Inhalt

LSG München, Urteil v. 10.12.2019 – L 15 BL 5/16
Titel:

Blindengeld: Einwand der Zweckverfehlung

Normenkette:
BayBlindG Art. 1
Leitsätze:
1. Im Falle eines erhobenen Zweckverfehlungseinwands ist im Einzelfall zu prüfen, ob bei der Ausprägung des individuellen Krankheitsbildes blindheitsbedingte Mehraufwendungen in Betracht kommen; der pauschale Verweis auf die zugrundeliegende Gesundheitsstörung genügt nicht. (Rn. 67 und 71)
2. Aufwendungen für die allgemeine pflegerische Betreuung stellen keine blindheitsbedingten Mehraufwendungen dar; es muss sich vielmehr um blindheitsspezifischen Aufwand handeln. (Rn. 73)
3. Maßgeblich bei der Beurteilung der Frage, ob im konkreten Fall blindheitsbedingte Mehraufwendungen möglich sind, ist die objektive Situation des betroffenen blinden Menschen. Ob blindheitsbedingte Mehraufwendungen von dem Betroffenen tatsächlich getragen werden, ist dabei nur ein Indiz. (Rn. 75)
4. Zur Frage von Kosten im Zusammenhang mit einer notwendigen zeitintensiven Beschäftigung des Betroffenen. (Rn. 84)
Schlagworte:
allgemeine Wahrnehmungsstörung, Ansehen von Filmen oder Bildern, Ausgleich des Mehraufwands, Benennen, Blindengeld, Blindheit, blindheitsbedingte Mehraufwendungen, Blindheitsnachweis, Darlegungslast, Erkennen, faktische Blindheit, hochgradige Sehbehinderung, Intelligenzminderung, Kognitionsstörung, Landesblindengeld, mehrfachbehindertes Kind, Mitwirkungsobliegenheit, objektive Beweislast, pflegerische Betreuung, Reizaufnahme, Reizweiterleitung, Sehvorgang, Sinnesmodalitäten, spezifische Sehstörung, Verarbeitung, Verarbeitungsstörung, Wahrnehmung in nichtvisuellen Modalitäten, zeitintensive Beschäftigung, Zerebrale Blindheit, Zweckverfehlungseinwand
Vorinstanz:
SG Augsburg, Gerichtsbescheid vom 26.10.2012 – S 5 BL 13/11
Fundstelle:
BeckRS 2019, 42147

Tenor

I. Auf die Berufung wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Augsburg vom 26. Oktober 2012 aufgehoben und die Klage abgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

1
Zwischen den Beteiligten ist der Anspruch des Klägers auf Blindengeld nach dem Bayerischen Blindengeldgesetz (BayBlindG) streitig.
2
Der 1991 geborene Kläger leidet seit seiner Geburt unter einem schweren Residualsyndrom mit statomotorischer Retardierung, Mikrozephalie, Tetraspastik und Epilepsie. Er ist in O-Stadt (Russland) geboren und kam mit seiner Familie im März 1998 nach D..
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Am 12.07.2011 stellten die Eltern des Klägers für diesen Antrag auf Blindengeld beim Beklagten. Wie aus dem Entlassungsbericht der Klinik für Kinder und Jugendliche B-Stadt vom 19.02.1999 hervorgeht, haben die Eltern (unter Einsatz einer Dolmetscherin) angegeben, dass der Kläger nach seiner Geburt blau gewesen sei und nicht geschrien habe. Eine Betreuung in einer Kinderklinik sei in R. nicht erfolgt. Bis zu einem Alter von drei Jahren hätte der Kläger nur mit einer Flasche ernährt werden können. Bis zum Alter von sechs Monaten habe der Kläger normal auf seine Umwelt reagiert, sei dann jedoch schwer krank geworden. Im Entlassungsbericht der Klinik vom 13.10.1998 wurde festgehalten, dass die schwere peripartale Asphyxie anscheinend nicht ausreichend behandelt worden sei. Bei dem Kläger handelte es sich um einen schwerbehinderten, extrem tetraspastischen Jungen. Es sei kein gezieltes Greifen des Klägers, keine Kontaktaufnahme möglich und es bestehe nur eine ungerichtete Reaktion auf akustische Reize.
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Im Entlassungsbericht vom 16.08.1999 wurde geschildert, dass sich ein gezielter Blick nicht beobachten lasse; auf Lichtreize sei es zu Abwehrbewegungen, auf akustische Reize zu verschiedenartigen Reaktionen gekommen; man habe den Eindruck, dass der Kläger auf Musik mit Freude reagiere, sowie er überhaupt sowohl auf taktile Reize als auch auf menschliche Nähe freudig erregt erscheine. Insgesamt bestehe eine motorische Unruhe mit häufigem Hin- und Herwerfen des Kopfes und ungezielten Bewegungen der Arme.
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Im ärztlichen Bericht der Kinderärztin Dr. B. vom 19.02.2003 ist von einer schweren Mehrfachbehinderung bei Tetraspastik die Rede. Der Kläger habe kurz eine Lichtquelle fixiert, ein Blickkontakt oder Augenfolgebewegungen seien nicht möglich. Der Kläger reagiere gut auf Geräusche und Sprache und zeige dabei eine lebhafte Mimik und lächle. Die Kopfkontrolle sei mäßig ausgeprägt. Der Zustand des Klägers scheine stabil; er werde von den Eltern zu Hause sehr gut gepflegt und betreut.
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Im Therapiebericht des Physiotherapeuten D. vom 17.03.2003 wurde hervorgehoben, dass im Vordergrund der Therapie die Kontrakturprophylaxe gestanden habe. Nahziele im Berichtszeitraum (Januar 2002 bis März 2003) seien u.a. die physiologische Belastung der unteren und oberen Extremitäten durch die Einnahme von unterschiedlichsten Positionen gewesen. Hierbei sei zu beobachten gewesen, dass der Kläger aufmerksam gewesen sei und diese taktilen, propriozeptiven und vestibulären Reize aufgenommen und in seinem Rahmen verarbeitet habe. Ziele seien die Förderung der basalen Wahrnehmung, die Anleitungen und Unterstützung sowie Beratung der Eltern in Bezug auf Lagerung und Hilfsmittelversorgung gewesen.
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Im Auftrag des Beklagten erstellte der Augenarzt Dr. F. am 04.10.2011 ein Gutachten. In dem Gutachten berichtete der Arzt, dass der Kläger im Rollstuhl in Begleitung seiner Eltern erschienen sei und nicht erkennbar auf Ansprache reagiert habe. Er sei weitgehend bewegungsunfähig, von Seiten des Kopfes seien Schaukelbewegungen durchgeführt worden. Ebenfalls seien ungerichtete Augenbewegungen in sämtliche Blickrichtungen, eine zielgerichtete Fixation lediglich kurzzeitig auf Licht festzustellen. Dargebotene Objekte seien vom Kläger nicht bewusst fixiert worden. Folgebewegungen seien auf Licht bedingt, auf sonstige Gegenstände hin nicht auslösbar. Eine verbale Kommunikation mit dem Kläger sei nicht möglich.
8
Weder eine Sehschärfeprüfung im gutachterlichen Sinn, noch eine Gesichtsfelduntersuchung mit der manuell kinetischen Prüfmethode (Prüfmarke III/4) seien beim Kläger, so der Augenarzt, durchführbar. Auch die Ableitung visuell evozierter Potentiale (VEP) (durch einen Neurologen) sei wegen fehlender Mitarbeit nicht möglich gewesen.
9
Dr. F. hat beim Kläger eine partielle Optikusatrophie, Makulahypoplasie, Tetraspastik, Epilepsie und schwerste Retardierung diagnostiziert.
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Die Frage, ob im vorliegenden Fall Blindheit vorliege, könne nicht mit Sicherheit beantwortet werden. Seines, Dr. F.s, Erachtens, handle es sich beim Kläger in erster Linie um einen schwerstretardierten jungen Mann, dessen visuelle Wahrnehmung ebenso wie andere Leistungsbereiche aufgrund seiner Schwerstbehinderung bereits während seines gesamten Lebens nur in erheblich eingeschränktem Maß genutzt werden.
11
Seines Erachtens liege die Störung eindeutig in der Wahrnehmungsverarbeitung, die aufgrund der Schwerstbehinderung des Klägers gestört sei. In der Interaktion mit seiner Umwelt sei der Kläger sicher mit einem Blinden gleichzusetzen, da bei ihm keine bewusste Aufnahme oder Verarbeitung visueller Eindrücke festgestellt werden könne. Dies habe allerdings seine Ursache in der Schwerstbehinderung und nicht zwangsläufig in einer isolierten Störung des visuell wahrnehmenden Systems.
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Mit Bescheid vom 20.10.2011 lehnte der Beklagte den Antrag auf Blindengeld ab. Blindheit im gesetzlichen Sinne habe nicht mit der erforderlichen Sicherheit nachgewiesen werden können.
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Hiergegen legte der Kläger am 31.10.2011 Widerspruch ein, der mit Widerspruchsbescheid vom 21.11.2011 als unbegründet zurückgewiesen wurde. Zur Begründung führte der Beklagte aus, dass es trotz Einsatzes aller diagnostischen Möglichkeiten nicht gelungen sei, das genaue Ausmaß der beim Kläger vorliegenden Sehstörung festzustellen. Aus versorgungsärztlicher Sicht sei eine Amaurose jedenfalls ausgeschlossen. Es lasse sich nicht der objektive Nachweis erbringen, dass beim Kläger Blindheit im Sinne des BayBlindG vorliege.
14
Am 06.12.2011 hat der Kläger über seinen Bevollmächtigten hiergegen Klage zum Sozialgericht (SG) Augsburg erhoben. Zur Begründung ist hervorgehoben worden, dass der Kläger an einer schweren psychomotorischen Retardierung mit Tetraspastik, Mikrozephalie und Epilepsie leide. Diese Erkrankung sei wohl auf eine schwere Asphyxie zurückzuführen, die beim Kläger im Alter von sechs Monaten aufgetreten sei. Aus den Feststellungen des Augenarztes Dr. F. könne geschlossen werden, dass die morphologischen Auffälligkeiten beim Kläger eine Blindheit bedingen könnten. Insgesamt komme der Augenarzt zu dem Schluss, dass der Kläger sicher mit einem Blinden gleichzusetzen sei, da bei ihm keine bewusste Aufnahme oder Verarbeitung visueller Eindrücke festgestellt werden könne.
15
Der Einschätzung des Beklagten könne nicht gefolgt werden. Nach gefestigter Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) seien unter Art. 1 Abs. 2 Nr. 2 BayBlindG alle Störungen des Sehvermögens zu berücksichtigen, worunter auch zerebrale Schäden fallen würden. Weiter hat die Klägerseite beantragt, ein fachärztliches Sachverständigengutachten einzuholen.
16
Schließlich ist betont worden, dass beim Kläger vielfach beobachtet worden sei, dass er auf akustische Reize gut reagiere wie auch auf taktile, propriozeptive und vestibuläre. Gezielter Blick, Blickkontakt oder Augenfolgebewegungen seien hingegen nicht beobachtbar. Die Eltern des Klägers hätten beobachtet, dass der Kläger seit seiner Erkrankung (mit etwa sechs Monaten) keinen Blickkontakt mehr herstelle und auch sonst auf visuelle Reize nicht mehr reagiere. Es werde klar, dass die visuelle Wahrnehmung des Klägers deutlich stärker betroffen sei als andere Wahrnehmungsmodalitäten, was für den Nachweis einer faktischen Blindheit nach der Rechtsprechung des BSG ausreiche. Das Gutachten vom 04.10.2011 komme nicht zu einem eindeutigen Ergebnis, dennoch sei jegliche weitere Untersuchung des Klägers unterblieben.
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Im Auftrag des SG hat am 22.08.2012 Prof. Dr. B. (Sozialpädiatrisches Zentrum und Kinderneurologie der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendmedizin U-Stadt) ein neuropädiatrisches Sachverständigengutachten erstellt; das Gutachten basiert u.a. auf einer persönlichen Untersuchung des Klägers am 21.08.2012.
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Die Eltern haben beim Gutachter u.a. angegeben, dass der Kläger in jeder Hinsicht hilflos sei. Er könne sich vom Rücken nicht auf die Seite oder auf den Bauch drehen, könne nicht sitzen, nicht stehen und auch nicht laufen. Er müsse komplett gefüttert werden. Auch die Körperpflege müsse komplett von den Eltern übernommen werden.
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Der Kläger erkenne, so die Eltern beim Gutachter, keine Gesichter, reagiere nicht auf ein Gesicht oder auf ein Bild im Spiegel, zeige nur bei Dunkelheit eine gewisse Unruhe und Aufmerksamkeit, wenn man nach Abdunkeln eines Raums diesen hell erleuchtet. Nur auf dem akustischen Sinneskanal sei der Kläger gut erreichbar. Er höre zu, wenn andere sich unterhielten und reagiere auf Geräusche. Er freue sich über Geräusche und erkenne die Stimmen seiner Eltern, nicht jedoch den Inhalt des Gesprochenen. Er verspanne sich, wenn er eine fremde Stimme erstmals höre. Der Kläger liebe Musik, wenn sie leise sei, habe aber keine spezifischen Vorlieben für bestimmte Musikgattungen oder -stücke. Er werde beim Hören der Musik still. Bei lauten Unterhaltungen oder bei Schimpfen weine der Kläger. Der Kläger verstehe, wenn man sage: „Jetzt gehen wir spazieren“ oder „Jetzt gibt es etwas zu essen“, er lache dann und freue sich.
20
Hinsichtlich der Kommunikation und sozialen Teilhabe hätten die Eltern bei ihm, dem Sachverständigen, angegeben, dass man insbesondere an der Mimik und an elementaren Bewegungen die Stimmung des Klägers erfassen könne. Er verziehe das Gesicht zu einem Grinsen meist ohne Lautäußerung, wenn ihm etwas gefalle, und er halte inne, wenn ihm etwas nicht gefalle. Der Kläger zeige elementares Verständnis für Zusammenhänge. Beim Hören des Geräusches des Pürierstabs freue er sich, weil er wisse, dass er anschließend etwas zu essen bekäme. Gleiches gelte, wenn er Einlaufen von Wasser in die Badewanne höre und sich auf ein Bad freue. Offenbar sei der Kläger gern in Gemeinschaft mit bekannten Personen und freue sich, dabei zu sein, und freue sich bei Ansprache. Es gebe keine Möglichkeit, den Kläger zu beruhigen, wenn dieser weine oder sich aufgeregt habe. Zusammenfassend würden die Eltern, so Prof. Dr. B., den akustischen Sinneskanal als den für ihren Sohn entscheidenden Wahrnehmungsbereich ansehen.
21
Zum visuellen System hat der Sachverständige festgestellt, dass die Pupillenreaktion auf Licht verzögert, seitengleich positiv, erfolgt sei. In Rückenlage im abgedunkelten Raum sei allenfalls ein sehr kurzzeitiges Betrachten einer Lichtquelle festgestellt worden, jedoch kein Halten des Blicks über eine Sekunde oder länger und keine Blickfolgebewegungen. Bei rascher heller Erleuchtung des zuvor abgedunkelten Raums sei ein Innehalten, möglicherweise eine Irritation, bemerkt worden. Eine Fixation auf verschiedene Objekte (glänzende Oberfläche, stark schwarz-weiß kontrastierte Oberfläche) sei nicht erfolgt, ebenso keinerlei Blickfolgebewegungen, kein aktives Aufsuchen von Objekten durch Blicke. Eine Reaktion auf das Vorhalten eines Spiegels sei nicht erfolgt. Spontane Kopfbewegungen und Blickbewegungen in verschiedene Richtungen ohne Einschränkung der Augenmotilität seien erfolgt, jedoch keine aktive visuelle Kontaktaufnahme zu Personen oder Richtung des Blicks auf Objekte.
