Inhalt

VGH München, Beschluss v. 14.03.2019 – 10 ZB 18.2388
Titel:

Verbrauch eines Ausweisungsgrundes

Normenketten:
VwGO § 124 Abs. 2 Nr. 1
AufenthG § 53 Abs. 1 u. 2, § 54 Abs. 2 Nr. 1, § 55 Abs. 1 Nr. 4
Leitsatz:
Der „Verbrauch" eines Ausweisungsgrundes steht unter dem Vorbehalt, dass sich die für die behördliche Entscheidung maßgeblichen Umstände nicht ändern; eine solche Veränderung kann den dem Ausländer vermittelten Vertrauensschutz nachträglich wieder entfallen lassen. Dies ist insbesondere dann anzunehmen, wenn der Ausländer erneut in einschlägiger Weise strafrechtlich in Erscheinung tritt und damit die Frage des Bestehens einer Wiederholungsgefahr hinsichtlich der Begehung weiterer erheblicher Straftaten durch den Ausländer und des Erfordernisses einer Ausweisung (erneut) aufgeworfen wird. (Rn. 10)
Schlagworte:
Ausländerrecht, Ausweisung, Bleibeinteresse wegen Umgangsrecht, tatsächlich gelebte Nähebeziehung, Verbrauch eines Ausweisungsgrundes, Straftat, Wiederholungsgefahr, Bleibeinteresse, Umgangsrecht, Ausweisungsgrund, Verbrauch
Vorinstanz:
VG Augsburg, Urteil vom 11.09.2018 – Au 1 K 17.1938
Fundstelle:
BeckRS 2019, 6029

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 5.000,- Euro festgesetzt.

Gründe

1
Mit seinem Antrag auf Zulassung der Berufung verfolgt der Kläger seine in erster Instanz erfolglose Klage gegen den Bescheid der Beklagten vom 29. November 2017 weiter, mit dem er aus der Bundesrepublik Deutschland ausgewiesen, das Einreise- und Aufenthaltsverbot auf drei Jahre befristet und seine Abschiebung in die Republik Kosovo angedroht wurde.
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Der Antrag auf Zulassung der Berufung ist unbegründet. Aus dem der rechtlichen Überprüfung durch den Senat allein unterliegenden Vorbringen im Zulassungsantrag ergeben sich nicht die geltend gemachten ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO.
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Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO bestünden dann, wenn der Kläger im Zulassungsverfahren einen einzelnen tragenden Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung des Erstgerichts mit schlüssigen Gegenargumenten infrage gestellt hätte (BVerfG, B.v. 10.9.2009 - 1 BvR 814/09 - juris Rn. 11; B.v. 9.6.2016 - 1 BvR 2453/12 - juris Rn. 16). Dies ist jedoch nicht der Fall.
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Das Verwaltungsgericht hat die Ausweisung des Klägers gemäß §§ 53 ff. AufenthG als rechtmäßig erachtet. Der Kläger habe wiederholt Straftaten begangen und es bestehe bis heute eine erhebliche Wiederholungsgefahr. Das Ausweisungsinteresse wiege schwer (§ 54 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG), ein besonders schwer wiegendes Ausweisungsinteresse (§ 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG) liege indes nicht vor, weil die Beklagte dem Kläger in Kenntnis der Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und drei Monaten vom 14. Juli 2010 noch im November 2013 eine Aufenthaltserlaubnis erteilt und diese zuletzt (2015) noch bis August 2018 verlängert habe. Demgegenüber könne der Kläger ein schwerwiegendes Bleibeinteresse nach § 55 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG geltend machen, weil er eine Aufenthaltserlaubnis besessen und sich seit mindestens fünf Jahren im Bundesgebiet aufgehalten habe. Auf ein besonders schwer wiegendes Bleibeinteresse nach § 55 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG könne sich der Kläger hingegen nicht berufen, weil er mit seiner Tochter weder in einer familiären Lebensgemeinschaft lebe noch ein Personensorgerecht für einen minderjährigen ledigen Deutschen oder mit diesem ein Umgangsrecht ausübe. Seit dem Umzug des Klägers nach Nordrhein-Westfalen halte er nur noch telefonischen Kontakt und es fänden lediglich vereinzelt Treffen zwischen Vater und Tochter statt. Bei der Abwägung unter umfassender Würdigung aller Einzelfallumstände überwiege unter Berücksichtigung der in § 53 Abs. 2 AufenthG genannten Kriterien das öffentliche Interesse an der Ausreise. Zugunsten des Klägers spreche der langjährige Aufenthalt im Bundesgebiet, sein Kontakt zu seiner dreizehnjährigen Tochter und dass ein volljähriger, verheirateter Sohn in Deutschland lebe. Auch gehe der Kläger wieder einer Erwerbstätigkeit nach. Zlasten des Klägers sprächen die wiederholten Rechtsverstöße, die mehrfach zu Verurteilungen geführt hätten, ohne dass sich der Kläger durch die Haftstrafen davon habe abhalten lassen, erneut straffällig zu werden. Erst jüngst habe der Kläger erneut eine Körperverletzung begangen, bei der ihm laut Zeugenangaben ein aggressives Verhalten attestiert worden sei. Auch wenn er während seines Aufenthalts zum Teil, wie auch momentan, eine feste Einnahmequelle habe, so habe er über einen langen Zeitraum Arbeitslosengeld II empfangen. Im Ergebnis überwiege aufgrund der wiederholt eingetretenen Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung und der sich dadurch gezeigten Unbelehrbarkeit des Klägers zu rechtstreuem Verhalten das Ausweisungsinteresse. Die Kontakte zur Tochter könnten in der Form auch vom Kosovo aus aufrechterhalten werden. Sein Sohn sei volljährig und daher weniger schutzbedürftig. Die Ausweisung sei schließlich auch unter Berücksichtigung von Art. 8 EMRK angemessen.
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Die vom Kläger in der Zulassungsbegründung dagegen vorgebrachten Einwendungen begründen keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des erstinstanzlichen Urteils.
6
Soweit der Kläger geltend macht, dass hinsichtlich der Annahme einer Wiederholungsgefahr das Verwaltungsgericht den Sachverhalt anders gewertet habe als die Ausländerbehörde, ist diese Rüge nicht geeignet, die Richtigkeit der Gefahrenprognose des Verwaltungsgerichts und damit des erstinstanzlichen Urteils ernstlich in Zweifel zu ziehen. Der Kläger zeigt damit nicht auf, weshalb die Entscheidung des Erstgerichts fehlerhaft sein soll. Vielmehr räumt er selbst ein, dass „im Ergebnis keine Bedenken bestehen, die hierfür erforderliche Wiederholungsgefahr beim Kläger festzustellen“. Entsprechendes gilt in Bezug auf den Einwand des Klägers, dass das Gericht im Gegensatz zur Beklagten bei der von ihm getroffenen Abwägungsentscheidung von einer anderen Ausgangslage, nämlich einem dem Ausweisungsinteresse gleichwertig gegenüberstehenden Bleibeinteresse, ausgegangen sei. Auch damit wird die Richtigkeit des angegriffenen Urteils nicht ernstlich in Frage gestellt.
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Weiter hat der Kläger im Zulassungsverfahren nicht substantiiert dargelegt, dass er entgegen der Auffassung des Erstgerichts ein besonders schwerwiegendes Bleibeinteresse (§ 55 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG) für sich in Anspruch nehmen kann. Er hat zwar ausgeführt, dass er in Bezug auf den Umgang mit seiner minderjährigen Tochter in der mündlichen Verhandlung nur die momentane Situation geschildert habe und dies weder der „Möglichkeit“ noch der „künftigen Absicht“ entgegenstehe, den Umgang wieder wie früher auszuüben. Daraus geht aber nicht hervor, dass der Kläger zum maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung über den Zulassungsantrag (vgl. BayVGH, B.v. 31.1.2019 - 10 ZB 18.1534 - juris Rn. 11; B.v. 20.2.2017 - 10 ZB 15.1804 - juris Rn. 7; B.v. 16.11.2016 - 10 ZB 16.81 - juris Rn. 8 m.w.N.) das Umgangsrecht, wie das Verwaltungsgericht zutreffend ausführt, tatsächlich auch ausübt (vgl. BayVGH, U.v. 28.6.2016 - 10 B 13.1982 - juris Rn. 45; B.v. 20.2.2017 - 10 ZB 15.1804 - juris Rn. 12; B.v. 10.10.2017 - 19 ZB 16.2636 - juris Rn. 38; Tanneberger in BeckOK Ausländerrecht, Kluth/Heusch, Stand 1.5.2018, § 55 Rn. 23; Hailbronner, Ausländerrecht, Stand November 2018, § 55 Rn. 38). Denn nach der Gesetzesbegründung ist für die Begünstigung des Personensorge- bzw. Umgangsrechts erforderlich, dass es sich um eine tatsächlich gelebte Nähebeziehung, d. h. ein tatsächliches Kümmern um den deutschen Minderjährigen, handeln muss (BT-Drs. 18/4097, S. 53).
8
Soweit der Kläger die Interessenabwägung nach § 53 Abs. 1 und 2 AufenthG angreift, weil das Verwaltungsgericht zur Begründung der Wiederholungsgefahr auch „verbrauchte“ Ausweisungsgründe, insbesondere eine Verurteilung aus dem Jahr 2010, herangezogen habe, dringt er damit ebenfalls nicht durch. Denn das Verwaltungsgericht hat sämtliche entscheidungsrelevante Gesichtspunkte berücksichtigt, die auch in diese Interessenabwägung einzustellen sind, und sie in nicht zu beanstandender Weise gewichtet.
9
Liegen, wie hier, nach der durch die § 54, § 55 AufenthG vorgegebenen typisierenden Betrachtung schwerwiegende Gründe vor, die sowohl für die Ausweisung des Klägers aus dem Bundesgebiet als auch für seinen weiteren Verbleib sprechen, sind bei der dann nach § 53 Abs. 1 und 2 AufenthG vorzunehmenden Abwägungsentscheidung sämtliche nach den Umständen des Einzelfalls maßgeblichen Gesichtspunkte zu berücksichtigen, in erster Linie die Dauer des Aufenthalts, die Bindungen persönlicher, wirtschaftlicher und sonstiger Art im Bundesgebiet und im Herkunftsstaat sowie die Folgen der Ausweisung für Familienangehörige und Lebenspartner sowie die Tatsache, ob sich der Ausländer rechtstreu verhalten hat (vgl. BayVGH, U.v. 8.3.2016 - 10 B 15.180 - juris Rn. 41 f.; B.v. 24.2.2016 - 10 ZB 15.2080 - juris Rn. 14). Sofern nach dieser Gesamtabwägung das öffentliche Interesse an der Ausreise das Interesse des Ausländers am Verbleib in Deutschland überwiegt, wird der Ausländer ausgewiesen, andernfalls kommt eine Aufenthaltsbeendigung nach § 53 Abs. 1 AufenthG n.F. nicht in Betracht (vgl. BVerwG, U.v. 22.2.2017- 1 C 3.16 - juris Rn. 22).
10
Zwar kann es nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgericht zu einem „Verbrauch“ eines Ausweisungsgrunds führen, wenn die Ausländerbehörde ausdrücklich und in Kenntnis vom Vorliegen eines Ausweisungsgrundes (also des Lebenssachverhalts, der ein Ausweisungsinteresse nach § 53 Abs. 1, § 54 AufenthG erfüllt) auf eine Ausweisung (auch durch die Erteilung oder Verlängerung eines Aufenthaltstitels) verzichtet, sofern der Ausländer auf diesen Verzicht vertrauen durfte, das Vertrauen hierauf also schützenswert ist (BVerwG, U.v. 22.2.2017 - 1 C 3.16 - juris Rn. 39; U.v. 15.3.2005 - 1 C 26.03 - juris Rn. 21 m.w.N.; U.v. 3.8.2004 - 1 C 30.02 - juris Rn. 41). Zudem spricht viel dafür, dass ein in diesem Sinne „verbrauchter“ Ausweisungsgrund bei unveränderter Sachlage grundsätzlich weder bei der Prüfung der Wiederholungsgefahr noch in den Ermessenserwägungen verwendet werden kann (vgl. Bauer/Dollinger in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 12. Auflage 2018, § 53 Rn. 50; Discher in GK-AufenthG, Stand September 2018, Vor §§ 53 ff. Rn. 387 m.w.N.). Ein derartiger „Verbrauch“ eines Ausweisungsgrundes steht indes unter dem Vorbehalt, dass sich die für die behördliche Entscheidung maßgeblichen Umstände nicht ändern; denn eine solche Veränderung kann den dem Ausländer vermittelten Vertrauensschutz nachträglich wieder entfallen lassen (vgl. BVerwG, U.v. 3.8.2004 - 1 C 30.02 - juris Rn. 41; U.v. 16.11.1999 - 1 C 11.99 - juris Rn. 20; BayVGH, B.v. 20.2.2019 - 10 ZB 18.2343 - Rn. 12 m.w.N.; Tanneberger in BeckOK Ausländerrecht, Stand 1.5.2018, § 53 Rn. 31 m.w.N.). Dies ist insbesondere dann anzunehmen, wenn - wie vorliegend - der Ausländer erneut in einschlägiger Weise strafrechtlich in Erscheinung tritt und damit die Frage des Bestehens einer Wiederholungsgefahr hinsichtlich der Begehung weiterer erheblicher (u. a. Diebstahl-)Straftaten durch den Kläger und des Erfordernisses einer Ausweisung (wieder) aufgeworfen wird (vgl. OVG NW, B.v. 19.1.2017 - 18 A 2540/16 - juris Rn. 6 ff.; B.v. 21.11.2008 - 18 B 1643/08 - juris Rn. 6 ff.; B.v. 20.5.2005 - 18 B 1207/04 - juris Rn. 3 m.w.N.). Gemessen hieran hat das Verwaltungsgericht bei der Beurteilung der Wiederholungsgefahr und der Verhältnismäßigkeit der Ausweisung in rechtlich nicht zu beanstandender Weise das (nicht) rechtstreue Verhalten des Klägers in der Vergangenheit berücksichtigt, da der Kläger nach der Verurteilung im Juli 2010 wegen versuchten Wohnungseinbruchsdiebstahls in Tatmehrheit mit Diebstahl in einem besonders schweren Fall erneut einschlägig u.a. wegen Diebstahls in Erscheinung getreten ist. Den Belang der Rechtstreue hat der Gesetzgeber mit dem Gesetz zur erleichterten Ausweisung von straffälligen Ausländern und zum erweiterten Ausschluss der Flüchtlingsanerkennung vom 11. März 2016 (BGBl. I., S.394) - zugunsten und zulasten des Ausländers - ausdrücklich in den besonderen Fokus gerückt (vgl. Hailbronner, Ausländerrecht, Stand November 2018, § 53 Rn. 41a; Bauer/ Dollinger in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 12. Auflage 2018, § 53 Rn. 50).
11
Daneben hat das Verwaltungsgericht dem Kläger auch wegen einer jüngst begangenen Körperverletzung und des dort attestierten aggressiven Verhaltens mangelnde Rechtstreue bescheinigt und zudem die teilweise länger andauernde fehlende Lebensunterhaltssicherung in der Vergangenheit zulasten des Klägers gewertet. Zu diesen weiteren, ebenfalls tragenden Aspekten der Abwägungsentscheidung verhält sich die Zulassungsbegründung indes nicht.
12
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
13
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1 und 3 sowie § 52 Abs. 2 GKG.
14
Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird die Entscheidung des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).