Inhalt

VG Ansbach, Beschluss v. 02.10.2019 – AN 18 E 19.50790
Titel:

Erfolgreiches Asyleilverfahren auf Geschwisterzusammenführung und Durchführung des Asylverfahrens in der BRD

Normenketten:
VwGO § 123
Dublin III-VO Art. 8 Abs. 1 S. 1, Art. 17 Abs. 2, Art. 21 Abs. 1, Art. 22
Leitsätze:
1. Die Vorschriften der Dublin III-VO geben, wenn sie nicht nur die Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten regeln, sondern (auch) dem Grundrechtsschutz dienen, den Asylsuchenden ein subjektives Recht auf Prüfung ihres Asylantrages durch den zuständigen Mitgliedstaat geben. (Rn. 30) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die Hürde für den Nachweis von Familienbindungen ist im Dublin-Verfahren geringer als im Verfahren zur Familienzusammenführung nach dem Aufenthaltsgesetz, da Ziel des Verfahrens eine schnelle Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates ist. (Rn. 35) (redaktioneller Leitsatz)
3. Die Aspekte des Kindeswohls eines minderjährigen Asylsuchenden sind anhand einer Gesamtschau der jeweiligen Umstände des konkreten Einzelfalls zu ermitteln, wobei als Prüfungsmaßstab das Kindesalter, der Umfang der Bindung des Kindes zu seinen Familienmitgliedern im Herkunftsstaat sowie der Umstand, ob das Kind unabhängig von seiner Familie eingereist ist, herangezogen werden kann (EGMR, U.v. 30.7.2013 - Nr. 948/12 - BeckRS 2014, 80974 Rn. 56 [engl.]. (Rn. 50) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Anspruch auf Überstellung aus Art. 8 Abs. 1 Satz 1 Dublin III-VO, rechtswidrig ergangene Ablehnung des Übernahmeersuchens durch das Bundesamt, Ermessensreduktion auf Null im Rahmen des Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO, Eilverfahren, einstweilige Anordnung, Anordnungsgrund, Anordnungsanspruch, zuständiger Mitgliedstaat, Zuständigkeitsübergang, unbegleiteter Minderjähriger, Familienzusammenführung, Kindeswohl, Übernahmeersuchen, Remonstrationsverfahren
Fundstelle:
BeckRS 2019, 51675

Tenor

1. Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO verpflichtet, sich gegenüber dem griechischen Migrationsministerium - Nationales Dublin-Referat -, unter Aufhebung der ergangenen Ablehnungen zum Übernahmegesuch und den Wiedervorlagen durch das griechische Migrationsministerium - Nationales Dublin-Referat -, für die Prüfung der Asylanträge des Antragstellers für zuständig zu erklären.
2. Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

I.
1
Mit seinem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung begehrt der Antragsteller im Ergebnis die Durchführung seines Asylverfahrens in Deutschland, wo auch sein Bruder lebt.
2
Der … 2004 geborene Antragsteller, afghanischer Staatsangehöriger, reiste als unbegleiteter Minderjähriger nach Griechenland ein und stellte am 1. Oktober 2018 einen Asylantrag. Der Bruder des Antragstellers, Herr … …, geboren … 1991 (Bruder), lebt seit Mai 2015 in Deutschland. Mit Bescheid vom 13. Dezember 2017 wurde ihm die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt.
3
Am 18. Dezember 2018 richtete die griechische Dublin-Einheit auf Grundlage des Art. 8 Dublin III-VO ein den Antragsteller betreffendes Übernahmeersuchen an die Antragsgegnerin. In diesem wurde der Name des Vaters mit „… …“ und der Name der Mutter mit „…“ angegeben. Dem übermittelten Antrag beigefügt war unter anderem eine Tazkira des Antragstellers samt Übersetzung, jeweils eine Einverständniserklärung des Antragstellers, unterschrieben sowohl vom Antragsteller selbst als auch von dessen Vormund, als auch des Bruders zur Zusammenführung mit dem jeweils anderen, eine Kopie der Aufenthaltserlaubnis des Bruders sowie eine Tazkira des Bruders samt Übersetzung. In der Übersetzung der Tazkira des Antragstellers ist als Vater „… …“ angegeben, in der Tazkira des Bruders „… …“ bzw. „… …“. Ebenso übersandt wurde ein „Best Interests Assessment Form“ der griechischen Behörden vom 17. Dezember 2018, in dem unter anderem die Familienmitglieder des Antragstellers benannt werden. Auf den Seiten 10 und 11 wird zum Namen des Vaters ausgeführt, dass dieser mit … …, aber auch - je nach Übersetzung - mit … … oder … … angegeben wird. Die Mutter heiße … bzw. nach ihrer Heirat … Weiter wird seitens der griechischen Behörden im Interesse des minderjährigen Antragstellers empfohlen, diesen zu seinem Bruder nach Deutschland zu überstellen. Der Antragsteller leide an einem Trauma, einer Belastungsstörung, Panikattacken, Melancholie, Schlafstörungen und habe Schwierigkeiten, sein tägliches Leben zu bewältigen. Er habe die Ermordung der Eltern miterleben müssen, sei dann vom Onkel misshandelt worden und schließlich auf der Flucht in der Türkei entführt worden. Der Antragsteller sei emotional sehr verwundbar, weshalb er eine Familie benötige und die Unterstützung von jemanden, dem der Antragsteller wirklich am Herzen liege. Der Antragsteller vermisse seine Familie. Er und sein Bruder seien emotional eng miteinander verbunden. Der Bruder fungiere dabei als Vaterfigur, der den Antragsteller immer unterstützt und beschützt habe.
4
Die Antragsgegnerin lehnte das Übernahmeersuchen mit Schreiben vom 21. Dezember 2018 ab, da nicht klar sei, ob es sich bei dem Antragsteller und dem in Deutschland lebenden Bruder um Geschwister handele. Die von den Brüdern angegebenen Namen der Eltern würden nicht übereinstimmen. Es wurde um Übersendung weiterer Unterlagen, namentlich ein übersetztes und geprüftes Familienstammbuch, Ausweise sowie die jeweiligen Originale, gebeten.
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Daraufhin reichte die griechische Dublin-Einheit mit Schreiben vom 11. Januar 2019 weitere Unterlagen ein, unter anderem Übersetzungen der Tazkiras, geprüft von METAdrasi, aus der wiederum hervorgeht, dass als Vater des Antragstellers ein … … eingetragen ist, während beim Bruder als Vater ein … … angegeben wird. In einem beigefügten Anschreiben gibt der Bruder des Antragstellers unter anderem eine Erklärung zu den Namensunterschieden von Mutter und Vater ab, auf die verwiesen wird. Die griechische Organisation METAdrasi bietet in einem Schreiben einen DNA-Test der Brüder an.
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Die Antragsgegnerin lehnte das Ersuchen erneut mit Schreiben vom 23. Januar 2019 ab, verwies auf die nach wie vor nicht nachgewiesenen Familienverhältnisse und monierte die Verwendung von Vordrucken der Nichtregierungsorganisation METAdrasi und die fehlende Vorlage der entsprechenden Originale zu den vorgelegten Übersetzungen der Tazkiras. Ebenso erging der Hinweis, dass weitere Überprüfungen nicht erfolgen würden.
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Die griechische Dublin-Einheit übersandte am 13. Februar 2019 ein erneutes Remonstrationsschreiben mit weiteren Anlagen, auf das die deutschen Behörden mit Schreiben vom 21. Februar 2019 mitteilten, dass die Entscheidung vom 23. Januar 2019 endgültig gewesen sei und der Fall geschlossen sei.
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Mit Schreiben vom 14. März 2019 remonstrierten die griechischen Behörden erneut gegen die ablehnenden Entscheidungen der deutschen Dublin-Einheit und übersandten unter anderem die Ergebnisse eines DNA-Testes (Gutachten vom 12. März 2019), wonach der Antragsteller und der in Deutschland lebende … Brüder seien (99%-ige Wahrscheinlichkeit).
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Die Antragsgegnerin antwortete am selben Tage und verwies darauf, dass weitere Überprüfungen des Falles nicht erfolgen würden, da die Frist des Art. 5 Abs. 2 Dublin-Durchführungsverordnung abgelaufen sei.
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Mit am 2. Juni 2019 beim Verwaltungsgericht Minden eingegangenem Schriftsatz ihres Verfahrensbevollmächtigten vom selben Tag begehrt der Antragsteller und sein Bruder den Erlass einer einstweiligen Anordnung.
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Der Anordnungsanspruch wird im Wesentlichen damit begründet, dass der minderjährige Antragsteller aufgrund der Regelung des Art. 8 Dublin III-VO zu seinem in Deutschland lebenden volljährigen Bruder zu überstellen sei. Die Frist des Art. 21 Abs. 1, 20 Abs. 2 Dublin III-VO sei eingehalten. Die Ablehnung des fristgerecht gestellten Übernahmeersuchens der griechischen Behörden werde den Anforderungen des Europäischen Gerichtshofes nicht gerecht, wonach der ersuchte Mitgliedstaat innerhalb der zweimonatigen Antwortfrist nach Art. 22 Abs. 1 Dublin III-VO alle erforderlichen Überprüfungen vornehmen müsse, die erforderlich seien, um über das Übernahmegesuch zu entscheiden, vgl. EuGH, U.v. 13.11.2018 - C-47/17; C-48/17 - juris Rn. 67. Auch stelle Art. 5 Abs. 1 der Dublin-Durchführungsverordnung klar, dass in einer ablehnenden Antwort auf ein solches Gesuch ausführlich sämtliche Gründe zu erläutern seien, die zu der Ablehnung geführt haben. Die Antragsgegnerin habe aber keinerlei Überprüfungen vorgenommen und habe damit ihre Ermittlungspflichten verletzt. Spätestens mit der zweiten Wiedervorlage am 13. Februar 2019 sei die Familienbindung eindeutig belegt. Auf die Rechtsprechung des EuGH zu Art. 5 Dublin-Durchführungsverordnung (vgl. EuGH, U.v. 13.11.2018 - C-47/17; C-48/17 - juris Rn. 90), wonach die Zuständigkeit grundsätzlich auf den ersuchenden Mitgliedstaat übergehe, wenn die zweiwöchige Antwortfrist des ersuchten Mitgliedstaates auf eine Remonstration des ersuchenden Staates abläuft, ohne dass der ersuchte Mitgliedstaat antwortet, könne sich die Antragsgegnerin nicht berufen, da sie ihren eigenen Verpflichtungen nicht nachgekommen sei. Jedenfalls sei ein Anspruch aus Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO aufgrund einer Ermessensreduktion auf Null gegeben.
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Der Antragsteller und sein Bruder beantragen,
die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO zu verpflichten, sich unter Aufhebung der ergangenen Ablehnungen des Übernahmegesuchs sowie der Wiedervorlagen durch das Griechische Migrationsministerium - Nationales Dublin-Referat - für den Asylantrag des Antragstellers für zuständig zu erklären und auf seine Überstellung hinzuwirken.
13
Mit Schreiben vom 25. Juni 2019 erklärte die Antragsgegnerin, dass sie für die Prüfung des Asylantrages des Antragstellers nicht zuständig sei und die Zuständigkeit auch nicht erklären werde. Es läge weder ein Fall des Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO, noch ein solcher des Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO vor. Es sei keine Ermessensreduktion auf Null gegeben. Es bestünden andere Möglichkeiten der Familienzusammenführung. Auch gäbe es in Griechenland keine systemischen Mängel.
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Die Antragstellerseite betonte mit Schriftsatz vom 7. Juli 2019 erneut, dass die Antragsgegnerin ihren Überprüfungspflichten nicht nachgekommen sei und rein formelle Ablehnungen ausgestellt habe. Das Verwaltungshandeln stehe in grobem Widerspruch zu Art. 6 Abs. 1 Dublin III-VO und sei gerade in Anbetracht dessen, dass sich hier kein Fristproblem stelle, nicht nachvollziehbar. Die hohe Zahl der Wiedervorlagen des Falles sei ausschließlich darauf zurückzuführen, dass die Antragsgegnerin zu hohe Anforderungen an den Nachweis von Familienbindungen gestellt und ihre eigenen Überprüfungs- und Ermittlungspflichten verkannt habe. Unverständlich sei, warum die Antragsgegnerin in ihrem Schriftsatz vom 25. Juni 2019 den Art. 8 Dublin III-VO in keinster Weise erwähne.
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Mit Beschluss vom 17. Juli 2019 trennte das Verwaltungsgericht Minden das Verfahren des Antragstellers von dem Verfahren des Bruders ab und verwies es mit Beschluss vom 26. Juli 2019 an das Verwaltungsgericht Ansbach. Mit weiterem Beschluss vom 30. Juli 2019 (Az.: …*) hat das Verwaltungsgericht Minden den Antrag des Bruders des Antragstellers abgelehnt.
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Die Antragsgegnerin beantragt mit Schriftsatz vom 4. September 2019 den Antrag nach § 123 VwGO abzulehnen.
17
Zur Begründung führt sie im Wesentlichen aus, dass die Zuständigkeit bereits auf Griechenland übergegangen sei. Die griechischen Behörden hätten mit ihrem Aufnahmegesuch am 19. Dezember 2018 keine ausreichenden Nachweise über die familiären Beziehungen zwischen dem Antragsteller und dem Bruder vorgelegt. So sei die Tazkira kein biometrisches Dokument und seit daher lediglich als Indiz in Sinne von Art. 22 Abs. 3 Satz 2 lit. b Dublin III-VO zu sehen. Weiter sei zusätzlich zu den abweichenden Namen des Vaters in den beiden Tazkiras von Antragsteller und Bruder auch die Familien(buch) nummer in den vorgelegten Übersetzungen der Tazkiras verschieden. Daher seien die vorgelegten Übersetzungen der Tazkiras nicht geeignet, die familiären Beziehungen nachzuweisen. Weitere geeignete Nachweise seien nicht vorgelegt worden. Auch habe der Antragsteller den Namen der Mutter mit … … angegeben, während der Bruder den Namen … genannt habe. Auch im Rahmen der Remonstration der griechischen Behörden seien keine weiteren geeigneten Nachweise vorgelegt worden. Kohärente, nachprüfbare und hinreichende detaillierte Belege seien der Antragsgegnerin daher nicht vorgelegen. Die Remonstration sei mit Schreiben vom 23. Januar 2019 abgelehnt worden. Mit dem Remonstrationsschreiben seien keine offiziellen Personaldokumente vorgelegt worden. Es habe sich lediglich um Unterlagen einer Nichtregierungsorganisation gehandelt. Auch seien die Übersetzungen ohne Originaldokumente (oder Kopien) vorgelegt worden. Im Ergebnis sei daher die Zuständigkeit am 23. Januar 2019 auf Griechenland übergegangen.
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Die Regelungen der Art. 8 bis 11 Dublin III-VO dürften daher nicht mehr einschlägig sein, denn diese seien einem Fristenregime unterworfen (Art. 21 Dublin III-VO). Auch wenn die Antragsteller die Fristenüberschreitung nicht zu vertreten hätten, sei eine Ausnahme nicht gerechtfertigt, denn auch das Bundesamt müsse sich das Verhalten der griechischen Behörden nicht zurechnen lassen.
19
Daraufhin erwidert die Antragstellerseite mit Schriftsatz vom 16. September 2019 im Wesentlichen, dass es auf die vorgetragenen Widersprüchlichkeiten der Tazkiras gar nicht ankomme, da ausreichende Beweise, insbesondere ein DNA-Test vorgelegt worden seien. Weiter seien Tazkiras als Beweise im Sinne des Art. 22 Abs. 3 lit. a Dublin III-VO zu sehen, auch wenn es sich nicht um biometrische Dokumente handele. Die Tazkira falle unter den Begriff „Registerauszug“, wie sich der Beweisliste des Anhangs II der Dublin-Durchführungsverordnung ersehen lasse. Mithin solle das Beweiserfordernis nicht über das für die ordnungsgemäße Anwendung der Vorschrift erforderliche Maß hinausgehen, Art. 22 Abs. 4 Dublin III-VO. Zur Widerlegung eines förmlichen Beweismittels hätte es eines Gegenbeweises bedurft, Art. 22 Abs. 3 lit. a Dublin III-VO, der nicht erbracht worden sei. Weiter wird ausgeführt, dass der Stempel auf der Tazkira des Antragstellers den Namen des Vaters sehr unleserlich mache, was zur Übersetzung in „…“ geführt haben könnte. Die monierten unterschiedlichen Familienbuchnummern auf den Tazkiras von Bruder und Antragsteller ließen keine Rückschlüsse auf die Verwandtschaftsverhältnisse zu. Auch die bemängelte Übersetzung der Tazkiras durch eine Nichtregierungsorganisation sei irrelevant, schließlich sei eine Übersetzung von Beweisen ohnehin nicht vorgesehen. Überdies werde auf Art. 15 Abs. 2 Dublin-Durchführungsverordnung verwiesen, wonach wonach Schriftstücke, die vom ersuchenden Staat übermittelt werden, als echt gelten. Auch im Hinblick auf Art. 22 Abs. 4 Dublin III-VO müsse eine Übersetzung durch eine Nichtregierungsorganisation genügen. Im Übrigen ergebe sich jedenfalls ein Anspruch aus Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten sowie die in elektronischer Form vorgelegten Behördenakten verwiesen.
II.
21
Der zulässige Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 VwGO, zu dessen Entscheidung das Verwaltungsgericht Ansbach nach Maßgabe der § 83 Satz 1 VwGO, § 17a Abs. 2 Satz 3 GVG berufen ist, ist auch begründet.
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1) Der Antrag ist zulässig.
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Insbesondere verfügt der Antragsteller über die in entsprechender Anwendung des § 42 Abs. 2 VwGO notwendige Antragsbefugnis. Erforderlich ist hierfür die Geltendmachung einer möglichen Verletzung subjektiver Rechte des Antragstellers. Die Regelungen der Dublin III-VO schließen eine Antragsbefugnis von Familienangehörigen, die aus einem anderen Mitgliedstaat in den zuständigen Staat überstellt werden, jedenfalls nicht ausdrücklich aus; dies legen insbesondere die Erwägungsgründe 13, 14 und 15 der Dublin III-VO, Art. 47 GR-Charta sowie Art. 6 GG nahe (vgl. BVerwG, B.v. 2.7.2019 - 1 AV 2/19 - juris Rn. 12). Es erscheint daher auch im vorliegenden Fall möglich, dass die dem Kindeswohl und dem Schutz der Familie dienenden Vorschriften der Art. 8, 17 Abs. 2 Dublin III-VO dem in Griechenland befindlichen Antragsteller ein subjektives Recht auf Überstellung in den zuständigen Mitgliedstaat vermitteln (vgl. auch VG Ansbach, B.v. 19.7.2019 - AN 18 E 19.50355; VG Berlin, B.v. 15.3.2019 - 23 L 706.18 A - juris Rn. 20; VG Münster, B.v. 20.12.2018 - 2 L 989/18.A - juris Rn. 21).
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2) Der Antrag ist auch begründet.
25
Nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO kann das Gericht auch schon vor Klageerhebung eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts der Antragsteller vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte (sog. Sicherungsanordnung). Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung nötig erscheint, um wesentliche Nachteile abzuwenden (§ 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO; sog. Regelungsanordnung). Der streitige Anspruch (Anordnungsanspruch) und die Dringlichkeit einer vorläufigen Regelung (Anordnungsgrund) sind jeweils glaubhaft zu machen (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO).
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Dem Wesen und Zweck der einstweiligen Anordnung entsprechend kann das Gericht grundsätzlich nur vorläufige Regelungen treffen und den Antragstellern nicht schon in vollem Umfang, das gewähren, was sie nur in einem Hauptsacheprozess erreichen könnten. Im Hinblick auf das Gebot eines wirksamen Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) gilt dieses Verbot der Vorwegnahme der Hauptsache dann nicht, wenn die sonst zu erwartenden Nachteile des Antragstellers unzumutbar sowie in einem Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären und ein hoher Wahrscheinlichkeitsgrad für einen Erfolg in der Hauptsache spricht (vgl. BVerwG, B.v. 26.11.2013 - 6 VR 3/13 - juris).
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Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt. Dem Antragsteller ist es sowohl gelungen, einen entsprechenden Anordnungsanspruch als auch die besondere Eilbedürftigkeit (Anordnungsgrund) glaubhaft zu machen. Insbesondere ist hier ausnahmsweise auch die Vorwegnahme der Hauptsache geboten.
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a) Der Anordnungsanspruch ist glaubhaft gemacht.
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(1) Er ergibt sich aus Art. 8 Abs. 1 Satz 1 Dublin III-VO. Der Antragsteller hat einen Anspruch darauf, dass sich die Antragsgegnerin gegenüber dem griechischen Migrationsministerium, Nationales Dublin-Referat, - unter Aufhebung der ergangenen Ablehnungen zum Übernahmegesuch und den Wiedervorlagen durch das griechische Migrationsministerium - Nationales Dublin-Referat - für die Prüfung der Asylanträge des Antragstellers für zuständig erklärt.
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Art. 8 Abs. 1 Satz 1 Dublin III-VO vermittelt dem Antragsteller diesbezüglich auch ein subjektives Recht, so dass eine hiermit nicht in Einklang stehende Entscheidung der Antragsgegnerin gerichtlich überprüft werden kann (so auch VG Münster, B.v. 20.12.2018 - 2 L 989/18.A mit weiteren Nachweisen). Auch der Bayerische Verwaltungsgerichtshof hat entschieden, dass die Vorschriften der Dublin III-VO, wenn sie nicht nur die Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten regeln, sondern - wie hier - (auch) dem Grundrechtsschutz dienen, den Asylsuchenden ein subjektives Recht auf Prüfung ihres Asylantrages durch den zuständigen Mitgliedstaat geben (vgl. BayVGH, U.v. 3.12.2015 - 13 a B 15.50124 - juris Rn. 23 - bezüglich der Regelung des Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO).
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Die Tatbestandsvoraussetzungen des Art. 8 Abs. 1 Satz 1 Dublin III-VO sind erfüllt. Bei dem Antragsteller handelt es sich um einen unbegleiteten Minderjährigen (Art. 2 lit. j Dublin III-VO), der in einem anderen Mitgliedstaat, nämlich Deutschland, einen Familienangehörigen oder Geschwister besitzt, welche sich in diesem Mitgliedstaat rechtmäßig aufhalten. Der Antragsteller hat in Deutschland einen volljährigen Bruder. Dem Bruder wurde die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Er ist im Besitz einer gültigen Aufenthaltserlaubnis Deutschlands. Auch dient die Familienzusammenführung in Deutschland dem Wohl des Minderjährigen, wie sich insbesondere aus dem vorgelegten Bericht (Best Interests Assessment Form) der griechischen Behörden vom 17. Dezember 2018 ergibt.
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Die Zuständigkeit ist auch nicht auf Griechenland gemäß Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 3 Dublin III-VO übergegangen, denn nach erfolgter Asylantragstellung in Griechenland am 1. Oktober 2018 richteten die griechischen Behörden fristgerecht innerhalb der dreimonatigen Frist des Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 1 Dublin III-VO, nämlich am 18. Dezember 2018, das Aufnahmegesuch an Deutschland. Die Antragsgegnerin antwortete mit Schreiben vom 21. Dezember 2018 ebenso fristgerecht, Art. 22 Abs. 1 Dublin III-VO. Die anschließende Remonstration Griechenlands erfolgte mit Schreiben vom 11. Januar 2019 fristgerecht innerhalb von drei Wochen, Art. 5 Abs. 2 Satz 1, 2 Dublin-Durchführungsverordnung. Auch die deutschen Behörden antworteten hierauf mit Ablehnungsschreiben vom 23. Januar 2019 fristgerecht innerhalb der zweiwöchigen Antwortfrist, Art. 5 Abs. 2 Satz 3 Dublin-Durchführungsverordnung. Spätestens nach Ablauf der zweiwöchigen Antwortfrist des Art. 5 Abs. 2 Satz 3 Dublin-Durchführungsverordnung ist das zusätzliche Remonstrationsverfahren abgeschlossen und der ersuchende Staat grundsätzlich als zuständig anzusehen (vgl. hierzu: EuGH, U.v. 13.11.2018, C-47/7, C-48/17, juris Rn. 86 ff, 90).
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Die Ablehnung des Aufnahmegesuchs durch die Antragsgegnerin erfolgte jedoch rechtswidrig und kann somit keinen Zuständigkeitsübergang auf Griechenland zur Folge haben. Die Antragsgegnerin hat die Ablehnung vom 21. Dezember 2018 (Art. 22 Abs. 1 Dublin III-VO) und die ablehnende Antwort auf das griechische Remonstrationsschreiben vom 23. Januar 2019 (Art. 5 Abs. 2 Satz 3 Dublin-Durchführungsverordnung) zu Unrecht erteilt, denn die Tatbestandsvoraussetzungen des Art. 8 Abs. 1 Satz 1 Dublin III-VO waren neben dem grundsätzlich maßgeblichen Zeitpunkt der Antragstellung nach Art. 7 Abs. 2 Dublin III-VO sowohl im Zeitpunkt der Ablehnung vom 21. Dezember 2018 als auch am 23. Januar 2019 (Antwort auf das Remonstrationsschreiben der griechischen Behörden) gegeben, so dass die Antragsgegnerin verpflichtet war, dem Übernahmeersuchen stattzugeben. Anhand der mit Übernahmeersuchen vom 18. Dezember 2018 als auch mit Remonstrationsschreiben vom 11. Januar 2019 an Deutschland übersandten Unterlagen war hinreichend substantiiert dargelegt, dass der Antragsteller und der Bruder des Antragstellers Geschwister sind. Auf die im Laufe der weiteren Remonstrationsschreiben vorgelegten Unterlagen, insbesondere auf den DNA-Test, kommt es deswegen nicht an.
34
Der Antragsteller kann sich auf die fehlerhafte Anwendung des in Kapitel III der Dublin III-VO festgelegten Zuständigkeitskriteriums des Art. 8 Abs. 1 Satz 1 Dublin III-VO auch berufen (vgl. EuGH, U.v. 7.6.2016 - C-63/15 (Ghezelbash) - juris Rn. 63). Die zentrale Stellung, die dem Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates aufgrund der in Kapitel III der Dublin III-VO festgelegten Kriterien für die Anwendung der Verordnung zukommt, wird dadurch bestätigt, dass nach ihrem Art. 21 Abs. 1 Dublin III-VO der Mitgliedstaat, bei dem ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt worden ist, einen anderen Mitgliedstaat nur dann um die Aufnahme eines Asylbewerbers ersuchen kann, wenn seiner Auffassung nach dieser andere Mitgliedstaat für die Prüfung des Antrages zuständig ist. Außerdem muss das Aufnahmegesuch nach Art. 21 Abs. 3 Dublin III-VO die Beweise und Angaben enthalten, anhand derer die Behörden des Mitgliedstaates prüfen können, ob ihr Staat nach den in der Verordnung definierten Kriterien zuständig ist. Ebenso muss nach Art. 22 Dublin III-VO die Antwort auf das Aufnahmegesuch auf einer Prüfung der Beweismittel und Indizien beruhen, die die Anwendung der in Kapitel III der Dublin III-VO festgelegten Kriterien erlauben. Art. 27 Abs. 1 Dublin III-VO zielt demnach insbesondere auf die Überprüfung der richtigen Anwendung der in Kapitel III der Dublin III-VO normierten Kriterien zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats (vgl. EuGH, U.v. 7.6.2016 - C-63/15 (Ghezelbash) - juris Rn. 43 f.).
35
Sowohl die mit dem Übernahmegesuch als auch mit der Remonstration vom 11. Januar 2019 übersandten Unterlagen reichen aus, um die familiären Beziehungen des Antragstellers zum Bruder gemäß den Erfordernissen des Art. 22 Dublin III-VO zu belegen. Die beiden Schreiben enthielten nämlich die erforderlichen Beweismittel und Indizien nach Art. 22 Abs. 3 Dublin III-VO, so dass das Gericht keinen begründeten Zweifel daran hat, dass der Antragsteller und der Bruder des Antragstellers Geschwister sind, denn die Hürde für den Nachweis von Familienbindungen ist im Dublin-Verfahren geringer als etwa im Verfahren zur Familienzusammenführung nach dem Aufenthaltsgesetz. Ziel des Verfahrens ist eine schnelle Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates, weswegen auch insbesondere Art. 22 Abs. 4 Dublin III-VO bestimmt, dass das Beweiserfordernis nicht überdehnt werden darf. Im Übernahmegesuch der griechischen Behörden vom 18. Dezember 2018 wurde der Name des Vaters mit „… …“ und der Name der Mutter mit „…“ angegeben. Dem übermittelten Antrag beigefügt war unter anderem eine Tazkira des Antragstellers samt Übersetzung (S. 10/11 der Behördenakte), eine Kopie der Aufenthaltserlaubnis des Bruders sowie eine Tazkira des Bruders (S. 15 der Behördenakte) samt Übersetzungen. In der Übersetzung der Tazkira des Antragstellers ist als Vater „… …“ angegeben, in der Tazkira des Bruders „… …“ bzw. „… …“. Soweit der angegebene Vor- und Zuname des Vaters in den vorgelegten Übersetzungen differiert, ist dieser Umstand bereits durch das ebenso mit dem Übernahmeersuchen übersandte Schreiben der griechischen Behörden, „Best Interests Assessment Form“ vom 17. Dezember 2018, aufgeklärt. In diesem werden insbesondere die Familienmitglieder des Antragstellers benannt. Auf den Seiten 10 und 11 wird zum Namen des Vaters ausgeführt, dass dieser mit … …, aber auch - je nach Übersetzung - mit … … oder … … angegeben wird. Auch die unterschiedlichen Angaben zum Namen der Mutter, welche die Antragstellerin monierte, werden aufgeklärt. So wird ausgeführt, dass die Mutter … bzw. nach ihrer Heirat … hieß. Auch im Schreiben des Bruders vom 6. Januar 2019, vorgelegt mit der Remonstration, werden die Widersprüche aufgeklärt.
36
Zu beachten ist ferner, dass eine Tazkira einen Beweis im Sinne eines Registerauszugs darstellt (vgl. Anhang II der Dublin-Durchführungsverordnung, Verzeichnis A I 1; so auch VG Stuttgart, B.v. 16.8.2019 - A 3 K 2257/19). Insbesondere ist hier gerade kein „biometrisches“ Dokument nötig, denn Registerauszüge sind in der Regel nicht biometrisch. Auch wenn die Angaben auf den Übersetzungen differieren, so ist doch deutlich, dass es sich um ein- und dieselbe Person handelt, insbesondere im Zusammenhang mit den vorgelegten Indizien wie dem „Best Interests Assessment Form“ vom 17. Dezember 2018 und dem erklärenden Schreiben des Bruders vom 6. Januar 2019 (vgl. Anhang II der Dublin-Durchführungsverordnung, Verzeichnis B I 1). Im Übrigen entscheiden förmliche Beweismittel über die Zuständigkeit nach der Dublin III-VO, als sie nicht durch Gegenbeweise widerlegt werden (Art. 22 Abs. 3 lit. a i) Dublin III-VO), was jedoch antragsgegnerseits nicht erfolgte.
37
Ohnehin lässt sich weder dem Art. 21 Abs. 3, Art. 22 Abs. 2 Dublin III-VO noch dem Anhang II der Dublin-Durchführungsverordnung entnehmen, dass die vorgelegten Beweise übersetzt sein müssen. Vielmehr wäre es der Antragsgegnerin auch möglich gewesen, die eingereichten Tazkiras selbst zu übersetzen und die gerügten Ungereimtheiten selbst aufzuklären. Mithin muss auch eine Übersetzung durch eine Nichtregierungsorganisation wie METAdrasi genügen. Die Anforderung des Originals der Tazkira widerspricht ebenso der Regelung des Art. 22 Dublin III-VO i.V.m. Art. 15 Dublin-Durchführungsverordnung. Zum einen legt Art. 22 Abs. 4 Dublin III-VO fest, dass das Beweiserfordernis nicht über das für die ordnungsgemäße Anwendung der Vorschrift erforderliche Maß hinausgehen darf. Zum anderen bestimmt Art. 15 Abs. 2 Dublin-Durchführungsverordnung, dass die Echtheit aller Gesuche, Antworten und Schriftstücke, die von einer in Artikel 19 bezeichneten nationalen Systemzugangsstelle übermittelt werden, als gegeben gilt. Die Übermittlung der Tazkira per DubliNet genügt daher den Anforderungen.
38
Soweit die Antragsgegnerin ausführt, es hätte bis zum Abschluss des Remonstrationsverfahrens kein Original der Tazkiras vorgelegen, so muss sie sich die dem entgegenstehende vorgelegte Behördenakte des Antragstellers entgegenhalten lassen (dort S. 10/11 und S. 15). Insbesondere sind die mit Mail vom 13. Februar übersandten Tazkiras (S. 73/74 und 76 der Behördenakte) ganz offensichtlich nicht versehentlich zeitlich falsch auf den S. 10/11 und S. 15 in die Behördenakte einsortiert worden, denn diese sind mit „attached document 1“ und „attached document 2“ versehen, während die auf den S. 10/11 und S. 15 zu findenden Tazkiras diesen Aufdruck gerade nicht enthalten und daher davon auszugehen ist, dass diese der Antragsgegnerin zusammen mit dem Übernahmeersuchen vom 18. Dezember 2018 vorgelegt wurden. Doch selbst wenn nur die erwähnten Übersetzungen der Tazkiras vorlagen, so ist auch hiermit in der Gesamtschau mit dem weiteren Unterlagen ersichtlich, dass es sich bei dem Antragsteller und dessen Bruder um Geschwister handelt. Aus dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens und dem Wortlaut des Art. 15 Abs. 2 Dublin-Durchführungsverordnung folgt zudem die Annahme, dass die Schriftstücke den griechischen Behörden zum Zeitpunkt der Übersendung auch vorlagen. Zumindest bezüglich des Bruders lag dem Bundesamt im Übrigen dessen Tazkira ohnehin bereits seit langem vor (vgl. S. 83 der Behördenakte des Bruders, Az.: 6019577-423). Auch ist dessen Identität mit dem Aufenthaltstitel hinreichend belegt, was der Antragsgegnerin, unabhängig von der Vorlage durch die griechischen Behörden, auch bekannt ist.
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(2) Nimmt man nicht bereits an, dass sich ein Anspruch des Antragstellers aus Art. 8 Abs. 1 Satz 1 Dublin III-VO gegeben ist, so ergibt sich jedenfalls ein Anspruch aus Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO. Das der Antragsgegnerin zustehende Ermessen ist vorliegend auf Null reduziert.
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Nach Art. 17 Abs. 2 Unterabs. 1 Satz 1 Dublin III-VO kann derjenige Mitgliedstaat, in dem ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt worden ist und der das Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates durchführt, oder der zuständige Mitgliedstaat, bevor eine Erstentscheidung in der Sache ergangen ist, jederzeit einen anderen Mitgliedstaat ersuchen, den Antragsteller aufzunehmen, aus humanitären Gründen, die sich insbesondere aus dem familiären oder kulturellen Kontext ergeben, um Personen jeder verwandtschaftlichen Beziehung zusammenzuführen, auch wenn der andere Mitgliedstaat nach den Kriterien in den Art. 8 bis 11 und 16 nicht zuständig ist. Die betreffenden Personen müssen dem schriftlich zustimmen, Art. 17 Abs. 2 Unterabs. 1 Satz 2 Dublin III-VO. Der so ersuchte Mitgliedstaat hat alle erforderlichen Überprüfungen vorzunehmen, dass die angeführten humanitären Gründe vorliegen und antwortet dem ersuchenden Mitgliedstaat innerhalb von zwei Monaten nach Eingang des Gesuchs. Eine Ablehnung des Gesuchs ist zu begründen, Art. 17 Abs. 2 Unterabs. 3 Dublin III-VO. Nach Art. 17 Abs. 2 Unterabs. 4 Dublin III-VO wird dem ersuchten Mitgliedstaat die Zuständigkeit für die Antragsprüfung übertragen, wenn dieser dem Gesuch stattgibt. Es handelt sich also gerade nicht um einen Selbsteintritt, der in Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO normiert ist. Vielmehr bedarf eines Übernahmeersuchens, welches dann angenommen werden kann. Es ist mithin eine Kooperation zweier Mitgliedstaaten nötig (so auch VG Berlin, B.v. 17.6.2019 - 23 K L 293.19.A - juris).
41
Diese Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt. Ein entsprechendes Ersuchen der griechischen Behörden an die Bundesrepublik Deutschland, den Antragsteller aus humanitären Gründen, die sich insbesondere aus dem familiären oder kulturellen Kontext ergeben, zur Familienzusammenzuführung (Personen jeder verwandtschaftlichen Beziehungen) aufzunehmen, ist gestellt worden. Zwar wurde das Aufnahmegesuch gemäß Art. 21 Abs. 1 Dublin III-VO auf Art. 8 Dublin III-VO gestützt. Daneben wurde unter „Sonstige zweckdienliche Angaben“ insbesondere auf die Aspekte Kindeswohl und Schutz der Familie verwiesen, so dass das Ersuchen auch ein solches im Sinne des Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO darstellt.
42
Griechenland war zur Stellung des Übernahmeersuchens auch ermächtigt, denn dort hat der Antragsteller am 1. Oktober 2018 einen Asylantrag gestellt, Art. 17 Abs. 2 Unterabs. 1 Satz 1 Alt. 1 Dublin III-VO. Offen bleiben kann, ob das Erfordernis dahingehend, dass noch keine Erstentscheidung in der Sache ergangen sein darf, nur bezüglich eines Übernahmeersuchens eines an sich zuständigen Staates gilt, Art. 17 Abs. 2 Unterabs. 1 Satz 1 Alt. 2 Dublin III-VO (so vertreten von Heusch in: Heusch/Haderlein/Schönenbroicher, Das neue Asylrecht, 1. Auflage 2016, Rn. 271), denn jedenfalls ist nach den glaubhaften Ausführungen des Antragstellers noch keine Erstentscheidung über dessen Asylantrag in Griechenland ergangen, wobei Erstentscheidung die das Erstverfahren bestands- oder rechtskräftig abschließende Entscheidung meint (vgl. NK-AuslR/Bruns, 2. Aufl. 2016, AsylVfG, § 27a, Rn. 63).
43
Dieses Ersuchen kann „jederzeit“ gestellt werden, wurde hier aber ohnehin innerhalb der Frist des Art. 21 Abs. 1 Dublin III-VO an Deutschland übermittelt. Der Antragsteller hat seinen Asylantrag in Griechenland am 1. Oktober 2018 gestellt. Das Aufnahmegesuch der griechischen Behörden vom 18. Dezember 2018 erfolgte daher innerhalb der dreimonatigen Frist des Art. 21 Abs. 1 Dublin III-VO.
44
Ebenso liegen die nach Art. 17 Abs. 2 Unterabs. 1 Satz 2 Dublin III-VO erforderlichen schriftlichen Zustimmungserklärungen zur Familienzusammenführung vor.
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Die in Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO geforderten humanitären Gründe, sie sich insbesondere aus dem familiären Kontext ergeben, um Personen jeder verwandtschaftlichen Beziehung zusammenzuführen, sind vorliegend gegeben. Zunächst ist festzustellen, dass die geforderten verwandtschaftlichen Beziehungen vorliegen. Der Antragsteller und der volljährige Bruder des Antragstellers sind, wie bereits ausgeführt, Geschwister. Unschädlich ist insoweit, dass es sich bei den Geschwistern weder um Familienangehörige gemäß Art. 2 g) Dublin III-VO noch um Verwandte gemäß Art. 2 h) Dublin III-VO handelt, denn schon der Wortlaut des Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO stellt klar, dass gerade keine Beschränkung auf die dort aufgezählten Personen erfolgen soll.
46
Weiter sind auch die genannten humanitären Gründe, die sich insbesondere aus dem familiären Kontext ergeben, gegeben. Bei den genannten humanitären Gründen handelt es sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff, der auszulegen ist. Hierbei ist im Kontext der Dublin III-VO eine Auslegung geboten, die bei der Anwendung der Vorschriften zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates zu Ergebnissen gelangt, die den Grundgedanken der Einheit der Familie und dem Kindeswohl verpflichtet ist, was sich insbesondere aus den Erwägungsgründen 13 bis 17 der Dublin III-VO entnehmen lässt. Hier handelt es sich bei dem Antragsteller und dessen Bruder um Geschwister. Mit Blick auf dieses Verwandtschaftsverhältnis ist aufgrund der Besonderheiten des vorliegenden Falles vom Vorliegen humanitärer Gründe aus dem familiären Kontext auszugehen. Dieser familiäre Kontext führt jedenfalls angesichts der engen familiären Verbundenheit des volljährigen Bruders mit dem minderjährigen Antragsteller, dem Alter des Antragstellers (15 Jahre) sowie der Tatsache, dass sich der Antragsteller ohne jedwede Angehörige bereits seit mehr als einem Jahr alleine in Griechenland befindet, hier, bezogen auf diesen Einzelfall, zur Bejahung der humanitären Gründe.
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Die Antragsgegnerin hätte somit das ihr zustehende Ermessen pflichtgemäß ausüben müssen. Vorliegend hat die Antragsgegnerin das ihr eingeräumte Ermessen jedoch nicht ausgeübt. Wie sich sowohl aus den Argumenten der Antragsgegnerin im Ablehnungsschreiben vom 21. Dezember 2018, den weiteren Ablehnungsschreiben als auch aus den Erwägungen in der Antragserwiderung vom 25. April 2019 und dem Schreiben vom 4. September 2019 ersehen lässt, hat die Antragsgegnerin das ihr eingeräumte Ermessen nicht ausgeübt. In den Schriftsätzen der Antragsgegnerin finden sich lediglich formelhafte Ausführungen zu Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO (Antragserwiderung vom 25. April 2019). Ermessenserwägungen zu dem konkreten Fall sind nicht zu erkennen. Es wird lediglich festgestellt, dass keine Ermessensreduzierung auf Null gegeben sei. Das Gericht konnte dennoch über den Antrag abschließend entscheiden (was im Rahmen des Eilrechtschutzes bei Ermessensentscheidungen jedenfalls strittig ist), denn vorliegend ist eine Ermessensreduktion auf Null gegeben, da angesichts der überragenden Schutzgüter, die für den Antragsteller sprechen, eine andere Entscheidung als die Zustimmung zur Übernahme des Antragstellers rechtswidrig wäre.
48
Es liegen in Bezug auf den minderjährigen Antragsteller über das bloße Interesse an der Familienzusammenführung hinausgehende Umstände vor, welche ausnahmsweise die Annahme eines Härtefalls begründen und jede andere Entscheidung unvertretbar erscheinen lassen. Grundsätzlich kann eine derartige Ermessensreduktion nach der Konzeption der Vorschrift nur in besonders gelagerten Fallkonstellationen in Betracht kommen. Dafür reicht namentlich die bloße Existenz eines humanitären Grundes, der den Anwendungsbereich des Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO überhaupt erst eröffnet, noch nicht aus. Zu fordern ist vielmehr eine besondere Verdichtung von humanitären Umständen, die unter Berücksichtigung der Begebenheiten des konkreten Einzelfalls einen Härtefall begründen können, der jede andere Entscheidung unvertretbar erscheinen lässt (vgl. VG Berlin, B.v. 15.3.2019 - 23 L 706.18 A - juris Rn. 32; ähnlich zu Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO: BayVGH, U.v. 3.12.2015 - 13a B 15.50124 - juris Rn. 22).
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Selbst unter Zugrundelegung dieses strengen Maßstabs ergibt sich auf der Grundlage einer Gesamtbetrachtung der Besonderheiten des vorliegenden Falls, dass von einer ausnahmsweisen Verdichtung des der Antragsgegnerin zustehenden Ermessens hin zu einer Pflicht zur Übernahme der Asylverfahren der Antragsteller auszugehen ist. So liegen in Bezug auf den in Griechenland befindlichen Antragsteller solche - über das bloße Interesse an einer Familienzusammenführung hinausgehende - Umstände vor, welche ausnahmsweise die Annahme eines Härtefalls begründen und jede andere Entscheidung unvertretbar erscheinen lassen.
50
Hier sind zunächst in erheblicher Weise die Aspekte des Kindeswohls des minderjährigen Antragstellers betroffen. Diese sind anhand einer Gesamtschau der jeweiligen Umstände des konkreten Einzelfalls zu ermitteln. Als Prüfungsmaßstab zieht etwa die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte das Alter des Kindes, den Umfang der Bindung des Kindes zu seinen Familienmitgliedern im Herkunftsstaat sowie den Umstand, ob das Kind unabhängig von seiner Familie eingereist ist, heran (vgl. EGMR, U.v. 30.7.2013 - Nr. 948/12 - BeckRS 2014, 80974 Rn. 56 [engl.]). In ähnlicher Weise stellt auch der Europäische Gerichtshof hinsichtlich der Schutzwürdigkeit eines minderjährigen Kindes auf dessen Lebensalter sowie die Frage ab, wie lange dieses in einem anderen Staat als seine Familienangehörigen gelebt hat (vgl. EuGH, U.v. 27.6.2006 - C-540/03 - BeckRS 2006, 80974 Rn. 73-75, wo im Zusammenhang mit dem Familiennachzug eine Altersgrenze von zwölf Jahren gebilligt wurde). Ausgehend von diesen Grundsätzen muss im Hinblick auf den vorliegenden Fall zunächst berücksichtigt werden, dass der alleine in Griechenland lebende Antragsteller erst fünfzehn Jahre alt ist und damit auch im Hinblick auf die vom EuGH in Betracht gezogene Altersgrenze von zwölf Jahren noch in gewissem Umfang schutzwürdig erscheint. Dies gilt umso mehr, als dass er Afghanistan bereits im Alter von 14 Jahren verlassen hat. Mithin ist der Antragsteller bereits seit circa 18 Monaten von jeglichen Familienangehörigen getrennt. Weiter hat der Antragsteller, nach seinen Angaben, vor knapp zwei Jahren seine Eltern durch eine verübte Gewalttat verloren. Zwar konnte er, zusammen mit den jüngeren Geschwistern, bei einem Onkel leben, der jedoch, nach Angaben des Antragstellers, gewalttätig war. Hinzu kommt, dass nach dem glaubhaften Vortrag des Antragstellers bis heute ein regelmäßiger Kontakt mit dem bereits 2015 in Deutschland eingereisten Bruder gepflegt wird und somit noch vom Bestehen einer hinreichend engen Beziehung zwischen Antragsteller und Bruder auszugehen ist. Dies wird auch durch die Stellungnahmen der griechischen Behörden im „Best Interest Form“ vom 17. Dezember 2018 bestätigt. Danach sei es im Interesse des minderjährigen Antragstellers, diesen zu seinem Bruder nach Deutschland zu überstellen. Der Antragsteller leide an einem Trauma, einer Belastungsstörung, Panikattacken, Melancholie, Schlafstörungen und habe Schwierigkeiten, sein tägliches Leben zu bewältigen. Er habe die Ermordung der Eltern miterleben müssen, sei dann vom Onkel misshandelt worden und schließlich auf der Flucht in der Türkei entführt worden. Der Antragsteller sei emotional sehr verwundbar, weshalb er eine Familie benötige und die Unterstützung von jemanden, dem der Antragsteller wirklich am Herzen liege. Der Antragsteller vermisse seine Familie. Er und sein Bruder seien emotional eng miteinander verbunden. Der Bruder fungiere dabei als Vaterfigur, der den Antragsteller immer unterstützt und beschützt habe. Nicht zuletzt wird dies auch durch den im Verfahren vorgelegten erklärenden Brief des Bruders vom 6. Januar 2019 belegt. Hinsichtlich der angeführten Erkrankungen ist anzumerken, dass diese nicht substantiiert vorgetragen wurden und daher keine Berücksichtigung finden können. Doch unabhängig von einer Erkrankung des Antragstellers wurde glaubhaft dargelegt, dass die Zusammenführung des Antragstellers mit seinem Bruder dem Kindeswohl entspricht und zur Verbesserung der emotionalen Stabilität des Antragstellers führen wird.
51
Nicht zuletzt wird man zu Gunsten des Antragstellers in diesem Zusammenhang zu berücksichtigen haben, dass die Antragsgegnerin die Anforderungen an den Nachweis der Familienverhältnisse zu hoch gesteckt hat und ihre Ablehnung auf das Übernahmeersuchen der griechischen Behörden vom 18. Dezember 2018 rechtswidrig erteilt hat (vgl. hierzu die Ausführungen unter (1)), was wesentlich dazu beiträgt, dass sich das der Antragsgegnerin zustehende Ermessens ausnahmsweise zu einer Pflicht zur Übernahme des Asylverfahrens des Antragstellers verdichtet hat.
52
Anzumerken ist, dass die zu Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO ergangene Rechtsprechung des EuGH (vgl. EuGH, U.v. 23.1.2019 - C-661/17 - juris Rn. 70 ff.), wonach Art. 6 Abs. 1 Dublin III-VO dahingehend auszulegen ist, dass er einen Mitgliedstaat, der nach den in dieser Verordnung genannten Kriterien für die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz unzuständig ist, nicht dazu verpflichtet, das Wohl des Kindes zu berücksichtigen und diesen Antrag in Anwendung von Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO selbst zu prüfen, dem Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht entgegen steht. Zwar ist auch Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO eine Ermessensnorm. Jedoch handelt es sich bei den Art. 17 Abs. 1 und Abs. 2 Dublin III-VO um eigenständige Vorschriften mit unterschiedlichem Regelungsbereichen. Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO führt in seinem Tatbestand, anders als Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO, gerade keine humanitären insbesondere familiären Gründe an, während in den Fällen des Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO der ersuchte Mitgliedstaat gerade prüfen muss, dass die angeführten humanitären Gründe vorliegen, Art. 17 Abs. 2 Unterabs. 3 Satz 1 Dublin III-VO. Zudem sieht Art. 17 Abs. 2 Unterabs. 3 Dublin III-VO vor, dass die Ablehnung des Übernahmegesuchs begründet werden muss, während sich der Mitgliedstaat bei Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO zu einer Nichtausübung des Selbsteintrittsrechts gerade nicht äußern muss.
53
b) Der Antragsteller hat zudem einen Anordnungsgrund im Sinne einer besonderen Dringlichkeit einschließlich eines drohenden Rechtsverlustes glaubhaft gemacht. Dieser ergibt sich daraus, dass nach den gescheiterten Versuchen des griechischen Dublin-Referats auf Übernahme des Antragstellers durch die Antragsgegnerin nunmehr eine Sachentscheidung über das Asylbegehren des Antragstellers durch die griechischen Asylbehörden zu befürchten ist, womit diese nicht mehr dem Anwendungsbereich der Dublin-III-VO unterfielen (vgl. auch: VG Münster, B. v. 20.12.2018 - 2 L 989/18.A - juris Rn. 69; VG Berlin, B. v. 15.3.2019 - 23 L 706.18 A - juris Rn. 36; VG Wiesbaden, B. v. 25.4.2019 - 4 L 478/19.WI.A). Der Antragsteller hat nach den Ausführungen seines Bevollmächtigten am 7. Oktober 2019 einen Anhörungstermin.
54
c) Die mit dieser Anordnung verbundene Vorwegnahme der Hauptsache ist hier vor dem Hintergrund des Art. 19 Abs. 4 GG ausnahmsweise zulässig, da ansonsten ein nicht umkehrbarer Übergang der Zuständigkeit auf Griechenland zu befürchten ist und die Familieneinheit des Antragstellers - jedenfalls basierend auf der Dublin III-VO - nicht mehr herbeigeführt werden könnte. Dies ist unzumutbar und auch nicht mehr rückgängig zu machen. Zudem besteht, wie bereits ausgeführt, eine hohe Wahrscheinlichkeit für ein Obsiegen in der Hauptsache.
55
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, § 83 b AsylG.
56
Die Entscheidung ist nach § 80 AsylG unanfechtbar.