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Hinsichtlich der akustischen Wahrnehmung hat Prof. Dr. B. u.a. festgestellt, dass eine eindeutige Aufmerksamkeit mit Innehalten und anschließendem Lächeln bei Halten einer Stoppuhr, die leise ticke, bzw. einer Stimmgabel, die einen leisen Ton von sich gegeben habe, erfolgt. Auf verbale Ansprache habe der Kläger freudig gelächelt und einige kommunikativ zu interpretierende Laute des Wohlbefindens ausgestoßen. Er habe dabei, wie auch bei anderen Situationen des Wohlbefindens, typische spastische Streckmuster entwickelt. Zur taktilen Wahrnehmung hat der Sachverständige festgestellt, dass keine Reaktion auf Berührung der Hände etc. erfolgt sei. Bei der gustatorischen Wahrnehmung habe u.a. die Gabe einer kleinen Menge flüssigen Kaffees beim Kläger zu einem kurzen Innehalten geführt.
23
Das abgeleitete Elektroenzephalogramm (EEG) habe das Hirnstrombild eines schwer hirngeschädigten Patienten gezeigt.
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Weiter hat der Sachverständige festgestellt, dass der Kläger faktisch blind sei. Die visuelle Wahrnehmung sei maximal eingeschränkt; selbst sehr starke Reize würden nicht wahrgenommen. Zur akustischen Wahrnehmung sei der Kläger eindeutig in der Lage, er differenziere verschiedene Stimmen, reagiere auf verschiedene Geräusche positiv oder negativ und reagiere auf persönliche Ansprache. Dennoch seien die Einschränkungen auf der akustischen Wahrnehmungs- und Verarbeitungsfähigkeit des Klägers im Vergleich zu einer gesunden Person erheblich. Dies sei, so Prof. Dr. B., Folge seiner schwersten Intelligenzminderung. Weder die klinische Untersuchung noch die anamnestischen Angaben der Eltern würden im Übrigen klären, ob der Kläger zu einer olfaktorischen Wahrnehmung in der Lage sei. Zu einer gustatorischen Wahrnehmung sei er in der Lage. Der Kläger sei zu taktiler Wahrnehmung nicht erkennbar in der Lage; er reagiere nicht auf Berührung, Streicheln oder festes Anfassen in eindeutiger Weise. Seine Wahrnehmungseinschränkungen in den übrigen Sinnesmodalitäten seien massiv und vergleichbar zu denen im visuellen System. Schließlich hat der Sachverständige festgestellt, dass die Thermorezeption eingeschränkt, jedoch nicht fehlend sei. Auf heiße Temperaturen, bei Berührung oder im Mund, reagiere der Kläger. Eine weitere Differenzierung sei nicht erkennbar. Die Nozizeption des Klägers sei ebenfalls eingeschränkt, auf Schmerzreize reagiere der Kläger. Eine propriozeptive Wahrnehmungsfähigkeit sei insoweit erkennbar und vom vestibulären Sinn nicht eindeutig zu differenzieren, als der Kläger auf rasche Lageveränderungen offensichtlich mit Unwohlsein reagiere.
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Die visuellen Wahrnehmungsfähigkeiten des Klägers seien nicht deutlich stärker eingeschränkt als die oben genannten. Es bestehe lediglich, sowohl nach den anamnestischen Angaben der Eltern als auch aufgrund des Untersuchungsbefunds, ein erkennbarer Unterschied zu den offensichtlich differenzierteren akustischen Wahrnehmungsfähigkeiten des Klägers. Die akustische Wahrnehmungsfähigkeit zeige deutlich differenziertere Erkennungsmöglichkeiten und stelle für den Kläger die wesentliche Modalität zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft dar.
26
Eine reproduzierbare Kontaktaufnahme bzw. Kommunikation mit dem Kläger sei in sehr eingeschränkter Weise möglich.
27
Mit Schriftsatz vom 10.10.2012 hat der Beklagte darauf hingewiesen, dass der Gutachter Prof. Dr. B. bestätigt habe, dass beim Kläger keine spezifische Störung des Sehvermögens gegeben sei. Faktische Blindheit bestehe daher nicht.
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Am 25.10.2012 hat der Bevollmächtigte hingegen die Auffassung vertreten, dass der genannte Sachverständige eine spezifische Störung des Sehvermögens festgestellt habe. Dass der Kläger keine aktive Handmotorik, kein Greifen und kein Festhalten zeige, liege schlichtweg an der Tetraspastik, unter welcher der Kläger leide.
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Nach Einverständniserklärung der Beteiligten hat das SG am 26.10.2012 durch Gerichtsbescheid entschieden und den Beklagten unter Aufhebung der o.g. Verwaltungsentscheidungen verurteilt, dem Kläger ab 01.07.2011 Blindengeld zu gewähren. Zur Begründung hat das SG dargelegt, dass beim Kläger faktische Blindheit i.S.v. Art. 1 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 BayBlindG vorliege. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme stehe zur Überzeugung des Gerichts eine spezifische Sehstörung fest. Mit Blick auf die Begutachtungsergebnisse von Prof. Dr. B. sei es dem Kläger am 12.05.2011 nicht möglich gewesen, Personen oder Gegenstände zu fixieren; Blickfolgebewegungen seien nicht durchführbar gewesen. In Rückenlage habe der Kläger im abgedunkelten Raum allenfalls sehr kurzzeitig eine Lichtquelle betrachtet. Hingegen sei er in der Lage gewesen, auf akustische Reize zu reagieren. Im Übrigen hat das SG zu den weiteren Sinnen des Klägers Stellung genommen.
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Schließlich hat es hervorgehoben, dass der Anspruch auf Blindengeld nicht daran scheitere, dass der Kläger infolge seiner multiplen Behinderungen keine blindheitsbedingten Aufwendungen habe. Es spiele also keine Rolle, dass der Kläger keine Mehraufwendungen zu tragen habe, wie sie üblicherweise ein Blinder in den Bereichen von Pflege, Wartung, hauswirtschaftlicher Versorgung, Mobilität, Information, Kommunikation, Hilfsmittel für das tägliche Leben (lebenspraktische Fertigkeiten), Kleider- und Materialverschleiß, erhöhter Wohnraumbedarf oder sonstige Assistenzleistungen habe. Das BSG habe nämlich (Urteil v. 26.10.2004 - B 7 SF 2/03 R) festgestellt, dass der Ausgleich blindheitsbedingter Mehraufwendungen nicht Voraussetzung für einen Anspruch nach dem BayBlindG sei.
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Gegen den Gerichtsbescheid hat der Beklagte am 14.11.2012 Berufung beim Bayerischen Landessozialgericht (BayLSG) eingelegt und diese damit begründet, dass sich eine spezifische Störung des Sehvermögens im Verhältnis zu anderen Sinnesmodalitäten - wie vom BSG gefordert - nicht feststellen lasse. Beim Kläger liege eine schwerste Mehrfachbehinderung mit spastischer Tetraparese und schwerster Intelligenzminderung vor, die sich z.B. im Bereich der Mobilität („in jeder Hinsicht hilflos“) und Kommunikation (keine Verständigung möglich) auswirke. Der Kläger könne sich nicht bewusst vom Rücken auf die Seite oder den Bauch drehen, nicht sitzen, stehen oder laufen. Im Bereich der taktilen Wahrnehmung erfolge keine Reaktion auf Berührung der Hände, Unterarme und auch bei der Palpation des Abdomens. Dass der Kläger beim Berühren heißer Objekte etc. seine Hand zurückziehe, somit auf schmerzhafte Berührungen reagiere, sei als reiner Reflex zu interpretieren, der eine Funktion des Rückenmarks darstelle, die nicht mit einer Wahrnehmung im Sinne des Erkennens oder Benennens verwechselt werden dürfe. Ähnlich eingeschränkt wie die taktile Wahrnehmungsfähigkeit seien, so der Beklagte, auch die übrigen Wahrnehmungsfähigkeiten.
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Zudem hat der Beklagte gem. § 199 Abs. 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) Antrag auf Aussetzung der Vollstreckung aus dem Gerichtsbescheid gestellt. Mit Beschluss des Vorsitzenden des Senats vom 07.01.2013 ist die Vollstreckung sodann ausgesetzt worden (L 15 BL 12/12 ER).
33
Mit Schriftsatz vom 20.12.2012 hat der Bevollmächtigte des Klägers die Zurückweisung der Berufung beantragt und im Einzelnen zur Frage der spezifischen Sehstörung Stellung genommen. Das Sachverständigengutachten vom 22.08.2012 komme eindeutig zu dem Ergebnis, dass zwischen der praktisch fehlenden visuellen Wahrnehmungs- und Verarbeitungsfähigkeit und der vorhandenen akustischen Wahrnehmungs- und Verarbeitungsfähigkeit ein beachtlicher Unterschied bestehe. Darüber hinaus habe der Sachverständige auch festgestellt, dass andere Sinnesmodalitäten beim Kläger ebenfalls, wenn auch eingeschränkt, vorhanden seien.
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Im Hinblick auf anhängige Musterverfahren (des erkennenden Senats) ist mit Beschluss vom 20.02.2013 sodann das Ruhen des (zunächst unter dem Aktenzeichen L 15 BL 13/12 erfassten) Berufungsverfahrens angeordnet worden. Auf den klägerischen Antrag vom 17.03.2016 hin ist das Berufungsverfahren sodann (unter dem Az.: L 15 BL 5/16) fortgesetzt worden.
35
Mit Schriftsatz vom 05.09.2016 hat der Beklagte hervorgehoben, dass von einer zerebralen Ursache der mangelnden Reaktionen auf optische Reize auszugehen sei. In den bisher vorliegenden medizinischen Unterlagen befänden sich jedoch keine hinreichenden Informationen über die Morphologie und die Funktionsfähigkeit der zerebralen Sehstrukturen, insbesondere keine Bildgebung und keine VEP-Untersuchung. Es könne zu einer schweren Schädigung der Sehstrukturen gekommen sein, ein Nachweis diesbezüglich liege aber nicht vor.
36
Am 19.09.2016 hat der Bevollmächtigte erklärt, dass entgegen diesen Ausführungen nach dem Urteil des BSG vom 11.08.2015 (B 9 BL 1/14 R) für die anspruchsbegründenden Tatsachen der Blindheit kein Vollbeweis gefordert werden könne.
37
Daraufhin hat der Beklagte betont, nach der Rechtsprechung des BSG könne es keine Beweislastumkehr geben.
38
Mit gerichtlichem Schreiben vom 26.10.2016 hat der Senat die Beteiligten darauf hingewiesen, dass aus Sicht des Gerichts derzeit der Blindheitsnachweis nicht erbracht sei, weil entsprechend der Äußerung des Beklagten aussagekräftige medizinische Befunde bezüglich der morphologischen Situation und auch objektive Funktionsbefunde nicht vorliegen würden. Er hat sodann den Augenarzt Dr. D., mit der Erstellung eines Sachverständigengutachtens beauftragt. Am 15.03.2017 hat sich Dr. D. an das Gericht gewandt und darauf hingewiesen, dass beim Kläger eine schwerste Mehrfachbehinderung mit spastischer Lähmung, eine Epilepsie, eine körperliche Unruhe und eine mangelnde Fähigkeit zur Kooperation vorliege. Die bisher noch nie durchgeführte Bildgebung (am sinnvollsten als MRT vom Kopf) erfordere aber ein absolutes Stillhalten, was nach Aktenlage wohl nicht möglich sein werde. Somit könne diese Untersuchung wohl nur in Narkose (im Sinne eines invasiven Eingriffs) erfolgen. Es müsse daher abgeklärt werden, ob der Kläger überhaupt, ohne wesentliches Risiko, narkosefähig sei, die gesetzlichen Vertreter das zu ermittelnde Risiko einzugehen bereit seien, der Kläger angesichts der bekannten spastischen Lähmung und Muskelkontrakturen überhaupt für eine Kernspin- und Narkoseuntersuchung lagerungsfähig sei und sich ein Narkosearzt finde, der (ethisch) bereit sei, nur zur etwaigen Klärung einer gutachterlichen Fragestellung eine Narkose mit Risiken auch durchzuführen, zumal sich wohl keine therapeutische Konsequenz ergeben werde. Erfahrungsgemäß sei es, so Dr. D., leider auch nur in den seltensten Fällen möglich, allein anhand des Strukturbefunds in der Bildgebung mit Beweiskraft auf den Funktionsbefund hinsichtlich der Blindheitsfeststellung rückzuschließen.
39
Auch die vom Beklagten geforderte VEP-Ableitung könne insbesondere angesichts der schon bestehenden Anfallserkrankung einen epileptischen Anfall auslösen.
40
Auf Anfrage des Gerichts hat der Bevollmächtigte am 12.04.2017 erklärt, dass der Vater und gesetzliche Vertreter des Klägers eine Untersuchung in Narkose ablehne, da sie mit einem Gesundheitsrisiko für den Kläger verbunden sei.
41
Im Hinblick auf das Revisionsverfahren des BSG Az. B 9 BL 1/17 R ist mit Einverständnis der Beteiligten sodann mit Beschluss vom 24.05.2017 (erneut) das Ruhen des Verfahrens angeordnet worden. Nach einer Anfrage des Bevollmächtigten vom 19.12.2018 ist das Verfahren fortgesetzt worden.
42
Mit Schriftsatz vom 14.02.2019 hat der Beklagte den anspruchsvernichtenden Einwand der Zweckverfehlung geltend gemacht. Bei dem beim Kläger bestehenden Krankheitsbild sei es ausgeschlossen, dass der Mangel an Sehvermögen durch bestimmte Maßnahmen (Assistenzleistungen wie z.B. Vorlesen bzw. Verfassen von Post, Hilfsmittel wie Lesegeräte, spezielle EDV, Blindenlangstock etc., Blindenführhund) ausgeglichen werden könne. Es könne von vornherein kein Mehraufwand im o.g. Sinne speziell durch die Blindheit entstehen. Sofern dies von der Klägerseite anders gesehen werde, sei beim Bevollmächtigten anzufragen und konkret darlegen zu lassen, ob und inwieweit seit Antragstellung im Juli 2011 ein Mehraufwand speziell durch die Blindheit entstanden sei. Im Übrigen hat der Beklagte auf die ausdrückliche Feststellung des SG im angefochtenen Gerichtsbescheid hingewiesen, dass der Kläger infolge seiner multiplen Behinderungen keine blindheitsbedingten Mehraufwendungen habe.
43
Am 01.04.2019 hat der Bevollmächtigte vorgetragen, dass der Beklagte seiner Darlegungs- und Beweislast nicht nachkomme. Zweifellos richtig sei, dass der Kläger durch seine Erkrankung überaus stark eingeschränkt sei. Dennoch bestehe bei ihm aufgrund seiner Blindheit Mehraufwand. Infolge der Blindheit des Klägers bestehe nämlich für dessen Pflegeperson ein erhöhter Aufwand bei der Zufuhr von Lebensmitteln und Gerichten. Wäre der Kläger nicht blind, so der Bevollmächtigte, würde sich der Aufwand bei der Verabreichung von Essen an den Kläger verringern. Der Vater meine sogar, dass der Kläger dann auch in der Lage wäre, alleine zu essen. Zudem wolle der Kläger immer wissen, wo sich seine Eltern gerade aufhielten und er mache sich stets bemerkbar, wenn er seine Eltern nicht mehr hören könne. In diesem Falle müsse ein Elternteil zum Kläger kommen und diesen beruhigen und vergewissern, dass er nicht alleine sei. Dieser Mehraufwand würde entfallen, wenn der Kläger sehen könne. Darüber hinaus könne sich der Kläger aufgrund seiner Blindheit so gut wie überhaupt nicht selbst beschäftigen. Es bestehe ein Mehraufwand darin, dass der Kläger zeitintensiv beschäftigt werden müsse. Der Vater des Klägers sei der Auffassung, dass der Kläger handarbeitlich tätig sein könne und sogar laufen lernen könnte, wenn er in der Lage wäre, zu sehen.
44
Mit Schriftsatz vom 12.04.2019 hat der Beklagte betont, den Vortrag der Klägerseite bezüglich der speziellen blindheitsbedingten Mehraufwendungen nicht nachvollziehen zu können. Der Kläger sei entsprechend der Feststellungen im Gutachten von Prof. Dr. B. schwerst mehrfachbehindert, in jeder Hinsicht hilflos. Er könne sich nicht vom Rücken auf die Seite oder auf den Bauch drehen, könne nicht sitzen, nicht stehen und auch nicht laufen. Er müsse komplett gefüttert werden. Auch die Körperpflege müsse komplett übernommen werden. Es werde weiterhin der Einwand der Zweckverfehlung erhoben. Auch wenn der Kläger sehen würde, müsse er trotzdem gefüttert werden, da allein schon die bestehende schwerste Behinderung und die völlige Immobilität dies erfordern würden. Dasselbe gelte für das nunmehr vorgebrachte Argument, dass sich der Kläger wegen fehlenden Sehenvermögens nicht selbst beschäftigen könne. Es sei doch, so der Beklagte, vielmehr so, dass die völlige Immobilität allein schon diesen Zustand bedinge.
45
Der Beklagte beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Augsburg vom 26.10.2012 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
46
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
47
Der Senat hat die Akten des Beklagten und des SG beigezogen. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt dieser Akten und der Berufungsakte, die allesamt Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

48
Die Berufung ist zulässig (Art. 7 Abs. 3 BayBlindG i.V.m. §§ 143, 151 SGG) und auch begründet.
49
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Kläger blind oder hochgradig sehbehindert im Sinne des BayBlindG ist und ihm deshalb ab dem Monat der Antragstellung Blindengeld zusteht.
50
Dies hat das SG zu Unrecht bejaht. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Blindengeld nach dem BayBlindG. Der Bescheid vom 20.10.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21.11.2011 ist im Ergebnis nicht zu beanstanden und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten.
51
Gemäß Art. 1 Abs. 1 BayBlindG erhalten blinde und hochgradig sehbehinderte Menschen, soweit sie ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Freistaat Bayern haben oder soweit die Verordnung (EG) Nr. 883/2004 dies vorsieht, zum Ausgleich der durch diese Behinderungen bedingten Mehraufwendungen auf Antrag ein monatliches Blindengeld.
52
Blind ist, wem das Augenlicht vollständig fehlt (Art. 1 Abs. 2 Satz 1 BayBlindG). Als blind gelten gemäß Art. 1 Abs. 2 Satz 2 BayBlindG auch Personen,
1. deren Sehschärfe auf dem besseren Auge nicht mehr als 0,02 (1/50) beträgt,
2. bei denen durch Nr. 1 nicht erfasste Störungen des Sehvermögens von einem solchen Schweregrad bestehen, dass sie der Beeinträchtigung der Sehschärfe nach Nr. 1 gleichzuachten sind.
53
Hochgradig sehbehindert ist gemäß Art. 1 Abs. 3 BayBlindG, wer nicht blind in diesem Sinne (Art. 1 Abs. 2 BayBlindG) ist und
1. wessen Sehschärfe auf keinem Auge und auch beidäugig nicht mehr als 0,05 (1/20) beträgt oder
2. wer so schwere Störungen des Sehvermögens hat, dass sie einen Grad der Behinderung (GdB) von 100 nach dem Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX) bedingen.
54
Vorübergehende Sehstörungen sind nicht zu berücksichtigen. Als vorübergehend gilt ein Zeitraum bis zu sechs Monaten.
55
Eine der Herabsetzung der Sehschärfe auf 0,02 oder weniger gleichzusetzende Sehstörung im Sinn des Art. 1 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 BayBlindG liegt, den Richtlinien der DOG folgend, bei folgenden Fallgruppen vor (siehe VG, Teil A Nr. 6):
aa) bei einer Einengung des Gesichtsfeldes, wenn bei einer Sehschärfe von 0,033 (1/30) oder weniger die Grenze des Restgesichtsfelds in keiner Richtung mehr als 30° vom Zentrum entfernt ist, wobei Gesichtsfeldreste jenseits von 50° unberücksichtigt bleiben,
bb) bei einer Einengung des Gesichtsfeldes, wenn bei einer Sehschärfe von 0,05 (1/20) oder weniger die Grenze des Restgesichtsfeldes in keiner Richtung mehr als 15° vom Zentrum entfernt ist, wobei Gesichtsfeldreste jenseits von 50° unberücksichtigt bleiben,
cc) bei einer Einengung des Gesichtsfeldes, wenn bei einer Sehschärfe von 0,1 (1/10) oder weniger die Grenze des Restgesichtsfelds in keiner Richtung mehr als 7,5° vom Zentrum entfernt ist, wobei Gesichtsfeldreste jenseits von 50° unberücksichtigt bleiben,
dd) bei einer Einengung des Gesichtsfelds, auch bei normaler Sehschärfe, wenn die Grenze der Gesichtsfeldinsel in keiner Richtung mehr als 5° vom Zentrum entfernt ist, wobei Gesichtsfeldreste jenseits von 50° unberücksichtigt bleiben,
ee) bei großen Skotomen im zentralen Gesichtsfeldbereich, wenn die Sehschärfe nicht mehr als 0,1 (1/10) beträgt und im 50°-Gesichtsfeld unterhalb des horizontalen Meridians mehr als die Hälfte ausgefallen ist,
ff) bei homonymen Hemianopsien, wenn die Sehschärfe nicht mehr als 0,1 (1/10) beträgt und das erhaltene Gesichtsfeld in der Horizontalen nicht mehr als 30° Durchmesser besitzt,
gg) bei bitemporalen oder binasalen Hemianopsien, wenn die Sehschärfe nicht mehr als 0,1 (1/10) beträgt und kein Binokularsehen besteht.
56
Wie der Senat wiederholt (vgl. z.B. die Urteile v. 12.11.2019 - L 15 BL 1/12 - und 26.11.2019 - L 15 BL 2/19) unterstrichen hat, sind nach den Grundsätzen im sozialgerichtlichen Verfahren die einen Anspruch begründenden Tatsachen grundsätzlich im Vollbeweis, d.h. mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, nachzuweisen (vgl. BSG, Urteil v. 15.12.1999 - B 9 VS 2/98 R). Für diesen Beweisgrad ist es zwar nicht notwendig, dass die erforderlichen Tatsachen mit absoluter Gewissheit feststehen. Ausreichend, aber auch erforderlich ist indessen ein so hoher Grad der Wahrscheinlichkeit, dass bei Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens kein vernünftiger, den Sachverhalt überschauender Mensch mehr am Vorliegen der Tatsachen zweifelt (vgl. BSG, Urteil v. 28.06.2000 - B 9 VG 3/99 R), d.h. dass die Wahrscheinlichkeit an Sicherheit grenzt (vgl. BSG, Urteil v. 05.05.1993 - 9/9a RV 1/92, Beschluss v. 29.01.2018 - B 9 V 39/17 B, Urteil v. 17.04.2013 - B 9 V 3/12 R). Auch dem Vollbeweis können gewisse Zweifel innewohnen; verbleibende Restzweifel sind bei der Überzeugungsbildung unschädlich, solange sie sich nicht zu gewichtigen Zweifeln verdichten (z.B. BSG, Urteil v. 17.04.2013 - B 9 V 3/12 R, m.w.N.).
57
Der Kläger hat keinen Anspruch auf Blindengeld.
58
Es spricht zwar viel dafür, dass er blind im Sinne des BayBlindG ist. Der Beklagte hat jedoch mit Erfolg den anspruchsvernichtenden Einwand der Zweckverfehlung des BayBlindG erhoben, da das konkrete Krankheitsbild des Klägers blindheitsbedingte Aufwendungen (in seiner Situation) von vornherein ausschließt.
59
1. Beim Kläger lag nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme eine Einschränkung aller Sinnesfunktionen aufgrund zerebraler Beeinträchtigung vor. Nach der Rechtsprechung des BSG (vgl. bereits die Entscheidungen v. 31.01.1995 - 1 RS 1/93 - und 26.10.2004 - B 7 SF 2/03 R; zuletzt Urteil v. 14.06.2018 - B 9 BL 1/17 R) stehen auch zerebrale Schäden, die - für sich allein oder im Zusammenwirken mit Beeinträchtigungen des Sehorgans - zu einer Beeinträchtigung des Sehvermögens führen, der Annahme von Blindheit nicht grundsätzlich entgegen.
60
Nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens ist die beim Kläger vorliegende Einschränkung aller Sinnesfunktionen auch hochgradig. Darauf, ob und inwieweit das visuelle System stärker betroffen ist als die anderen Sinnesmodalitäten, kommt es nicht (mehr) an. Soweit das BSG in seiner bisherigen Rechtsprechung für den Blindengeldanspruch verlangt hatte, dass bei zerebralen Schäden eine spezifische Störung des Sehvermögens vorliegt, hat es im Urteil v. 11.08.2015 (a.a.O.) hieran nicht mehr festgehalten (vgl. im Einzelnen auch die Ausführungen im Urteil des Senats vom 26.11.2019 - L 15 BL 2/19). Nach der Rechtsprechung des BSG (Urteile v. 11.08.2015 - a.a.O. - und 14.06.2018 - B 9 BL 1/17 R) ist für den Anspruch auf Blindengeld vielmehr allein entscheidend, ob es insgesamt an der Möglichkeit zur Sinneswahrnehmung „Sehen (optische Reizaufnahme und deren weitere Verarbeitung im Bewusstsein des Menschen) fehlt, ob der behinderte Mensch blind ist“ (BSG, a.a.O.). Der Senat fühlt sich an diese (neuere) Rechtsprechung des BSG gebunden (vgl. bereits das Urteil v. 19.12.2016 - L 15 BL 9/14; Urteile v. 12.11.2019 - L 15 BL 1/12 - und v. 26.11.2019 - L 15 BL 2/19).
61
Eine Blindheit des Klägers im Sinne des Art. 1 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 BayBlindG liegt nahe.
62
Durch die neuere Rechtsprechung des BSG (Urteile v. 11.08.2015 - B 9 BL 1/14 R - und 14.06.2018 - B 9 BL 1/17 R) hat sich an der Erforderlichkeit der Prüfung, ob die visuellen Fähigkeiten des Betroffenen (nun: optische Reizaufnahme und Verarbeitung etc.) unterhalb der vom BayBlindG vorgegebenen Blindheitsschwelle liegen, nichts geändert (vgl. bereits die frühere Rechtsprechung des erkennenden Senats, nach der es schon bisher in den Fällen umfangreicher zerebraler Schäden auf das Erfordernis einer spezifischen Störung des Sehvermögens nicht mehr ankam, wenn bereits Zweifel am Vorliegen von Blindheit bestanden, z.B. Urteil v. 27.11.2013 - L 15 BL 4/11; so auch die Lit., vgl. Braun, Neue Regeln für den Blindheitsnachweis bei zerebralen Funktionsstörungen, in: MedSach 2016, 134 <135>: keine allgemeine „Entwarnung“). Der Blindheitsnachweis muss somit auch weiterhin erbracht werden.
63
Vorliegend spricht Einiges für die Blindheit des Klägers. Zwar ist die exakte Sehleistung aufgrund seiner schweren Behinderung nicht zu eruieren. Nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens steht jedoch im Raum, dass beim Kläger eine Verarbeitungsstörung vorliegt, so dass er die Signale der (auch) visuellen Sinnesmodalität nicht identifizieren, mit früheren Erinnerungen nicht vergleichen und nicht benennen kann.
64
Aus Sicht des Senats ist aber fraglich, ob aufgrund der vorliegenden Befunde der Vollbeweis (s.o.) der Blindheit des Klägers erbracht ist. Trotz der allgemeinen Wahrnehmungsstörung des Klägers dürfte nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit festgestellt sein, dass die visuelle Wahrnehmung jedoch in blindheitsrelevantem Ausmaß aufgehoben wäre. Insbesondere sind nicht die - auch für die Blindengeldverfahren maßgeblichen - Vorgaben in den VG, Teil B Vorbemerkung Nr. 4, eingehalten, dass nämlich der morphologische Befund die Sehstörung hinreichend erklärt. Wenn der Sachverständige Prof. Dr. B. in seinem neuropädiatrischen Sachverständigengutachten eine faktische Blindheit des Klägers annimmt, muss dazu festgestellt werden, dass er diese gerade nicht damit begründet, dass beim Kläger eine schwere (neurologische) Erkrankung etc. vorliege, die eine Verarbeitung der visuellen Reize im Bewusstsein des Klägers ausschließen würde; dies ist dadurch erklärbar, dass entsprechende neuroradiologische Befunddokumentationen eben nicht gegeben sind. Prof. Dr. B. hat seine Blindheits-Feststellung ausschließlich aus der Beobachtung des visuellen Verhaltens hergeleitet bzw. auf einige, letztlich eher weniger nicht aussagekräftige Tests gestützt (s. Seite 12 des Gutachtens).
65
2. Jedenfalls besteht ein Anspruch des Klägers auf Blindengeld nach dem BayBlindG deshalb nicht, weil der Beklagte erfolgreich zutreffend den Einwand der Zweckverfehlung erhoben hat.
66
Wie das BSG in dem genannten Urteil vom 14.06.2018 dargelegt hat, stellt die in Art. 1 Abs. 1 BayBlindG enthaltene Formulierung des Gesetzgebers hinsichtlich des Ausgleichs blindheitsbedingter Mehraufwendungen keine eigenständige Anspruchsvoraussetzung dar, sondern umschreibt lediglich die allgemeine Zielsetzung der gesetzlichen Regelung. Dennoch bleibe, so das BSG (a.a.O.), der Ausgleich blindheitsbedingter Mehraufwendungen ausdrücklich das erklärte Ziel der Regelung, was sich auch an anderer Stelle aus dem Gesetz erschließe. So sehe das BayBlindG Regelungen zur Vermeidung einer Überversorgung des blinden Menschen vor (Art. 4 Abs. 3 BayBlindG). Der Zweck des Blindengelds werde aber, so das BSG in der genannten Entscheidung, auch dann verfehlt, wenn ein blindheitsbedingter Aufwand aufgrund der Eigenart des Krankheitsbilds des Betroffenen gar nicht erst ent- bzw. bestehen könne. Das BSG hat in der Entscheidung vom 14.06.2018 im Einzelnen Folgendes festgestellt:
„Hieran anknüpfend führt der Senat seine Rechtsprechung fort und räumt der Versorgungsverwaltung den anspruchsvernichtenden Einwand der Zweckverfehlung ein, wenn bestimmte Krankheitsbilder blindheitsbedingte Aufwendungen von vornherein ausschließen, weil der Mangel an Sehvermögen krankheitsbedingt durch keinerlei Maßnahmen (auch nicht anteilig) ausgeglichen werden kann. Dies wird am ehesten auf generalisierte Leiden zutreffen können (zB dauernde Bewusstlosigkeit oder Koma).
Das Gesetz geht in Art. 1 Abs. 1 BayBlindG ausdrücklich vom Vorliegen der Blindheit und von bestehenden Mehraufwendungen aus. Es setzt typisierend voraus, dass überhaupt ein „Mehraufwand“ aufgrund der Blindheit bestehen kann. Mit dem Blindengeld soll weniger ein wirtschaftlicher Bedarf gesteuert werden. Das BVerwG hat hierzu zur früheren Blindenhilfe nach § 67 Abs. 1 BSHG bereits ausgeführt, dass Aufwendungen, die einem Blinden durch Kontaktpflege und Teilnahme am kulturellen Leben entstehen, nur einen Teil dessen ausmachen, was ein Blinder bedingt durch sein Leiden im Verhältnis zu einem Sehenden vermehrt aufwenden muss (so BVerwG Urteil vom 4.11.1976 - V C 7.76 - BVerwGE 51, 281, 287). Das Blindengeld dient in erster Linie als Mittel zur Befriedigung laufender blindheitsspezifischer, auch immaterieller Bedürfnisse des Blinden, um diesem die Möglichkeit zu eröffnen, sich trotz Blindheit mit seiner Umgebung vertraut zu machen, mit eigenen Mitteln Kontakt zur Umwelt zu pflegen und am kulturellen Leben teilzunehmen […]. Eine Eingliederung blinder Menschen in die Gesellschaft kann nur erreicht werden, wenn ein Ausgleich für die dauernden blindheitsbedingten Mehraufwendungen und Nachteile erfolgt (vgl Demmel, Die Entwicklung und Bedeutung der öffentlich-rechtlichen Blindengeldleistung als Sozialleistung, 2003, S. 35), weil diese in der zunehmend visualisierten Umwelt besonderen Beeinträchtigungen unterliegen (vgl Braun, MedSach 3/2016, 134, 135 mwN). So geht der Bayerische Landesgesetzgeber nach wie vor davon aus, dass ua blinde Menschen einen außergewöhnlich großen Bedarf an Assistenzleistungen zur Kommunikation und an Unterstützungsleistungen zur Bewältigung des Alltags haben und dass finanzielle Ausgleichsleistungen die selbstbestimmte Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft wesentlich fördern (vgl Bayerisches LSG, aaO; BayLT-Drucks 17/17055 S. 1 zu A und 17/21510 S. 1 zu A).
Orientiert am vorgenannten Regelungszweck des Gesetzes ist es sachgerecht, im Fall eines objektiv nicht möglichen blindheitsbedingten Mehraufwands den Anwendungsbereich für die Blindengeldleistung einzuschränken. Steht fest, dass aufgrund eines bestimmten Krankheitsbildes typischerweise von vornherein kein Mehraufwand im oben genannten Sinne speziell durch die Blindheit entstehen kann, weil etwa ein derart multimorbides oder die Blindheit überlagerndes Krankheitsbild besteht (zB dauerhafte Bewusstlosigkeit), dass aus der Blindheit keinerlei eigenständige Aufwendung in materieller oder immaterieller Hinsicht folgt, kann die gesetzliche Zielsetzung der Blindengeldgewährung nicht erreicht werden. Denn deren Zweck wird verfehlt, wenn ein blindheitsbedingter Aufwand aufgrund der Eigenart des Krankheitsbildes gar nicht erst ent- bzw bestehen kann.“
67
Vorliegend hat der Beklagte den anspruchsvernichtenden Einwand der Zweckverfehlung wirksam erhoben. Der Mangel an Sehvermögen des Klägers kann krankheitsbedingt durch keinerlei Maßnahmen ausgeglichen werden.
68
Dies folgt aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens, insbesondere der Auswertung aller vorliegenden einschlägigen medizinischen und pflegerischen Unterlagen. Der Senat beruft sich hier vor allem auf die o.g. sachverständigen Feststellungen des vom SG beauftragten Gutachters Prof. Dr. B. und macht sich diese nach eigener Prüfung zu eigen.
69
Wie der Sachverständige in seinem o.g. Gutachten plausibel dargelegt hat, leidet der Kläger an folgenden Gesundheitsstörungen:
- schwerste Mehrfachbehinderung mit spastischer Tetraparese mit jeweils schlechtestem Funktionsniveau nach den entsprechenden Klassifikationssystemen, mit schwerster Intelligenzminderung, mit Mikrozephalie, mit therapieresistenter symptomatischer Epilepsie mit überwiegend generalisierten tonisch-klonischen-Anfällen, mit Hüftluxation links sowie mit einer zerebralen Sehstörung
- Zustand nach Adduktorentenotomie und subkutaner Tenotomie der medialen Kniebeuger (1998),
- Zustand nach nephrotischem Syndrom (1998).
70
Wie Prof. Dr. B. plausibel dargelegt hat, ist beim Kläger eine schwere Tetraspastik mit spontaner Beugung in Ellenbogen- und Handsowie Fingergelenken und mit Streckung in Hüft-, Knie- und Sprunggelenken feststellbar. Eine aktive Handmotorik, ein Greifen und ein Festhalten von Objekten sind nicht möglich. Ebenso gelingen dem Kläger keine aktive Rotation von der Rückenin die Seitenlage, kein freies Sitzen und nur eine mäßige Kopfkontrolle im Rollstuhl, bei gehaltenem Sitzen ohne Abstützung des Kopfes nur begrenzt. Freies Stehen, Laufen und Lokomotion sind ihm ebenfalls nicht möglich. Entsprechend den nachvollziehbaren Feststellungen von Prof. Dr. B. kann eine reproduzierbare Kontaktaufnahme bzw. Kommunikation mit dem Kläger nur in sehr eingeschränkter Weise erfolgen, nämlich durch verbale Ansprache, Geräusche oder Musik, die den Kläger erfreuen, einfache Zusammenhänge erfassen lassen (z.B. Essen oder Baden) und zu erkennbarem Lächeln, gelegentlich auch zu undifferenzierten, positive Stimmung ausdrückenden Lautäußerungen und vermehrten ungezielten Bewegungen Anlass geben. Mit dem Sachverständigen geht der Senat davon aus, dass das einzige Kommunikationsmittel des Klägers die Mimik und daneben das zum Teil damit verbundene Bewegungsverhalten darstellt. Diese Feststellungen werden im Übrigen auch gestützt von dem kurzen Eindruck, den der Senat vom Kläger in der mündlichen Verhandlung gewinnen konnte, ohne dass es freilich hierauf entscheidend ankäme.
71
1. Maßgeblich sind die tatsächlichen beim Kläger bestehenden Verhältnisse (vgl. bereits die Urteile des Senats v. 12.11.2019 - L 15 BL 1/12 - und 26.11.2019 - L 15 BL 2/19). Ein Verweis auf die jeweilige Diagnose wäre nicht ausreichend, um dem Einzelfall gerecht zu werden (vgl. näher a.a.O. mit Verweis auf das Urteil des erkennenden Senats bereits v. 17.07.2012 - L 15 BL 11/08).
72
2. Mit dem BSG geht der Senat davon aus, dass der Begriff der blindheitsbedingten Mehraufwendungen weit auszulegen ist (vgl. bereits die Urteile des Senats v. 12.11.2019 und 26.11.2019, jeweils a.a.O.). Dies ergibt sich bereits unmittelbar aus den Darlegungen des BSG sowie aus den vom BSG ebenfalls genannten Motiven des Landesgesetzgebers (so auch Braun, Die neuen Kriterien für den Blindheitsnachweis bei zerebralen Funktionsstörungen, in: MedSach 3/2019, 94 <97>). Inwieweit es genügt, wenn nur ganz geringfügiger Mehraufwand im Raum steht, muss vorliegend nicht entschieden werden, da vorliegend keinerlei Mehraufwand ermittelt werden konnte.
73
3. Wie vom Senat ebenfalls bereits entscheiden worden ist (vgl. die o.g. Urteile v. 12.11.2019 und 26.11.2019, jeweils a.a.O.), stellen entgegen einer in der Literatur geäußerten Auffassung (vgl. Dau, in: jurisPR-SozR 9/2019 Anm. 4) Aufwendungen für die allgemeine pflegerische Betreuung, wie sie hier ausschließlich bestehen, keine blindheitsbedingten Mehraufwendungen dar (vgl. im Einzelnen a.a.O.).
74
4. Für den gerichtlich überprüfbaren Einwand der Zweckverfehlung trägt nach der Entscheidung des BSG vom 14.06.2018 (a.a.O.) die Behörde die Darlegungs- und die Beweislast. Dabei ist sie verpflichtet, soweit möglich den - wie oben dargelegt individuellen - Sachverhalt zu ermitteln, steht jedoch vor der Schwierigkeit, dass sie die Darlegungs- und Beweispflicht hinsichtlich einer negativen Tatsache trifft, eben hinsichtlich des Nichtvorhandenseins blindheitsbedingter Mehraufwendungen. Es bedarf keiner weiteren Ausführungen dazu, dass zur Ermittlung daher neben den medizinischen/pflegerischen Unterlagen vor allem die Angaben der Personen heranzuziehen sind, die die Verhältnisse hinsichtlich des betroffenen blinden Menschen aufgrund der Sach- und Ortsnähe zutreffend beurteilen können. Die Antragsteller trifft dabei eine Mitwirkungsobliegenheit.
75
Maßgeblich bei der Beurteilung der Frage, ob im konkreten Fall blindheitsbedingte Mehraufwendungen möglich sind, ist die objektive Situation des betroffenen blinden Menschen. Ob blindheitsbedingte Mehraufwendungen von dem Betroffenen tatsächlich getragen werden, ist dabei nur ein Indiz; so kann unnötiger Aufwand o.ä. keine Berücksichtigung finden.
76
Entscheidend nach der Rechtsprechung des BSG ist, dass der Mangel an Sehvermögen durch spezielle Maßnahmen ausgeglichen werden kann. In der konkreten Situation des Betroffenen objektiv nicht möglicher blindheitsbedingter Mehraufwand muss außer Betracht bleiben.
77
5. Nach der im Verfahren durchgeführten Prüfung der dem Kläger verbleibenden Möglichkeiten durch den Senat ergibt sich, dass wegen den plausiblen medizinischen Unterlagen und den vorliegenden Angaben davon ausgegangen werden muss, dass es das schwere Krankheitsbild des Klägers ausschließt, den Mangel an Sehvermögen durch spezielle Maßnahmen (auch nur teilweise) auszugleichen, worauf im Ergebnis das SG bereits zutreffend hingewiesen hat.
78
Wie sich aufgrund der vorliegenden medizinischen Befunde ohne jeden Zweifel ergibt, leidet der Kläger an einer schwersten Behinderung. Er ist in jeder Hinsicht schwerstpflegebedürftig und in allen Verrichtungen des täglichen Lebens vollständig von fremder Hilfe abhängig. Die Annahme des Vaters des Klägers, dass Letzterer bei einem vorhandenen Sehvermögen in der Lage sein könne, alleine zu essen und sogar handarbeitlich tätig zu sein, ist für den Senat nicht nachvollziehbar und auch nicht ansatzweise belegt. Im Übrigen wird auf die nach dem Ergebnis des Verfahrens zur Überzeugung des Senats nachgewiesenen und zwischen den Beteiligten grundsätzlich auch nicht streitigen schwersten Einschränkungen, die oben bereits im Einzelnen dargestellt worden sind, verwiesen.
79
Wie der Senat bereits im Urteil vom 26.11.2019 (a.a.O.) dargelegt hat, kommt es nicht entscheidend darauf an, ob beim Kläger ein Restkommunikationsvermögen vorhanden ist. Dieses ist, wie sich aus der Beweisaufnahme ergibt, auf niedrigem Niveau durchaus noch vorhanden, nämlich durch akustische Reize (z.B. verbale Ansprache) seines Umfelds und Mimik des Klägers. Es ändert jedoch nichts daran - wie sich aus den Darlegungen des BSG im o.g. Urteil vom 14.06.2018 (a.a.O.) ohne Weiteres ergibt -, dass das Krankheitsbild des Klägers von vornherein blindheitsbedingte Aufwendungen nicht entstehen lässt, da der Mangel an Sehvermögen krankheitsbedingt durch keinerlei Maßnahmen ausgeglichen werden kann. Denn ein solcher Ausschluss ist, wie das BSG ausdrücklich formuliert hat und wie sich aus medizinischer, pflegerischer und realistischer Sichtweise ergibt, keineswegs ausschließlich bei dauernder Bewusstlosigkeit oder Koma möglich.
80
Entsprechend der zutreffenden Annahme der Klägerseite besteht keine Nachweispflicht des Betroffenen, welche blindheitsbedingten Mehraufwendungen im Einzelnen entstanden sind. Dies folgt aus Sicht des Senats aufgrund der vom BSG vorgenommenen Beweislastverteilung, an die er sich gebunden fühlt.
81
Vorliegend ist jedoch zur Überzeugung des Senats, die dieser aufgrund der plausiblen und fundierten medizinischen Befunde gewonnen hat, ausgeschlossen, dass ein blindheitsbedingter Mehraufwand beim Kläger im Hinblick auf sein schweres Behinderungsbild besteht, da der Kläger keine Mehraufwendungen haben kann, „die aufgrund der Unfähigkeit, selbst etwas in gleicher Weise zu tun, wie bei vorhandenem Sehvermögen, entstehen, so dass entweder die Tätigkeiten von Anderen ausgeführt werden müssen oder die Unterstützung durch Andere notwendig ist bzw. spezielle Hilfsmittel eingesetzt werden müssen“ (vgl. Braun, a.a.O., S. 97, mit Verweis auf Demmel, Die Entwicklung und Bedeutung der öffentlich-rechtlichen Blindengeldleistung als Sozialleistung, 2003, S. 239). Insbesondere die vom Beklagten im Rahmen der Berufungsbegründung aufgeführten einzelnen Aufwendungen kommen nicht in Betracht, darüber hinaus jedoch auch keine weiteren Maßnahmen des Ausgleichs mangelnden bzw. aufgehobenen Sehvermögens (vgl. Demmel, a.a.O.). Dass auch die Klägerseite letztlich keine blindheitsbedingten Mehraufwendungen benennen kann, ist logische Konsequenz der schwersten Behinderung des Klägers und unterstreicht die Auffassung des Senats.
82
Im Hinblick auf den Vortrag der Klägerseite zu solchen Mehraufwendungen gilt Folgendes:
83
Der Senat kann nicht nachvollziehen, dass beim Kläger wegen aufgehobenen Sehvermögens erhöhter Aufwand bei der Hilfe beim Essen bestehen soll. Bereits aufgrund der ausdrücklichen Feststellungen im Gutachten von Prof. Dr. B., dass beim Kläger keine aktive Handmotorik, kein Greifen und kein Festhalten von Objekten etc. möglich sind (s.o.), wird klar, dass spezieller Mehraufwand wegen Blindheit nicht gegeben ist.
84
Zudem hat die Klägerseite geltend gemacht, dass Mehraufwand wegen der zeitintensiven Beschäftigung des Klägers bestehe. Auch hier gilt jedoch, dass beim Kläger bereits wegen der schwersten Intelligenzminderung, wegen seiner völligen Immobilität und des Fehlens aktiver Handmotorik, des Greifens und des Festhaltens von Objekten etc. kein blindheitsbedingter Mehraufwand besteht. Die zeitintensive Beschäftigung ist, was sich als offensichtlich darstellt, vielmehr der allgemeinen Problematik der schwersten Beeinträchtigung des Klägers, nicht jedoch einer Blindheit geschuldet. Zusätzliche abschätzbare, auch nur ansatzweise quantifizierbare Erschwernisse bei der Beschäftigung des Klägers kommen nicht hinzu und konnten von Klägerseite auch nicht benannt werden. Dass der Kläger mit Blick auf sein Sehvermögen nicht in der Lage sein dürfte, „zum Zeitvertreib“ Bilder, Filme o.ä. anzusehen, um dabei „unterhalten“ zu werden, ist dabei nicht von Relevanz, da dies wegen der schweren geistigen Behinderung des Klägers bzw. der nicht möglichen Inhaltserfassung etc. keine Rolle spielt.
85
Schließlich kann auch die geschilderte Notwendigkeit, sehr häufig zum Kläger zu kommen, um die Anwesenheit der Eltern zu bestätigen, keinen Mehraufwand im oben genannten Sinn begründen. Zwar werden vom „blindheitsbedingten Mehraufwand“ im Sinne des BayBlindG grundsätzlich auch immaterielle Bedürfnisse des blinden Menschen berücksichtigt, jedoch muss es sich im Hinblick auf den wirtschaftlichen Charakter des Blindengelds um materiellen Aufwand handeln. Der Senat hat bereits entschieden (Urteile v. 26.11.2019 - L 15 BL 2/19 - und bereits v. 27.11.2013 - L 15 BL 4/12), dass Maßnahmen nur des psychischen Beistands o.ä. keinen blindheitsbedingten Aufwand darstellen, da insoweit keine Betreuungsleistungen (im weiteren Sinn) betroffen sind. Schließlich gleicht die Herstellung von Nähe auch keine blindheitsspezifischen Nachteile aus (vgl. die therapeutisch empfohlene Ansprache etc. bewusstloser Menschen; siehe das Urteil des Senats v. 26.11.2019).
86
Weitere Ermittlungen sind nicht erforderlich. Vor allem aufgrund der ausführlichen Darlegungen im Gutachten von Prof. Dr. B., der die tatsächliche Situation des mehrfach schwerstbehinderten Klägers fundiert geschildert hat, stehen weitere Ermittlungen nicht im Raum. Sie sind denn auch nicht beantragt worden; entsprechende Hinweise oder Anträge sind auch von der Klägerseite in keiner Weise erfolgt.
87
Die Berufung des Beklagten hat somit Erfolg. Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Zahlung von Blindengeld durch den Beklagten. Der Gerichtsbescheid des SG ist aufzuheben und die Klage gegen den Bescheid vom 20.10.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21.11.2011 abzuweisen.
88
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
89
Ein Grund für die Zulassung der Revision liegt nicht vor (§ 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG).