen.
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Auch die Ausführungen des Klägers zu den Sanktionen durch die Hamas wegen seiner mutmaßlichen Demonstrationsteilnahmen weisen Widersprüche auf, die er nicht überzeugend auflösen konnte. So gab er zu Beginn der mündlichen Verhandlung und vor der informatorischen Befragung an, weder zu einer Haft noch zu einer Geldstrafe verurteilt worden zu sein. Auf eine spätere Frage des Gerichts hin antwortete er allerdings, er habe zusätzlich zu seinen Verhaftungen eine Geldstrafe bekommen. Hinsichtlich der angegebenen Haftstrafen widersprechen sich die Aussagen des Klägers ebenfalls. Vor dem Bundesamt gab er an, oft im Gefängnis gewesen zu sein, für zwei bis fünf Tage, einmal für sechs Monate und einmal für drei Monate. In der mündlichen Verhandlung war auf Nachfrage von einer Verhaftung von drei Tagen, einer weiteren für eine Woche und einer dritten für drei Monate die Rede. Auch widerspricht die zu Beginn der mündlichen Verhandlung durch den Kläger vorgetragene Berichtigung mit der Nummer 5, dass er damals, als bei seinen Eltern nachgefragt wurde, einen Haftbefehl noch nicht gehabt habe, der späteren Antwort auf die Frage des Gerichts, ob er Haftbefehle erhalten habe. Diese verneinte der Kläger und gab an, dass kein Mensch einen Haftbefehl bekomme. Nicht stimmig ist es zudem, dass der Kläger eigenen Angaben nach keiner politischen Organisation im Gazastreifen angehörte, trotzdem aber als einfacher Demonstrationsteilnehmer im Jahr vor seiner Ausreise mehrfach hintereinander verhaftet wurde und dies allgemein mit einer abnehmenden Zahl an Demonstranten erklärte.
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Die genannten Widersprüche lösen sich nicht durch die in der mündlichen Verhandlung durch den Kläger, zunächst in Kopie, vorgelegten Schriftstücke in arabischer Sprache auf. Nach deren Übersetzung durch den Dolmetscher ist im Text zwar von einer Vorladung für den Kläger die Rede, allerdings enthalten sie weder einen Vorladungsgrund noch ein Ausstellungsdatum.
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Weiterhin erscheinen die Angaben des Klägers zu der von ihm gegründeten Facebook-Gruppe nicht stimmig. Einerseits äußerte er vor dem Bundesamt und noch einmal klarstellend in der mündlichen Verhandlung, dass er eine Facebook-Gruppe mit Freunden gegründet habe, unter anderem aufgrund derer er den Gazastreifen schließlich verlassen habe. Zum anderen gab er an, nicht mehr zu wissen, ob es diese Gruppe noch gebe und gleichzeitig, dass er kaum noch Kontakt zu den Mitgliedern der Gruppe habe. Selbst bei seltenem Kontakt mit anderen Gruppenmitgliedern müsste der Kläger zumindest noch wissen, ob die Gruppe weiter existiert. Davon abgesehen wäre die Aussage des Klägers nur dann schlüssig, wenn er angegeben hätte, die Gruppe auf Facebook verlassen zu haben oder dass sie gelöscht worden ist. Diese Unstimmigkeiten vermögen auch die zwei durch den Kläger vorgelegten Farbfotos, welche seinen Angaben nach den Partner zeigen sollen, mit dem er den Facebook-Account eröffnet habe, nicht auszuräumen. Diese zeigen jeweils einen jungen Mann im Rollstuhl sitzend, auf einem Bild ist dessen linker Unterschenkel mit weißem Verbandsmaterial verbunden, zudem ist ein Fixateur externe angebracht. Auf dem anderen Bild ist dessen gesamtes linkes Bein, soweit äußerlich erkennbar, mit blauem Verbandsmaterial verbunden. Allerdings geht aus den Bildern weder eine Verbindung zum Kläger noch zu dem Facebook-Account hervor, weswegen sie dessen Vortrag nicht stützen können. Selbst wenn man aber die Aussage des Klägers als wahr unterstellen würde, würde sie als Ansatzpunkt einer politischen Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG wegfallen, wenn der Kläger darin nicht mehr aktiv ist.
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Angesichts der zahlreichen und unaufgelösten Widersprüche bei der Schilderung des Verfolgungsschicksals, insbesondere was die Teilnahme an den Demonstrationen und die Inhaftierungen durch die Hamas angeht, ist auch die angegebene Drohung der Hamas an den Vater des Klägers, diese würde ihm - dem Kläger - ins Bein schießen, sollte er nicht mit dem Demonstrieren aufhören, nicht glaubhaft. Gleiches gilt für die behaupteten Misshandlungen im Gefängnis, da schon die Inhaftierung nicht glaubhaft geschildert wurde.
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Hinsichtlich des Westjordanlandes als dem anderen Teil der Palästinensischen Autonomiegebiete wurde durch den Kläger schon keine politische Verfolgung geltend gemacht. Hierfür spricht auch nichts, da die Hamas-Organisation nur den Gaza-Streifen beherrscht. Im Westjordanland übt die konkurrierende Fatah die Kontrolle aus (Amnesty International, Human Rights in the Middle East and North Africa: Review in 2018, Palestine, Stand 26.2.2019, S. 1).
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Nach zusammenfassender Würdigung dieser Umstände kann eine beachtliche Wahrscheinlichkeit der Verfolgung, hier wegen der politischen Überzeugung nach § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG, nicht angenommen werden. Für eine Verfolgung aus einem anderen in § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG genannten Grund ist nichts ersichtlich und vorgetragen.
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c) Darüber hinaus steht der Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft § 3 Abs. 3 Satz 1 AsylG entgegen, nach dem ein Ausländer auch dann nicht Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, wenn er den Schutz oder den Beistand einer Organisation oder Einrichtung der Vereinten Nationen mit Ausnahme des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge nach Art. 1 Abschnitt D des Abkommens über die Rechtstellung der Flüchtlinge genießt. Das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästinaflüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) fällt derzeit als einzige Organisation in den Anwendungsbereich dieser Bestimmung, die Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der Qualifikations-RL 2011/95/EU in nationales Recht umsetzt (BVerwG, U.v. 25.4.2019 - 1 C 28/18 - NVwZ 2019, 1360 Rn. 18). Der Kläger ist nach seiner glaubhaften Angabe seit Geburt registrierter Palästina-Flüchtling des UNRWA. Gestützt wird seine Aussage durch ein in der Akte des Bundesamts auf Seite 87, links unten, befindliches Foto einer zwar schwer leserlichen, aber teilweise entzifferbaren Bescheinigung des UNRWA vom 26. Oktober 2014, in der bestätigt wird, dass der Kläger beim UNRWA registrierter Palästina-Flüchtling ist („… that … … is a Palestine refugee registered with UNRWA…“ [es folgt die nicht mehr vollständig identifizierbare Registrierungsnummer]). Ist eine Person beim UNRWA registriert, genügt dies nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs grundsätzlich als Nachweis der tatsächlichen Inanspruchnahme von Hilfe durch das UNRWA (EuGH, U.v. 17.6.2010 - Bolbol, C-31/09 - NVwZ 2010, 1211 Rn. 51 f.; dem folgend BayVGH, B.v. 7.11.2017 - 15 ZB 17.31475 - BeckRS 2017, 133270 Rn. 28).
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Es greift auch nicht die Regelung des § 3 Abs. 3 Satz 2 AsylG, nach der, wenn ein solcher Schutz und Beistand nicht länger gewährt wird, ohne dass die Lage des Betroffenen gemäß den einschlägigen Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen endgültig geklärt worden ist, § 3 Abs. 1 und Abs. 2 AsylG anwendbar sind. § 3 Abs. 3 Satz 2 AsylG ist eine Rechtsfolgenverweisung, d.h. bei Vorliegen ihrer tatbestandlichen Voraussetzungen ist ipso facto der Flüchtlingsstatus nach § 3 Abs. 1 AsylG zuzuerkennen, wenn nicht die Ausschlussgründe des § 3 Abs. 2 AsylG entgegenstehen (BayVGH, B.v. 7.11.2017 - 15 ZB 17.31475 - BeckRS 2017, 133270 Rn. 28). Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs genügt jedoch das freiwillige Verlassen des Schutzgebietes des UNRWA nicht für den Wegfall des Schutzes im Sinne des Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der Qualifikations-RL 2011/95/EU und des ihn umsetzenden § 3 Abs. 3 Satz 2 AsylG. Fehlende Freiwilligkeit ist dann anzunehmen, wenn vom Willen unabhängige Zwänge vorliegen, weil die betroffene Person sich in einer sehr unsicheren persönlichen Lage befindet und es dem UNRWA unmöglich ist, in seinem Mandatsgebiet Lebensverhältnisse zu gewährleisten, die mit der ihm obliegenden Aufgabe in Einklang stehen (EuGH, U.v. 19.12.2012 - Kott u.a., C-364/11 - NVwZ-RR 2013, 160 Rn. 58 ff.; dem folgend BayVGH, B.v. 7.11.2017 - 15 ZB 17.31475 - BeckRS 2017, 133270 Rn. 28). Nach den Darlegungen zur Verneinung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG und zur im Folgenden Ablehnung des subsidiären Schutzes nach § 4 Abs. 1 AsylG sowie zur Verneinung eines Abschiebungsverbots aus § 60 Abs. 5 AufenthG ist ein freiwilliges Verlassen des Gazastreifens durch den Kläger anzunehmen und § 3 Abs. 3 Satz 2 AsylG abzulehnen.
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2. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 4 AsylG.
35
Nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG ist der Ausländer subsidiär schutzberechtigt, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AsylG die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe, gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung oder gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts.
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a) Die Verhängung oder die Vollstreckung der Todesstrafe (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AsylG) droht dem Kläger nicht. Zwar wurde laut mehrerer Erkenntnismittel in den Jahren 2017 und 2018 im Gazastreifen die Todesstrafe verhängt und vollstreckt (Amnesty International, Human Rights in the Middle East and North Africa: Review in 2018, Palestine, Stand 26.2.2019, S. 3: Zwölf Mal verhängt in 2018; Amnesty International, Report Palästina 2017/18, Stand 23. Mai 2018, S. 5 f.: Sechs Mal verhängt und vollstreckt in 2017; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Palästinensische Gebiete - Gaza, Stand 12.9.2018, S. 21: Anstieg der Todesurteile auf 31 im Jahr 2017, sechs Vollstreckungen im Jahr 2017; hingegen werden keine Hinrichtungen für das Jahr 2019 vermeldet: Human Rights Watch, World Report 2020 - Israel and Palestine, S. 3).
37
Allerdings sind keine Gründe ersichtlich oder glaubhaft vorgetragen, dass dem Kläger bei Rückkehr in den Gazastreifen die Verhängung und gegebenenfalls Vollstreckung der Todesstrafe droht. Er selbst macht lediglich geltend, dass seinem Vater gesagt worden sei, dass ihm - dem Kläger - bei fortgesetzter Teilnahme an Demonstrationen ins Bein geschossen würde. Im Übrigen ist nicht einmal dieser Vortrag als glaubhaft anzusehen, s.o.
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b) Auch droht dem Kläger keine Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG) bei einer angenommenen Rückkehr in den Gazastreifen. Das entsprechende Vorbringen willkürlicher Verhaftungen und Misshandlungen sowie der Drohung, dass dem Kläger durch die Hamas ins Bein geschossen würde, ist, wie obenstehend bereits ausgeführt, wegen der erheblichen Widersprüche als unglaubhaft einzuordnen. Damit kann sich der Kläger auch nicht auf die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der Qualifikations-RL 2011/95/EU berufen, weil es bereits am Erleiden beziehungsweise der tatsächlichen Gefahr eines ernsthaften Schadens im Herkunftsland gefehlt hat. Für einen entsprechenden Nachfluchttatbestand im Sinne des § 28 Abs. 1a AsylG spricht nichts, insbesondere da der Kläger selbst angegeben hat, mittlerweile kaum noch Kontakt zu den Mitgliedern der Facebook-Gruppe zu haben, derentwegen er unter anderem bedroht worden sei und den Gazastreifen verlassen habe.
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c) Ebenso wenig ist der Kläger einer ernsthaften individuellen Bedrohung seines Lebens oder seiner Unversehrtheit als Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts ausgesetzt (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG).
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Ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG und Art. 15 Buchst. c der Qualifikations-RL 2011/95/EU liegt bereits tatsächlich nicht vor, da sich die den Gazastreifen beherrschende Hamas und die in der Westbank regierende Fatah nach früheren gewaltsamen Auseinandersetzungen am 23. März 2014 auf die Bildung einer Einheitsregierung geeinigt haben, die der erste Schritt auf dem Weg zu einer Aussöhnung sein sollte. Die für Anfang 2015 angedachten Präsidentschafts- und Parlamentswahlen fanden jedoch bislang nicht statt. Am 12. Oktober 2017 folgte ein weiteres Versöhnungsabkommen zwischen Hamas und Fatah. Nachdem der Premier der Einheitsregierung, Rami Hamdalla, bei einem Besuch im Gazastreifen beinahe Opfer eines Attentats geworden wäre, fror die Fatah die Finanzen für den Gazastreifen ein und forderte die Übergabe der Sicherheitsverantwortung für den Gazastreifen, was die Hamas ablehnte. Zwar stagnieren die Versöhnungsbemühungen derzeit, gleichwohl wird nicht von einem Wiederaufflammen gewaltsamer Auseinandersetzungen zwischen Hamas und Fatah berichtet (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Palästinensische Gebiete - Gaza, Stand 12.9.2018, S. 6 ff.).
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Schwieriger ist die Frage nach dem Vorliegen eines bewaffneten internationalen Konflikts im Sinne der § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG und Art. 15 Buchst. c der Qualifikations-RL 2011/95/EU zwischen Israel und Palästina, beziehungsweise der den Gazastreifen beherrschenden Hamas, zu beantworten. Zwar wurden im Jahr 2019, Stand November, 1378 Raketen durch bewaffnete palästinensische Gruppen aus dem Gazastreifen auf Israel abgeschossen und bei Angriffen vier israelische Zivilisten getötet und 123 verletzt (Human Rights Watch, World Report 2020 - Israel and Palestine, S. 3 Druckversion). Umgekehrt kamen beim Einsatz tödlicher Gewalt durch die israelischen Streitkräfte im Gazastreifen 2019 108 Palästinenser ums Leben und wurden 11.845 verletzt (UN OCHA, Protection of Civilians Report, 24.12.2019 - 6.1.2020), so dass in tatsächlicher Hinsicht durchaus ein bewaffneter Konflikt bejaht werden kann. Ob es auch ein internationaler bewaffneter Konflikt ist, der zumindest in Anlehnung an den gleichlautenden Art. 2 Abs. 1 der vier Genfer Abkommen vom 12. August 1949 (im Einzelnen Weber in Creifelds, Rechtswörterbuch, 23. Edition 2019, Stichwort Genfer Konventionen) als Krieg oder bewaffneter Konflikt mindestens zweier Staaten definiert werden kann (Dietz, Ausländer- und Asylrecht, 3. Aufl. 2020, Rn. 384), erscheint zum einen mit Blick auf die völkerrechtlich umstrittene Einordnung Palästinas als Staat problematisch (gegen eine Staatlichkeit etwa Benoliel/Perry, Israel, Palestine and the ICC, Michigan Journal of International Law 2010, S. 73 (79 ff.); dafür etwa Quigley, Michigan Journal of International Law 2011, S. 749; weitere Nachweise zum Streitstand bei Stegmiller, ZaöRV 2015, 435, 438 ff., Fn. 7). Zum anderen stellt der Gazastreifen neben dem Westjordanland nur einen Teil Palästinas dar, der nur de facto durch die Hamas beherrscht wird, obschon an sich für Gesamt-Palästina eine Einheitsregierung, getragen durch die Hamas und die das Westjordanland kontrollierende Fatah, die Exekutivgewalt innehaben soll (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Palästinensische Gebiete - Gaza, Stand 12.9.2018, S. 6 ff.). Hingegen drängt der Europäische Gerichtshof jedenfalls für den innerstaatlichen bewaffneten Konflikt im Sinne des Art. 15 Buchst. c der Qualifikations-RL 2011/95/EU eine völkerrechtliche Auslegung zurück und betont den im betreffenden Gebiet herrschenden Grad an Gewalt als maßgebliches Kriterium (EuGH, U.v. 30.1.2014 - Diakité, C-285/12 - NVwZ 2014, 573 Leitsatz und Rn. 35). Eine Übertragung dieser Wertung auch auf den internationalen bewaffneten Konflikt liegt zumindest nahe.
42
Jedoch kann die Frage nach dem Vorliegen eines internationalen bewaffneten Konflikts im Sinne der § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG und Art. 15 Buchst. c der Qualifikations-RL 2011/95/EU zwischen Israel und Palästina, respektive der den Gazastreifen beherrschenden Hamas, offenbleiben. Denn es fehlt jedenfalls an einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit des Klägers als Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt.
43
Die ernsthafte individuelle Bedrohung setzt nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zu Art. 15 Buchst. c der Qualifikations-RL 2011/95/EU nicht zwingend voraus, dass die subsidiären Schutz begehrende Person beweist, dass sie auf Grund ihrer persönlichen Situation innewohnenden Umständen spezifisch betroffen ist. Das Vorliegen einer solchen Bedrohung kann vielmehr ausnahmsweise auch dann angenommen werden, wenn der den bewaffneten Konflikt kennzeichnende Grad willkürlicher Gewalt ein so hohes Niveau erreicht, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass eine Zivilperson bei Rückkehr in das Herkunftsland oder gegebenenfalls in die betroffene Region allein durch ihre Anwesenheit in diesem Gebiet tatsächlich Gefahr liefe, einer solchen Bedrohung ausgesetzt zu sein (EuGH, U.v. 17.2.2009 - Elgafaji, C-465/07 - NVwZ 2009, 705, Leitsatz und Rn. 33 ff.; EuGH, U.v. 30.1.2014 - Diakité, C-285/12 - NVwZ 2014, 573 Rn. 30; s.a. BVerwG, U.v. 14.7.2009 - 10 C 9/08 - NVwZ 2010, 196 Rn. 13 ff.: „Verdichtung der allgemeinen Gefahr“).
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In der Person des Klägers selbst liegen keine individuellen gefahrerhöhenden Umstände vor. So ist er keinen berufstypisch bedingten sachlichen oder örtlichen Gefährdungen ausgesetzt. Seinen eigenen Angaben nach hat er zwar ein Journalismus-Studium abgeschlossen, diesen Beruf jedoch, bis auf eine ehrenamtliche Tätigkeit für drei Monate, nie ausgeübt, sondern Aushilfsjobs, etwa als Kellner, wahrgenommen. Auch seine Teilnahme an Demonstrationen gegen die Hamas würde, selbst wenn man sie als wahr unterstellte, keine individuell höhere Gefährdung in Bezug auf einen Konflikt zwischen Israel und der den Gazastreifen beherrschenden Hamas bedeuten.
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Auch weist der Konflikt zwischen Israel und der Hamas kein so hohes Niveau an willkürlicher Gewalt auf, dass der Kläger bereits alleine durch seine Anwesenheit im Gazastreifen oder in Gaza-Stadt ernsthaft und individuell bedroht wäre und sich die allgemeine Gefahr in seiner Person zum beachtlichen Risiko verdichten würde (BVerwG, U.v. 14.7.2009 - 10 C 9/08 - NVwZ 2010, 196 Rn. 13). Zur Ermittlung der Gefahrendichte in der Herkunftsregion des Klägers sind jedenfalls näherungsweise quantitative Feststellungen zur Gesamtzahl der in dem betreffenden Gebiet lebenden Zivilpersonen und der Akte willkürlicher Gewalt, die von den Konfliktparteien gegen Leib und Leben dieser Zivilpersonen verübt werden, zu treffen, sowie schließlich eine wertende Gesamtbetrachtung mit Blick auf die Anzahl der Opfer und die Schwere der Schädigungen (Todesfälle und Verletzungen) bei der Zivilbevölkerung vorzunehmen. Insoweit können auch die Kriterien zur Feststellung einer Gruppenverfolgung des Flüchtlingsrechts herangezogen werden (BVerwG, U.v. 27.4.2010 - 10 C 4/09 - NVwZ 2011, 56 Rn. 33; Bergmann in Berg-mann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 4 AsylG Rn. 16). Das Bundesverwaltungsgericht hat in seinem Urteil vom 17.11.2011 (10 C 13/10 - NVwZ 2012, 454 Rn. 22 f.) ein Risiko für eine Zivilperson, im Zuge eines bewaffneten Konflikts verletzt oder getötet zu werden, von 1:800 auf Jahresbasis als „so weit von der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entfernt [angesehen], dass sich der Mangel im Ergebnis nicht auszuwirken vermag“.
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Diesen Maßstab zugrunde gelegt liegt keine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit des Klägers im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG alleine durch seine Anwesenheit im Gazastreifen beziehungsweise in Gaza-Stadt vor.
47
Im Jahr 2019 wurden im Gazastreifen durch israelische Kräfte 108 Palästinenser getötet und 11.845 verletzt. Ein Jahr zuvor, 2018, waren 260 getötete und 25.177 verletzte Palästinenser zu verzeichnen (UN OCHA, Protection of Civilians Report, 24.12.2019 - 6.1.2020). Daraus ergibt sich bei einer Bevölkerungszahl im Gazastreifen von etwa 1,9 Millionen (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Palästinensische Gebiete - Gaza, Stand 12.9.2018, S. 7), wenn man unterstellt, dass sämtliche Opfer keine Kombattanten waren, für palästinensische Zivilisten im Gazastreifen ein Risiko durch israelische Streitkräfte getötet oder verletzt zu werden von etwa 1,3% im Jahr 2018 und von etwa 0,6% im Jahr 2019. Damit liegen beide Werte deutlich über dem genannten Verhältnis von 1:800 (0,125%), allerdings handelt es sich dabei um keinen starren Richtwert des Bundesverwaltungsgerichts dergestalt, dass bei einem Überschreiten automatisch eine ernsthafte individuelle Bedrohung im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG anzunehmen wäre. Zum einen sah das Bundesverwaltungsgericht ein Risiko von 1:800 als weit weg von der Schwelle der Erheblichkeit an (BVerwG, U.v. 17.11.2011 - 10 C 13/10 - NVwZ 2012, 454 Rn. 22 f.), weshalb ein Überschreiten dieses Wertes nicht sogleich zur Erheblichkeit führt. Zum anderen ist die quantitative Betrachtung, wie oben bereits ausgeführt, in eine wertende (qualitative) Gesamtbetrachtung einzubetten. Dabei ist zunächst zu berücksichtigen, dass das Risiko getötet zu werden, weit unterhalb der genannten Werte liegt, nämlich für das Jahr 2018 bei etwa 0,014% und für das Jahr 2019 bei etwa 0,006%, sprich die Gefahr (nicht tödlich) verletzt zu werden, im Vordergrund steht. Des Weiteren steht das Risiko getötet oder verletzt zu werden in signifikantem Zusammenhang mit den Massenprotesten („Great March of Return“) am Grenzzaun zwischen dem Gazastreifen und Israel. Der Bau des Grenzzauns durch Israel begann 1994. Nachdem er im Jahr 2000 im Zuge der zweiten Intifada angegriffen wurde, ersetzte Israel den Zaun durch eine Sicherheitsbarriere mitsamt einer Pufferzone im Bereich des Gazastreifens, die bis zu 300 Metern breit sein kann und variabel festgelegt wird. In sie darf nach israelischen Einsatzregeln scharf hineingeschossen werden (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Palästinensische Gebiete - Gaza, Stand 12.9.2018, S. 10). Die Proteste („Great March of Return“) an dieser Grenzanlage zu Israel begannen am 30. März 2018 (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Palästinensische Gebiete - Gaza, Stand 12.9.2018, S. 10) und zielen auf ein Rückkehrrecht vertriebener Palästinenser in heute zum israelischen Staat gehörende Gebiete sowie die Blockade des Gazastreifens durch Israel (Amnesty International, Human Rights in the Middle East and North Africa: Review of 2018 - Israel and the Occupied Palestinian Territories, Stand 26. Februar 2019, S. 2). Zwar wurden die Proteste am 26. Dezember 2019 durch das Organisationskomitee ausgesetzt, allerdings nur bis zum 30. März 2020, dem zweiten Jahrestag des Protestbeginns. Danach sollen sie auf monatlicher Basis und auch als Adhoc Proteste fortgeführt werden (UN OCHA, Protection of Civilians Report, 24.12.2019 - 6.1.2020). Im Rahmen der Grenzproteste kommt es zu gewaltsamen Konfrontationen mit Todesopfern zwischen der israelischen Armee und den Demonstranten, wobei inzwischen von einer Kontrolle der Proteste durch die Hamas auszugehen ist, die zur Gewaltausübung animiert (United States Department of State, Country Report on Human Rights Practices 2018 - West Bank and Gaza, S. 1 [S. 61 d. Gesamtversion zu Israel, Golan Heights, West Bank and Gaza]; s.a. United Kingdom Home Office, Country Policy and Information Note, Occupied Palestinian Territories, Stand Dezember 2018, S. 15: Die Hamas hat eingeräumt, dass eigene Mitglieder bei den Protesten getötet wurden). Etwa werden seitens der Palästinenser mit Brandsätzen ausgestattete Drachen und Molotov-Cocktails eingesetzt (Amnesty International, Human Rights in the Middle East and North Africa: Review of 2018 - Israel and the Occupied Palestinian Territories, Stand 26. Februar 2019, S. 2; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Palästinensische Gebiete - Gaza, Stand 12.9.2018, S. 10).
48
So wurden im Zuge der Grenzproteste im Jahr 2019 33 Palästinenser getötet und 11.523 verletzt, bei einer Gesamtzahl im Gazastreifen getöteter Palästinenser in 2019 von 108 und einer Gesamtzahl verletzter Palästinenser in 2019 von 11.845 (UN OCHA, Protection of Civilians Report, 24.12.2019 - 6.1.2020). Fasst man die Jahre 2018 und 2019 zusammen, so liegt die Zahl der bei den Protesten am Grenzzaun getöteten Palästinenser seit deren Beginn am 30. März 2018 bei 212, die der Verletzten bei 36.134, bei einer Gesamtzahl getöteter Palästinenser im Gazastreifen in 2018 und 2019 von insgesamt 368 und einer Gesamtzahl verletzter Palästinenser von 37.022 (UN OCHA, Protection of Civilians Report, 24.12.2019 - 6.1.2020). Bei einer wertenden Betrachtung zeigt sich somit, dass zwar das Risiko durch israelische Streitkräfte getötet, insbesondere aber verletzt zu werden, vor allem in der Nähe des Grenzzauns zu Israel und in Zusammenhang mit dem „Great March of Return“ erhöht ist, jedoch nicht auf den Gazastreifen als Ganzes bezogen. Gerade das erhöhte Verletzungsrisiko, welches erst die Signifikanz des Gesamtrisikos verletzt oder getötet werden mit Blick auf § 4 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 AsylG begründet, ist nahezu vollständig auf die Auseinandersetzungen anlässlich der Zaunproteste zurückzuführen und somit räumlich isoliert. Insofern muss sich der Kläger darauf verweisen lassen, sich nicht unmittelbar in die Pufferzone zum Grenzzaun hin zu begeben, beziehungsweise innerhalb des Gazastreifens mit größerem Abstand zur Grenze als sein Heimatort Gaza-Stadt Schutz zu suchen, etwa in den größeren Städten Khan Yunes oder Rafah im Süden des Gazastreifens an der Grenze zu Ägypten. Die Hamas unterbindet die interne Bewegungsfreiheit im Gazastreifen, von wenigen Ausnahmen abgesehen, nicht (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Palästinensische Gebiete - Gaza, Stand 12.9.2018, S. 23). Dies ergibt sich auch aus den Regelungen zur inländischen Fluchtalternative des § 4 Abs. 3 i.V.m. § 3e AsylG, die dem Ausländer grundsätzlich zumuten, in einem Teil seines Herkunftslandes Aufenthalt zu nehmen, in dem ihm keine tatsächliche Gefahr eines ernsthaften Schadens droht.
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Zudem ist festzuhalten, dass die israelische Armee jedenfalls nicht grundsätzlich „willkürliche Gewalt“ im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG und Art. 15 Buchst. c der Qualifikations-RL 2011/95/EU ausübt. Unter den Begriff willkürliche Gewalt lassen sich zielgerichtete, aber unterschiedslos gegen Zivilisten und Kombattanten ausgeübte Gewaltakte, die den gebotenen Schutz der Zivilbevölkerung missachten, subsumieren (Dietz, Ausländer- und Asylrecht, 3. Aufl. 2020, Rn. 390). Zwar gibt es immer wieder Vorfälle, in denen palästinensische Zivilbevölkerung den Angriffen des israelischen Militärs zum Opfer fällt: So wird etwa berichtet, dass im Jahr 2018 durch israelische Luftangriffe und Beschuss dreizehn Palästinenser im Gazastreifen getötet wurden, die nicht direkt an den Kampfhandlungen beteiligt waren (Amnesty International, Human Rights in the Middle East and North Africa: Review of 2018 - Israel and the Occupied Palestinian Territories, Stand 26.2.2019, S. 2). Weiter von einem israelischen Drohnenangriff am 28. Oktober 2018, dem drei Kinder im Alter von 14-15 Jahren zum Opfer fielen, während sie den Grenzzaun zwischen Israel und dem Gazastreifen überqueren wollten (Amnesty International, Human Rights in the Middle East and North Africa: Review of 2018 - Israel and the Occupied Palestinian Territories, Stand 26.2.2019, S. 2); die israelische Armee hingegen behauptet hinsichtlich dieses Vorfalls, die Kinder hätten einen Sprengsatz am Zaun gelegt und untersucht den Vorfall (United States Department of State, Country Report on Human Rights Practices 2018 - West Bank and Gaza, S. 4 [S. 65 d. Gesamtversion zu Israel, Golan Heights, West Bank and Gaza]). Zudem wird von der Tötung eines zum medizinischen Personal gehörenden Mannes nahe des Grenzzauns am 1. Juni 2018 durch einen israelischen Scharfschützen berichtet, der auf eine Gruppe weiß gekleideter Mediziner, in der das spätere Opfer stand, gefeuert haben soll, ohne dass von der Gruppe oder umstehenden Demonstranten Gewalt gegen israelische Soldaten ausgeübt worden sei (United States Department of State, Country Report on Human Rights Practices 2018 - West Bank and Gaza, S. 3 f. [S. 64 f. d. Gesamtversion zu Israel, Golan Heights, West Bank and Gaza]).
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Gleichwohl gibt es keine institutionelle oder systemische Vorgabe zum Einsatz von unterschiedslos gegen Kombattanten und Zivilbevölkerung gerichteter, also willkürlicher, Gewalt durch die israelische Armee. Dies zeigen die zahlreichen Untersuchungen der israelischen Armee beziehungsweise des israelischen Staates bei einem umstrittenen Einsatz militärischer Gewalt, wie etwa bezüglich des vorstehend erwähnten Vorfalls vom 28. Oktober 2018 mit der Tötung dreier palästinensischer Kinder (United States Department of State, Country Report on Human Rights Practices 2018 - West Bank and Gaza, S. 4 [S. 65 d. Gesamtversion zu Israel, Golan Heights, West Bank and Gaza]). Dabei wird auch, wie im Falle der Erschießung zweier palästinensischer Jugendlicher bei den Grenzprotesten, Fehlverhalten von israelischen Soldaten festgestellt: „(…) According to an Israeli military statement, an initial probe suggested the soldiers who shot and killed 18-year-old … … in March and 15-year-old … … in July during Gaza border protests did not adhere to open-fire regulations” (United States Department of State, Country Report on Human Rights Practices 2018 - West Bank and Gaza, S. 4 [S. 65 d. Gesamtversion zu Israel, Golan Heights, West Bank and Gaza]). Wenn auch der Generalanwalt des israelischen Militärs 2018 nur fünf strafrechtliche Ermittlungsverfahren wegen der Geschehnisse am Grenzzaun eingeleitet hat (United States Department of State, Country Report on Human Rights Practices 2018 - West Bank and Gaza, S. 3 [S. 64 d. Gesamtversion zu Israel, Golan Heights, West Bank and Gaza]), so ist doch nicht von einer grundsätzlichen Regellosigkeit, sprich Willkür, beim Einsatz militärischer Gewalt durch die israelischen Streitkräfte auszugehen, weil eben ein System zur Ahndung von Verstößen gegen die Einsatzregeln existiert.
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3. Auch besteht kein nationales Abschiebungsverbot zugunsten des Klägers.
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Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Die Abschiebung ist nach der EMRK insbesondere dann unzulässig, wenn dem Kläger in der Zielregion eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK droht. Schlechte humanitäre Verhältnisse im Zielland rechtfertigen nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) nur ausnahmsweise ein Abschiebungsverbot. Denn Art. 3 EMRK kann, so der EGMR, nicht dahin ausgelegt werden, dass er die Vertragsstaaten dazu verpflichtet, allen ihrer Hoheitsgewalt unterstehenden Personen eine Unterkunft oder finanzielle Unterstützung zu gewähren, damit sie einen gewissen Lebensstandard haben (EGMR, U.v. 21.1.2011 - M.S.S./Belgien u. Griechenland, 30696/09 - NVwZ 2011, 413 Rn. 249; s.a. BVerwG, B.v. 8.8.2018 - 1 B 25/18 - NVwZ 2019, 61 Rn. 10). Gleichwohl ist eine Verantwortlichkeit nach Art. 3 EMRK nicht ausgeschlossen, wenn eine vollständig von staatlicher Unterstützung abhängige Person, die behördlicher Gleichgültigkeit gegenübersteht, sich in so ernsthafter Armut und Bedürftigkeit befindet, dass dies mit der Menschenwürde unvereinbar ist (EGMR, U.v. 21.1.2011 - M.S.S./Belgien u. Griechenland, 30696/09 - NVwZ 2011, 413 Rn. 253). Zudem muss die unmenschliche oder erniedrigende Behandlung ein Mindestmaß an Schwere erreichen. Dessen Beurteilung ist relativ und hängt von den jeweiligen Umständen des Einzelfalls ab, etwa der Dauer der erniedrigenden Behandlung, ihren physischen und psychischen Wirkungen, sowie von Geschlecht, Alter und Gesundheitszustand des Klägers (EGMR, U.v. 21.1.2011 - M.S.S./Belgien u. Griechenland, 30696/09 - NVwZ 2011, 413 Rn. 219; s.a. EGMR, U.v. 13.12.2015 - Paposhvili/Belgien, 41738/10 - NVwZ 2017, 1187 Rn. 174).
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Diese Voraussetzungen sind für den Kläger als jungen, gesunden, alleinstehenden und arbeitsfähigen Mann mit abgeschlossenem Studium nicht erfüllt. Laut eigenen Angaben wohnte der Kläger vor seiner Ausreise in … in einer eigenen Wohnung und verdiente mit Aushilfsjobs etwa 350 US-Dollar pro Monat. Zudem brachte er - mit Hilfe seiner in … lebenden Familie - 8.500 US-Dollar für seine Ausreise auf. Angesichts dessen ist bei einer Rückkehr in den Gazastreifen davon auszugehen, dass sich der Kläger ein ausreichendes Existenzminimum erwirtschaften wird und überdies nötigenfalls Unterstützung durch den Familienverbund erhält.
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Dabei verkennt das Gericht nicht die schlechten Lebensbedingungen im Gazastreifen allgemein. So sind im Gazastreifen 80% der Bevölkerung auf humanitäre Hilfe angewiesen (Amnesty International, Human Rights in the Middle East and North Africa: Review in 2018, Palestine, 26.2.2019, S. 1). Es gibt wegen der Stromknappheit Probleme mit der Wasserversorgung und dem Abwasserkreislauf (Human Rights Watch, World Report 2020 - Israel and Palestine, S. 2), einigen Erkenntnismitteln nach haben 95% der Bevölkerung keinen Zugang zu sauberem Wasser (Report of the Special Rapporteur on the situation of human rights in the Palestinian territories occupied since 1967, 15.3.2019, S. 3 f.). Hinsichtlich der Abwasserbelastung soll jedoch eine 2018 fertiggestellte neue Kläranlage Abhilfe schaffen (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Palästinensische Gebiete - Gaza, Stand 12.9.2018, S. 28). Wegen der schlechten wirtschaftlichen Lage sowie hohen Lebensmittelpreisen sind circa 39% der Haushalte im Gazastreifen von schwerer oder moderater Lebensmittelunsicherheit betroffen (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, a.a.O., S. 27). Im Gazastreifen lag die Arbeitslosenquote im 2. Quartal 2018 bei 53,7%, das Durchschnittseinkommen pro Tag bei 14,64 Euro (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, a.a.O., S. 27), das moderate Wirtschaftswachstum reicht nicht aus, die Arbeitslosenquote zu senken, sondern führt vielmehr zu einem weiteren Anstieg (United Kingdom Home Office, Country Policy and Information Note, Occupied Palestinian Territories, Stand Dezember 2018, S. 26). Hinsichtlich der gesundheitlichen Versorgung sinken zwar die Kapazitäten des medizinischen Sektors im Allgemeinen, gleichwohl funktionieren die wesentlichen Abteilungen in den Krankenhäusern im Gazastreifen. Nichtsdestotrotz sind Patienten häufig auf eine Behandlung im Ausland angewiesen, weil etwa Medikamente, medizinische Ausrüstung und Personal fehlen. So waren Ende Januar 2018 40% der lebensnotwendigen Medikamente des Basisgesundheitskorbs der WHO ausverkauft, für weitere 43% bestanden nur Vorräte bis zu einem Monat (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Palästinensische Gebiete - Gaza, Stand 12.9.2018, S. 29 f.). Wegen der genannten erheblichen Defizite bei der Versorgung der Bevölkerung kommt den Hilfsleistungen der United Nations Relief and Works Agency for Palestine Refugees in the Near East (UNRWA) große Bedeutung bei der Gewährleistung eines Minimalstandards zu. Das UNRWA agiert, was die Versorgung anbelangt, als de facto Regierung und betreibt im Gazastreifen acht Flüchtlingslager, 267 Schulen, 21 Gesundheitszentren, 16 Unterstützungs- und Sozialeinrichtungen, drei Büros zur Vergabe von Mikrokrediten und zwölf Verteilungszentren für Nahrungsmittel (United Kingdom Home Office, Country Policy and Information Note, Occupied Palestinian Territories, Stand Dezember 2018, S. 30 ff.).
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In einer Gesamtschau der persönlichen Umstände des Klägers sowie der vor allem durch das UNRWA gewährleisteten Grundversorgung ist bei seiner Rückkehr in den Gazastreifen nicht mit einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK zu rechnen. Ein Verstoß gegen Art. 3 EMRK folgt auch nicht aus einer dem Kläger bei Rückkehr drohenden allgemeinen Situation der Gewalt, die der EGMR nur in äußerst extremen Fällen annimmt (EGMR, U.v. 28.6.2011 - Sufi u. Elmi/Vereinigtes Königreich, 8319/07 - NVwZ 2012, 681 Rn. 218). Diese Voraussetzungen liegen nach den Ausführungen unter 2. nicht vor (vgl. BayVGH, U.v. 8.11.2018 - 13a B 17.31960 - juris Rn. 38). Es besteht kein Abschiebungsverbot zugunsten des Klägers nach § 60 Abs. 5 AufenthG.
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Ferner kann der Kläger kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG geltend machen. Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für ihn eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Die Norm setzt voraus, dass der Ausländer bei einer Rückkehr mit hoher - und nicht nur beachtlicher - Wahrscheinlichkeit einer extremen Gefahrenlage hinsichtlich der genannten Rechtsgüter ausgesetzt wäre (BVerwG, U.v. 8.8.2018 - 1 B 25/18 - NVwZ 2019, 61 Rn. 13). Er müsste „gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert“ werden (BayVGH, U.v. 8.11.2018 - 13a B 17.31960 - juris Rn. 60).
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Unter Berücksichtigung dieses Maßstabs sind die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 AufenthG nicht erfüllt. Etwaige gesundheitliche Beschwerden hat der Kläger nicht vorgetragen. Im Übrigen wird auf die Ausführungen zu § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK verwiesen. Insbesondere sind hinsichtlich allgemeiner Gefahren im Zielstaat die Anforderungen an den Wahrscheinlichkeitsmaßstab in § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG höher als in § 60 Abs. 5 AufenthG, so dass, wenn die Voraussetzungen von § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK nicht erfüllt sind, es diejenigen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG erst recht nicht sind (vgl. BayVGH, U.v. 8.11.2018 - 13a B 17.31960 - juris Rn. 61).
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4. Die im angefochtenen Bescheid ergangene Ausreiseaufforderung und die Abschiebungsandrohung sind gemäß § 38 Abs. 1 AsylG und § 34 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 59 AufenthG rechtmäßig. Das Gericht schließt sich der Auffassung des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts an, dass eine Abschiebungsandrohung auch hinsichtlich der Palästinensischen Autonomiegebiete, im angefochtenen Bescheid als Gazastreifen oder Westjordanland konkretisiert, erfolgen kann, obschon deren völkerrechtlicher Status als Staat wenigstens umstritten ist (NdsOVG, U.v. 14.12.2017 - 8 LC 99/17 - BeckRS 2017, 138723 Rn. 27 ff.).
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Die Abschiebungsandrohung ist auch nicht deshalb rechtswidrig, weil sich die tatsächliche Durchführung der Abschiebung wegen der Restriktionen bei der (Wieder) Einreise in den Gazastreifen oder in das Westjordanland als problematisch erweisen könnte. Zum einen ist die tatsächliche Durchführung der Abschiebung im Asylverfahren nicht durch das Bundesamt zu prüfen, sondern durch die Ausländerbehörde (Pietzsch in Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, § 34 AsylG Rn. 31 m.w.N.). Zum anderen ist, wenn auch derzeit eine Einreise in das Westjordanland für in Gaza ansässige Palästinenser durch Israel nur im absoluten Ausnahmefall gestattet wird (Auskunft des Auswärtigen Amtes an das Bundesamt vom 7.3.2019, S. 1), eine Einreise in den Gazastreifen über den Grenzübergang Rafah über Ägypten und über den Grenzübergang Erez von Israel aus, wenn auch unter Einschränkungen und Voraussetzungen, mit gültigen Ausweispapieren der palästinensischen Behörden jedenfalls grundsätzlich möglich (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Palästinensische Gebiete - Gaza, Stand 12.9.2018, S. 24).
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5. Die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung gemäß §§ 11 Abs. 1, Abs. 2, 75 Nr. 12 AufenthG begegnet keinen rechtlichen Bedenken.
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Auch unter Berücksichtigung des nunmehr geltenden § 11 Abs. 1 AufenthG, wonach das Einreise- und Aufenthaltsverbot nicht mehr aufgrund einer gesetzgeberischen Entscheidung eintritt, sondern es hierfür vielmehr einer behördlichen Entscheidung bedarf (vgl. BVerwG, B.v. 13.7.2017 - 1 VR 3.17 - juris Rn. 71), bestehen keine Bedenken hinsichtlich der Rechtmäßigkeit der Ziffer 6 des Bescheides. Die nunmehr geforderte Einzelfallentscheidung über die Verhängung eines Einreiseverbots von bestimmter Dauer ist in unionsrechtskonformer Auslegung regelmäßig in einer behördlichen Befristungsentscheidung gemäß § 11 Abs. 2 AufenthG zu sehen (BVerwG, B.v. 13.7.2017 - 1 VR 3.17 - juris Rn. 72; s.a. BVerwG, U.v. 21.8.2018 - 1 C 21/17 - NVwZ 2019, 483 Rn. 25).
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Eine solche hat die Beklagte in Ziffer 6 des streitgegenständlichen Bescheids getroffen. Die Entscheidung über die Befristung hat gemäß § 11 Abs. 2 Satz 3 AufenthG von Amts wegen bei Erlass des Einreise- und Aufenthaltsverbots zu ergehen und ist nach § 11 Abs. 3 Satz 1
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AufenthG eine Ermessensentscheidung. Das Gericht prüft die Festsetzung in zeitlicher Hinsicht nur auf Ermessensfehler hin (§ 114 Satz 1 VwGO). Solche sind nicht ersichtlich, insbesondere bestehen keine Bindungen des Klägers an die Bundesrepublik Deutschland, die fristverkürzend zu berücksichtigen wären. Er selbst hat im Asylverfahren vorgetragen, alleine in Deutschland zu sein und hier keine Verwandten zu haben.
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6. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 161 Abs. 1, 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben.