Inhalt

VG München, Urteil v. 16.08.2019 – M 17 K 17.35427
Titel:

Feststellung von Abschiebungsverboten

Normenketten:
AufenthG § 60 Abs. 5, § 11
EMRK Art. 3
Leitsätze:
1. Der Kläger hat einen Anspruch auf Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots bezogen auf Afghanistan. Er zeigt den fortschreitenden Verlauf einer psychischen Erkrankung, die zuletzt diagnostisch als schwere depressive Episode ohne psychotische Symptome (F32.2 ICD-10) erfasst worden ist.  (Rn. 15 – 18) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die Abschiebungsandrohung ist aufzuheben.  (Rn. 22) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Asylverfahren, Afghanistan, Klage beschränkt auf Abschiebungsverbote, Psychische Erkrankungen, Abschiebungsverbot bejaht, Asylantrag, afghanischer Staatsangehöriger, Abschiebungshindernis, Abschiebungsverbot, Erkrankung
Rechtsmittelinstanz:
VGH München, Urteil vom 07.06.2021 – 13a B 21.30342
Fundstelle:
BeckRS 2019, 55473

Tatbestand

1
Der 1995 geborene Kläger ist afghanischer Staatsangehöriger mit tadschikischer Volkszugehörigkeit und islamisch-sunnitischen Glaubens. Er habe den Iran, wo er sich die letzten 15 Jahre aufgehalten habe, im Sommer 2015 verlassen und sei (mit Zwischenaufenthalten) über die Balkanroute am 22. Dezember 2015 in die Bundesrepublik Deutschland eingereist, wo er am 5. Juli 2016 einen Asylantrag stellte.
2
Bei der Anhörung vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) am 15. November 2016 trug der Kläger im Wesentlichen vor, dass er mit seiner Familie aus Afghanistan in den Iran ausgereist sei als er vier oder fünf Jahre alt gewesen sei. Grund dafür sei gewesen, dass seinerzeit sein Großvater und zwei Onkels getötet worden seien. Aus dem Iran seien sie geflüchtet, nachdem ein Bruder von ihm entführt worden sei, wobei seine Entführer ihn hätten umbringen wollen und er nur mit Glück entkommen sei. Danach hätte seine Familie sich nicht mehr sicher gefühlt und sie seien Richtung Deutschland geflüchtet.
3
Mit Bescheid vom 13. März 2017, zugestellt am 16. März 2017, lehnte das Bundesamt den Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (1) sowie auf Asylanerkennung (2) sowie auf Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus (3) ab und stellte fest, dass die Voraussetzungen des § 70 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (4). Der Kläger wurde aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe der Entscheidung bzw. nach unanfechtbarem Abschluss des Asylverfahrens zu verlassen. Für den Fall der nicht fristgerechten Ausreise wurde die Abschiebung nach Afghanistan oder in einen anderen Staat angedroht, in dem der Kläger einreisen darf oder der zu seiner Rückübernahme verpflichtet ist (5). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (6). Auf den Inhalt des Bescheids wird Bezug genommen.
4
Am … März 2017 erhob der Kläger Klage mit dem Antrag,
5
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 13. März 2017 zu verpflichten, ihm die Flüchtlingseigenschaft, hilfsweise den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen und weiter hilfsweise festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes vorliegen.
6
Die Beklagte übersandte die Behördenakten und stellte keinen Antrag.
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Mit Beschluss vom 23. Juli 2019 wurde der Rechtsstreit gem. § 76 Abs. 1 AsylG auf den Einzelrichter übertragen.
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Mit Schriftsatz vom ... August 2019 übersandte der Klägerbevollmächtigte den fachärztlich-psychotherapeutisch-psychologischen Befundbericht von R. M. vom 5. August 2019, der in Kenntnis des fachärztlichen Attests der Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. C. des Arztbriefs des …-Klinikums (…) vom 28. September 2019 sowie des fachärztlichen Attests des Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. B. vom 29. März 2019 erstellt worden sei.
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Mit Schriftsatz vom … August 2019 wurde
10
die Klage unter Aufhebung des Bescheids der Beklagten vom 13. März 2017 in Ziffern 4 bis 6 auf die Feststellung von Abschiebungsverboten gem. § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG beschränkt und die Klage im Übrigen zurückgenommen und auf mündliche Verhandlung verzichtet.
11
Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten und der sonstigen Einzelheiten wird auf den Inhalt der Akten, insbesondere auf den Sachvortrag des Klägers und die Begründung des streitgegenständlichen Bescheids Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Über die Klage konnte im Einverständnis mit den Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entschieden werden, § 101 Abs. 2 VwGO.
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1. Soweit die Klage zurückgenommen wurde, war das Verfahren einzustellen, § 92 Abs. 3 VwGO.
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2. Im Übrigen ist die zulässige Klage auch begründet. Der Kläger hat gegen die Beklagte einen Anspruch auf Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) hinsichtlich Afghanistans. Insoweit war der Bescheid des Bundesamts vom 13. März 2017 in den Nrn. 4, 5 und 6 aufzuheben (§ 113 Abs. 1, Abs. 5 Satz 1 VwGO). Ob die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG erfüllt sind, bedarf keiner Prüfung, da es sich beim national begründeten Abschiebungsverbot um einen einheitlichen und nicht weiter teilbaren Verfahrensgegenstand handelt (BVerwG, U.v. 8.9.2011 - 10 C 14.10 - BVerwGE 140, 319 Rn. 16 ff.).
15
2.1. Gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit eine Abschiebung nach den Bestimmungen der EMRK unzulässig ist. Einschlägig ist hier Art. 3 EMRK, wonach niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden darf. Die Reichweite der Schutznorm des § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK ist in der höchstrichterlichen Rechtsprechung geklärt. Eine unmenschliche Behandlung i.S.v. Art. 3 EMRK, die allein auf der humanitären Lage und den allgemeinen Lebensbedingungen beruht, ist möglich (vgl. BayVGH, B.v. 30.9.2015 - 13a ZB 15.30063 - juris Rn. 5 m.w.N. der Rspr. des BVerwG und des EuGH). Humanitäre Verhältnisse verletzen Art. 3 EMRK zum einen in ganz außergewöhnlichen Fällen, wenn die humanitären Gründe gegen die Abschiebung „zwingend“ seien. Dieses Kriterium sei angemessen, wenn die schlechten Bedingungen überwiegend auf Armut zurückzuführen seien oder auf die fehlenden staatlichen Mittel, um mit Naturereignissen umzugehen. Zum anderen könne - wenn Aktionen von Konfliktparteien zum Zusammenbruch der sozialen, politischen und wirtschaftlichen Infrastruktur führten - eine Verletzung darin zu sehen seien, dass es dem Betroffenen nicht mehr gelinge, seine elementaren Bedürfnisse, wie Nahrung, Hygiene und Unterkunft, zu befriedigen. Im Anschluss hieran stellt das Bundesverwaltungsgericht darauf ab, ob es ernsthafte und stichhaltige Gründe dafür gibt, dass der Betroffene tatsächlich Gefahr läuft, einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden. Wenn eine solche Gefahr nachgewiesen sei, verletze die Abschiebung des Ausländers Art. 3 EMRK. Der nationale Maßstab für eine Extremgefahr nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG analog kann von der Gesetzessystematik her allerdings nicht herangezogen werden (BayVGH, B.v. 21.11.2014 - 13a B 14.30285 - juris Rn. 19). Die Annahme einer unmenschlichen Behandlung allein durch die humanitäre Lage und die allgemeinen Lebensbedingungen setzt gleichwohl ein sehr hohes Gefährdungsniveau voraus. Nur dann liegt ein außergewöhnlicher Fall vor, in dem die humanitären Gründe gegen die Ausweisung „zwingend“ sind. Wenn das Bundesverwaltungsgericht die allgemeine Lage in Afghanistan nicht als so ernst einstuft, dass ohne weiteres eine Verletzung angenommen werden könne, weist das ebenfalls auf die Notwendigkeit einer besonderen Ausnahmesituation hin (BayVGH, B.v. 21.11.2014 - 13a B 14.30285 - juris Rn. 19).
16
Nach ständiger Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs (vgl. z.B. B.v. 14.1.2015 - 13a ZB 14.30410 - juris Rn. 5; B.v. 30.9.2015 - 13a ZB 15.30063 - juris Rn. 6) kann sich eine extreme Gefahrenlage in Kabul als regelmäßigem Zielort einer Abschiebung für besonders schutzbedürftige (vulnerable) Rückkehrer wie Minderjährige, alte oder behandlungsbedürftig kranke Personen, alleinstehende Frauen mit und ohne Kinder, Familien mit Kleinkindern und Personen, die aufgrund besonderer persönlicher Merkmale zusätzlicher Diskriminierung unterliegen, ergeben.
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2.2. Ein entsprechend hohes Gefährdungsniveau liegt beim Kläger unter Berücksichtigung der nachstehenden Ausführungen vor, wenn er nach Afghanistan zurückkehren müsste. Es ist davon auszugehen, dass der Kläger als Rückkehrer tatsächlich Gefahr liefe, einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu sein.
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Dabei kann dahinstehen, ob der fachärztlich-psychotherapeutisch-psychologische Befundbericht vom 5. August 2019 die Tatbestandsvoraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG erfüllt, denn jedenfalls geht aus diesem Befundbericht hervor, dass für den Kläger bereits ein fachärztliches Attest einer Fachärztin vom 3. Februar 2018 vorliegt, ein Arztbrief des …-Klinikums (…) vom 28. September 2018 nach einem Suizidversuch des Klägers im September 2018 sowie ein fachärztliches Attest des Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. B… vom 29. März 2019. Diese Unterlagen belegen einen fortschreitenden Verlauf einer psychischen Erkrankung beim Kläger, die zuletzt diagnostisch als schwere depressive Episode ohne psychotische Symptome (F32.2 ICD-10) erfasst worden ist. Unabhängig von der darüber hinausgehend gesehenen Suizidgefahr des Klägers im Falle einer Abschiebung gehört dieser jedenfalls zum Kreis besonders vulnerabler Personen, denen - anders als jungen, gesunden Männern - nicht zuzumuten ist, sich im täglichen Existenzkampf in Afghanistan zu behaupten.
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Hinzu kommt, dass der Kläger auf keinerlei familiäre Unterstützung in Afghanistan zurückgreifen kann.
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Ein Abschiebungshindernis gem. § 60 Abs. 5 AufenthG liegt daher vor.
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Hierzu wird allerdings darauf hingewiesen, dass dieses kein dauerndes Bleiberecht ist, sondern den im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) maßgeblichen Verhältnissen Rechnung trägt. Weiter wird darauf hingewiesen, dass der Kläger gehalten ist, seine persönliche und gesundheitliche Situation in einem überschaubaren Zeitraum mit angezeigten Behandlungen zu stabilisieren.
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3. Aufgrund dessen waren auch die Abschiebungsandrohung und das auf 30 Monate festgesetzte Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 AufenthG aufzuheben.
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4. Die Kostenentscheidung beruht hinsichtlich des zurückgenommenen Teils der Klage auf § 155 Abs. 2 VwGO, im Übrigen auf § 154 Abs. 1 VwGO und berücksichtigt die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichtes zur Kostenteilung in Asylverfahren (vgl. z.B. B.v.29.6.2009 - 10 B 60/08; Juris). Das Verfahren ist gemäß § 83 b AsylG gerichtskostenfrei. Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 1 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.
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5. Die Entscheidung über die Einstellung des Verfahrens (Nr. I. des Tenors) ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).