Inhalt

BayObLG, Beschluss v. 15.05.2019 – 1 AR 32/19
Titel:

Bindende Verweisung trotz übersehener Zuständigkeit

Normenkette:
ZPO § 281 Abs. 2 S. 2
Leitsätze:
1. Das Amtsgericht hat - rechtsirrig - die Vorschrift des § 22 ZPO übersehen, so dass es meinte, es komme nur auf den allgemeinen Gerichtsstand des Beklagten, der in München liegt, an. Dieser Rechtsfehler allein vermag den Vorwurf der Willkür nicht zu begründen. (Rn. 21) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die Bindungswirkung eines Verweisungsbeschlusses entfällt nicht schon dann, wenn das Gericht eine seine örtliche Zuständigkeit begründende Norm, auf die sich der Kläger nicht berufen hat, übersieht (vgl. BGH BeckRS 2015, 11660).(Rn. 21) (redaktioneller Leitsatz)
3. Angesichts des übereinstimmenden Verweisungsbegehrens der Parteien schadet es auch nicht, dass der Verweisungsbeschluss nicht näher begründet worden ist (vgl. BGH BeckRS 2010, 6880).(Rn. 24) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Bindungswirkung, Gerichtsstand, Verweisungsbeschluss, Willkür
Fundstelle:
BeckRS 2019, 8755

Tenor

Örtlich zuständig ist das Amtsgericht München.

Gründe

I.
1
Der Kläger ist ein rechtsfähiger Verein, der Beklagte dessen früheres Mitglied. Mit Klage vom 19. November 2018 verlangte der Kläger beim Amtsgericht Coburg vom Beklagten die Bezahlung eines Teils des Mitgliedsbeitrags für das Jahr 2018. Nach dem Vorbringen des Klägers schied der Beklagte mit Schreiben vom 7. September 2018 mit sofortiger Wirkung aus dem Verein aus. Der Beklagte habe den Jahresbeitrag satzungswidrig nur für den Zeitraum bis einschließlich 30. September 2018 beglichen.
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Der Kläger hat seinen Sitz im Amtsgerichtsbezirk Coburg. Der Beklagte hat seinen allgemeinen Gerichtsstand im Bezirk des Amtsgerichts München.
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Mit Verfügung vom 23. November 2018 wies das Amtsgericht Coburg den Kläger darauf hin, dass es örtlich unzuständig sei. Dem Kläger wurde aufgegeben zu begründen, warum er Klage zum Amtsgericht Coburg erhoben habe, oder Verweisung zu beantragen.
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Mit Schriftsatz vom 5. Dezember 2018 stellte der Kläger den Antrag, das Verfahren an das örtlich zuständige Amtsgericht München zu verweisen. Mit Verfügung vom 5. Dezember 2018 wies das Amtsgericht Coburg darauf hin, dass es beabsichtige, dem Antrag stattzugeben. Die Parteien erhielten Gelegenheit zur Stellungnahme. Mit Schriftsatz vom 11. Dezember 2018 teilte der Beklagte mit, dass er dem Verweisungsantrag des Klägers zustimme.
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Mit Beschluss vom 13. Dezember 2018 erklärte sich das Amtsgericht Coburg für örtlich unzuständig und verwies den Rechtsstreit an das Amtsgericht München. Die Entscheidung beruhe auf § 281 Abs. 1 ZPO. Das angegangene Gericht sei örtlich unzuständig.
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Mit Verfügung vom 2. Januar 2019 wies das Amtsgericht München auf seine Unzuständigkeit hin und leitete die Akten an das Amtsgericht Coburg zur Überprüfung seines Beschlusses vom 13. Dezember 2018 zurück. Der Verweisungsbeschluss sei objektiv willkürlich und nicht bindend. Es bestehe die Zuständigkeit des Amtsgerichts Coburg gemäß § 22 ZPO. Wie sich aus dem Rubrum der Klage und § 1 der mit ihr vorgelegten Satzung ergebe, habe die Klagepartei ihren Sitz in Coburg und sei im dortigen Vereinsregister eingetragen.
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Mit Verfügung vom 17. Januar 2019 bat das Amtsgericht Coburg das Amtsgericht München, sich rechtskräftig für unzuständig zu erklären. Die Ausführungen des Amtsgerichts München seien zutreffend, dennoch sei der Verweisungsbeschluss nicht willkürlich. Die Regelung des § 22 ZPO sei schlicht übersehen worden. Auch habe sich keine Partei auf diese Norm berufen. Zudem hätten die Parteivertreter ihr Einverständnis mit einer Verweisung an das Amtsgericht München erklärt.
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Mit Beschluss vom 30. Januar 2019 erklärte sich das Amtsgericht München für örtlich unzuständig. An den Ausführungen in seiner Verfügung vom 2. Januar 2019 habe sich nichts geändert. Nach allgemeiner Meinung komme es nicht auf das subjektive Wissen des erkennenden Gerichts, sondern auf die objektive Rechtslage an.
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Mit Verfügung vom 27. Februar 2019 legte das Amtsgericht Coburg die Akten dem Bayerischen Obersten Landesgericht zur Bestimmung des zuständigen Gerichts vor.
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Die Parteien wurden vom Senat angehört. Der Kläger vertritt die Auffassung, das Amtsgericht Coburg sei gemäß § 22 ZPO örtlich zuständig. Die Parteien hätten zwar auch übereinstimmend die Verweisung nach München beantragt. Dies sei jedoch irrelevant, wenn, wie hier, ein besonderer Gerichtsstand gesetzlich begründet sei. Der Beklagte hat keine Stellungnahme abgegeben.
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II. Auf die zulässige Vorlage des Amtsgerichts Coburg ist die örtliche Zuständigkeit des Amtsgerichts München zu bestimmen.
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1. Die Voraussetzungen für die Zuständigkeitsbestimmung gemäß § 36 Abs. 1 Nr. 6, Abs. 2 ZPO durch das Bayerische Oberste Landesgericht liegen vor (vgl. Schultzky in Zöller, ZPO, 32. Aufl. 2018, § 36 Rn. 34 ff. m. w. N.). Das Amtsgericht Coburg und das Amtsgericht München haben sich bindend für unzuständig erklärt; das Amtsgericht Coburg durch unanfechtbaren Verweisungsbeschluss vom 13. Dezember 2018 (§ 281 Abs. 2 Satz 2 ZPO), das Amtsgericht München in der Form der den Parteien bekannt gegebenen (vgl. Schultzky in Zöller, ZPO, § 36 Rn. 35) ersichtlich abschließenden Verweigerung der Übernahme des Verfahrens mit Beschluss vom 30. Januar 2019. Die jeweils ausdrücklich ausgesprochene Leugnung der eigenen Kompetenz erfüllt das Tatbestandsmerkmal „rechtskräftig“ im Sinne des § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO (BGH, Beschluss vom 10. Dezember 1987, I ARZ 809/87, BGHZ 102, 338/340 m. w. N; Beschluss vom 19. Februar 2013, X ARZ 507/12, NJW-RR 2013, 764 Rn. 5).
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Zuständig für die Bestimmungsentscheidung ist gemäß § 36 Abs. 2 ZPO i.V. m. § 9 EGZPO das Bayerische Oberste Landesgericht, weil die Bezirke der am negativen Kompetenzkonflikt beteiligten Gerichte zum Zuständigkeitsbereich unterschiedlicher Oberlandesgerichte (Bamberg und München) gehören und das mit der Rechtssache zuerst befasste Gericht in Bayern liegt.
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2. Örtlich zuständig zur Entscheidung über das Klagebegehren ist gemäß § 281 Abs. 2 Satz 4 ZPO das Amtsgericht München, weil es an den Verweisungsbeschluss des Amtsgerichts Coburg gebunden ist.
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a) Der Gesetzgeber hat in § 281 Abs. 2 Sätze 2 und 4 ZPO die grundsätzliche Unanfechtbarkeit von Verweisungsbeschlüssen und deren Bindungswirkung angeordnet. Dies hat der Senat im Verfahren nach § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO zu beachten. Im Falle eines negativen Kompetenzkonflikts innerhalb der ordentlichen Gerichtsbarkeit ist daher grundsätzlich das Gericht als zuständig zu bestimmen, an das die Sache in dem zuerst ergangenen Verweisungsbeschluss verwiesen worden ist. Demnach entziehen sich auch ein sachlich zu Unrecht ergangener Verweisungsbeschluss und die diesem Beschluss zugrunde liegende Entscheidung über die Zuständigkeit grundsätzlich jeder Nachprüfung (st. Rspr.; BGH, Beschluss vom 10. September 2002, X ARZ 217/02, NJW 2002, 3634/3635; Beschluss vom 10. Dezember 1987, I ARZ 809/87, BGHZ 102, 338/340;; vgl. auch Greger in Zöller, ZPO, § 281 Rn. 16).
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Die Bindungswirkung entfällt nur dann, wenn der Verweisungsbeschluss schlechterdings nicht als im Rahmen des § 281 ZPO ergangen anzusehen ist, etwa weil er auf einer Verletzung rechtlichen Gehörs beruht, nicht durch den gesetzlichen Richter erlassen wurde oder jeder gesetzlichen Grundlage entbehrt und deshalb als objektiv willkürlich betrachtet werden muss. Hierfür genügt nicht, dass der Beschluss inhaltlich unrichtig oder fehlerhaft ist. Willkür liegt nur vor, wenn der Verweisungsbeschluss bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz beherrschenden Gedanken nicht mehr verständlich erscheint und offensichtlich unhaltbar ist (st. Rspr.; BGH, Beschluss vom 15. August 2017, X ARZ 204/17, NJW-RR 2017, 2131 Rn. 15 m. w. N.; Beschluss vom 9. Juni 2015, X ARZ 115/15, NJW-RR 2015, 1016 Rn. 9; Greger in Zöller, ZPO, § 281 Rn. 17).
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b) Bei Anlegung dieses Maßstabs ist der Verweisungsbeschluss des Amtsgerichts Coburg nicht als willkürlich anzusehen, sondern entfaltet die im Gesetz vorgesehene Bindungswirkung.
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Ein Verweisungsbeschluss kann insbesondere dann den Charakter einer willkürlichen Maßnahme haben, wenn sich das Gericht - bewusst oder unbewusst - darüber hinwegsetzt, dass die Verweisung die eigene Unzuständigkeit voraussetzt, bei offensichtlich gegebener eigener Zuständigkeit also nicht möglich ist (vgl. BGH, Beschluss vom 10. September 2002, a. a. O; Beschluss vom 19. Januar 1993, X ARZ 845/92, NJW 1993, 1273; BayObLG, Beschluss vom 16. Oktober 2003, 1Z AR 115/03, juris Rn. 14; Beschluss vom 9. September 1993, 1Z AR 25/93, BayObLGZ 1993, 317/319).
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Ein derartiger Fall liegt hier jedoch nicht vor.
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aa) Der klägerische Verein hat zwar die Klage bei dem nach § 22 ZPO örtlich zuständigen Gericht in Coburg erhoben, § 35 ZPO. Er hat im Bezirk des Amtsgerichts Coburg seinen allgemeinen Gerichtsstand, §§ 12, 17 ZPO. § 22 ZPO begründet einen besonderen Gerichtsstand auch für Klagen, bei denen, wie hier, die Personenvereinigung von ihren Mitgliedern nach Beendigung der Mitgliedschaft Beitragszahlungen verlangt (vgl. OLG Köln, Beschluss vom 28. Mai 2003, 5 W 54/03, NJW 2004, 862; OLG Celle, Urt. v. 20. Juni 1975, 8 U 29/75, VersR 1975, 993;; Hüßtege in Thomas/Putzo, ZPO, 40. Aufl. 2019, § 22 Rn. 2; Schultzky in Zöller, ZPO, § 22 Rn. 5).
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bb) Jedoch ist der Verweisungsbeschluss bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz beherrschenden Gedanken nicht offensichtlich unhaltbar. Das Amtsgericht Coburg hat - rechtsirrig - die Vorschrift des § 22 ZPO übersehen, so dass es meinte, es komme nur auf den allgemeinen Gerichtsstand des Beklagten, der in München liegt, an. Dieser Rechtsfehler allein vermag den Vorwurf der Willkür nicht zu begründen. Die Bindungswirkung eines Verweisungsbeschlusses entfällt nicht schon dann, wenn das Gericht eine seine örtliche Zuständigkeit begründende Norm, auf die sich der Kläger nicht berufen hat, übersieht (BGH, Beschluss vom 9. Juni 2015, X ARZ 115/15, NJW-RR 2015, 1016). Zusätzliche Umstände, die die getroffene Entscheidung als schlechterdings nicht mehr nachvollziehbar erscheinen lassen, liegen nicht vor (BGH, Beschluss vom 9. Juni 2015, X ARZ 115/15, a. a. O. Rn. 12; vgl. BGH, Beschluss vom 18. Dezember 2010, Xa ARZ 14/10, NJW-RR 2010, 891 Rn. 16).
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(1) Es bestehen keine Anhaltspunkte dafür, die zuständige Richterin des Amtsgerichts Coburg habe die mögliche Fehlerhaftigkeit einer auf §§ 12, 13 ZPO gestützten Verweisung erkannt, diese aber zu dem Zweck hingenommen, eine Bindungswirkung herbeizuführen (vgl. BGH, Beschluss vom 18. Dezember 2010, Xa ARZ 14/10, a. a. O. Rn. 17). Eine Befassung mit der zuständigkeitsbegründenden Norm hat sich auch den Umständen nach nicht aufgedrängt (vgl. BGH, Beschluss vom 9. Juni 2015, X ARZ 115/15, a. a. O. Rn. 12). Es liegt kein Sachverhalt vor, in dem das verweisende Gericht durch Vortrag einer Partei Anlass hatte, die Fehlerhaftigkeit der Verweisung zu erkennen (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 14. Mai 2014, I-32 SA 32/14, MDR 2014, 1106; OLG Frankfurt, Beschluss vom 21. Februar 1996, 21 AR 10/96, NJW-RR 1996, 1403). Der anwaltlich vertretene Kläger hatte mit der Nachfrage des Amtsgerichts Coburg, ob Verweisung beantragt werde, Gelegenheit erhalten, auf die sich aus § 22 ZPO ergebende Zuständigkeit des Amtsgerichts Coburg hinzuweisen. Entgegenstehende Bedenken mit Blick auf § 22 ZPO wurden vor Erlass des Verweisungsbeschlusses nicht thematisiert.
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(2) Zwar mag eine Prüfung der Zuständigkeit aufgrund von § 22 ZPO nahegelegen haben. Eine Befassung mit dem besonderen Gerichtsstand der Mitgliedschaft drängte sich aber nicht derart auf, dass die getroffene Verweisungsentscheidung als schlechterdings nicht auf der Grundlage von § 281 ZPO beruhend angesehen werden kann. Aus dem Vortrag in der Klageschrift ergab sich, dass der Beklagte nicht mehr Mitglied des klägerischen Vereins war und die Parteien gerade darum stritten, ob der auf den Zeitraum nach dem Ausscheiden des Beklagten entfallende Anteil des Jahresmitgliedsbeitrags von diesem zu entrichten war. Dass das Amtsgericht Coburg den ihm in der Klage unterbreiteten Sachverhalt nicht von sich aus mit § 22 ZPO in Verbindung gebracht hat, stellt vor diesem Hintergrund lediglich einen einfachen Rechtsfehler dar, lässt die getroffene Entscheidung aber nicht als nicht mehr verständlich und offensichtlich unhaltbar erscheinen.
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cc) Angesichts des übereinstimmenden Verweisungsbegehrens der Parteien schadet es auch nicht, dass der Verweisungsbeschluss nicht näher begründet worden ist. Dies war ersichtlich durch die Übereinstimmung der Parteien verursacht. In solchen Fällen begründet das Fehlen einer näheren Begründung nicht die Willkürlichkeit der Verweisung (BGH, Beschluss vom 18. Dezember 2010, Xa ARZ 14/10, a. a. O. Rn. 17; Beschluss vom 27. Mai 2008, X ARZ 45/08, NJW-RR 2008, 1309).