Inhalt

BayObLG, Beschluss v. 19.12.2019 – 1 AR 139/19
Titel:

Willkürliche Verweisung durch das Insolvenzgericht

Normenketten:
InsO § 2 Abs. 1, § 3 Abs. 1 S. 1, S. 2, § 4, § 5 Abs. 1 S. 1, § 10 Abs. 1, Abs. 2
ZPO § 36 Abs. 1 Nr. 6, Abs. 2, § 281 Abs. 1, 2 S. 2, S. 4
EGZPO § 9
EuInsVO Art. 3 Abs. 1 S. 1, S. 2, Art. 4 S. 1
Leitsätze:
Verweist das Insolvenzgericht, in dessen Bezirk die vom Eröffnungsantrag betroffene Gesellschaft mit beschränkter Haftung ihren statutarischen, im Handelsregister auch eingetragenen Sitz hat, das Verfahren an das Gericht, in dessen Bezirk die im Handelsregister gleichfalls eingetragene Geschäftsadresse liegt, ohne die ihm obliegenden und sich aufdrängenden Ermittlungen zum Mittelpunkt einer Geschäftstätigkeit an der neuen Geschäftsadresse vorgenommen zu haben, so bindet die Verweisung wegen objektiver Willkür auch dann nicht, wenn das verweisende Gericht seine Entscheidung auf die grob fehlerhafte Rechtsauffassung gestützt hat, mit der Geschäftsadresse habe sich auch der allgemeine Gerichtsstand der Schuldnerin geändert.
1. Die Verlegung der Geschäftsadresse weniger als zwei Wochen vor Insolvenzbeantragung ins Ausland steht der Annahme einer internationale Zuständigkeit deutscher Gerichte nicht entgegen. (Rn. 19) (redaktioneller Leitsatz)
2. Maßgeblicher Zeitung für das Vorliegen der Anknüpfungsmerkmale zur Bestimmung der örtlichen Zuständigkeit ist der Eingang des Insolvenzantrags bei Gericht (Anschluss BGH BeckRS 2007, 06173). (Rn. 20) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Insolvenzgericht, internationale Zuständigkeit, Polen, örtliche Zuständigkeit, Änderung der Geschäftsadresse, allgemeiner Gerichtsstand, Verweisungsbeschluss, Geschäftstätigkeit, Zuständigkeitsbestimmung, Willkür
Fundstellen:
ZInsO 2020, 145
EWiR 2020, 371
ZIP 2020, 624
LSK 2019, 32702
NZI 2020, 242
BeckRS 2019, 32702

Tenor

Örtlich zuständiges Gericht ist das Amtsgericht München (Abteilung für Insolvenzsachen).

Gründe

I.
1
Mit Gläubigerantrag, eingegangen beim Amtsgericht München - Insolvenzgericht - am 24. Juni 2019, ersuchte der Antragsteller um Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der Schuldnerin, einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung. Die wegen rückständiger Steuern und steuerlicher Nebenleistungen in Höhe von 66.639,31 € betriebene Zwangsvollstreckung sei - wie aus den beigefügten Ablichtungen der Vollstreckungsaufträge, Drittschuldnererklärungen, Niederschriften über Vollstreckungsversuche und Vermerken des Vollziehungsbeamten ersichtlich - erfolglos geblieben. Gemäß Drittschuldnererklärungen der Banken vom 15. Februar und 8. Mai 2019 würden die von der Pfändung betroffenen Konten kein Guthaben ausweisen; vielmehr bestünden hohe Gegenforderungen der Banken und eine vorrangige Pfändung. Bereits am 14. März 2019 sei die Schuldnerin an ihrer Geschäftsanschrift in München nicht mehr zu ermitteln gewesen. An der provisorisch eingerichteten neuen Geschäftsanschrift, ebenfalls in München, sei zwar am 15. April 2019 der vormalige Geschäftsführer der Schuldnerin angetroffen worden, der eine kurzfristige Begleichung sämtlicher Rückstände in Aussicht gestellt habe. Ein Ausgleich sei jedoch nicht erfolgt. Anlässlich eines weiteren Vollstreckungsversuchs am 14. Mai 2019 sei die Schuldnerin auch an dieser Adresse nicht mehr zu ermitteln gewesen. Der am 12. April 2019 bestellte neue Geschäftsführer der Schuldnerin sei postalisch an seiner Privatanschrift in der Republik Polen erreichbar, solle aber laut Auskunft des früheren Geschäftsführers auch in Berlin ansässig gewesen sein.
2
Die Schuldnerin ist mit Sitz in München im Handelsregister B des Amtsgerichts München eingetragen. Der Gegenstand des Unternehmens besteht in der Vermittlung und Erbringung von Sanierungsarbeiten, im Bauservice sowie im Import von Möbeln. Am 23. April 2019 wurden das Ausscheiden des (einzigen) früheren Geschäftsführers und die Bestellung des neuen Geschäftsführers mit Privatanschrift in der Republik Polen eingetragen. Am 13. Juni 2019 wurde als geänderte Geschäftsanschrift der Schuldnerin eine Adresse in Berlin eingetragen.
3
Mit Verfügung vom 24. Juni 2019 wies das Insolvenzgericht München den Antragsteller darauf hin, dass es aus seiner Sicht für die Durchführung des Verfahrens örtlich nicht zuständig sei. In erster Linie richte sich die Zuständigkeit nach dem allgemeinen Gerichtsstand der Schuldnerin. Befinde sich der Mittelpunkt der selbständigen wirtschaftlichen Tätigkeit an einem anderen Ort, so sei dieser maßgeblich. Der Antragsteller erhielt Gelegenheit zur Stellungnahme sowie zur Stellung eines Verweisungsantrags. Er machte keine ergänzenden Ausführungen, sondern beantragte lediglich Verweisung an das Amtsgericht Charlottenburg.
4
Mit Beschluss vom 3. Juli 2019 erklärte sich das Amtsgericht München - Insolvenzgericht - für örtlich unzuständig und verwies das Verfahren an das Amtsgericht Berlin-Charlottenburg mit der Begründung, dort befinde sich der allgemeine Gerichtsstand der Schuldnerin.
5
Das Amtsgericht Charlottenburg behielt sich die Übernahme bis zur Klärung der örtlichen Zuständigkeit vor. Der Schuldnerin konnte der Insolvenzantrag nicht zugestellt werden; laut Urkunde über den Zustellversuch am 22. Juli 2019 war die Schuldnerin unter der im Handelsregister eingetragenen Geschäftsadresse nicht zu ermitteln. Ein Nachweis über die Zustellung des Eröffnungsantrags an den Geschäftsführer der Gesellschaft unter dessen Privatanschrift in der Republik Polen kam nicht in Rücklauf.
6
Dem früheren Geschäftsführer wurden an seiner Meldeadresse in München am 7. und 19. September 2019 gerichtliche Aufforderungen zugestellt. Er erklärte, zur Unternehmensinsolvenz keine Auskünfte geben zu können. Gemäß in Berlin beurkundetem Vertrag vom 24. April 2019 habe er in eigenem und fremdem Namen die Gesellschaftsanteile an den sodann neu bestellten Gesellschaftergeschäftsführer verkauft und abgetreten. Diesem habe er alle Geschäftsunterlagen übergeben.
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Mit Beschluss vom 10. Oktober 2019 erklärte sich das Amtsgericht Charlottenburg für örtlich unzuständig. In seinem Bezirk befinde sich weder der wirtschaftliche Mittelpunkt der Geschäftstätigkeit der Gesellschaft noch der registerrechtliche Sitz. Eine Zuständigkeit sei auch nicht durch den Verweisungsbeschluss des Amtsgerichts München begründet worden. Dieser entfalte keine bindende Wirkung, weil er allein auf der Grundlage der im Handelsregister eingetragenen Geschäftsanschrift ohne Ermittlungen zu einer unter dieser Anschrift ausgeübten Geschäftstätigkeit ergangen und daher als willkürlich zu betrachten sei.
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Das Amtsgericht Charlottenburg hat die Sache zunächst dem Oberlandesgericht München und - nach aufhebender Entscheidung vom 24. Oktober 2019 - mit Beschluss vom 5. November 2019 dem Bayerischen Obersten Landesgericht zur Entscheidung über die Zuständigkeit vorgelegt.
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Der Antragsteller hat Gelegenheit zur Stellungnahme erhalten.
II.
10
Auf die zulässige Vorlage des Amtsgerichts Charlottenburg ist die örtliche Zuständigkeit des Amtsgerichts München - Abteilung für Insolvenzsachen - auszusprechen.
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1. Die Voraussetzungen für eine Zuständigkeitsbestimmung nach § 4 InsO i. V. m. § 36 Abs. 1 Nr. 6, Abs. 2 ZPO durch das Bayerische Oberste Landesgericht liegen vor.
12
a) Das Amtsgericht München hat sich nach Eingang des Gläubigerantrags in dem dadurch eingeleiteten Zulassungsverfahren (vgl. BayObLG, Beschluss vom 8. September 1998, 1Z AR 77/98, NJW 1999, 367 [juris Rn. 3]; Ganter/Bruns in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, vor §§ 2 bis 10 Rn. 16) mit dem gemäß § 4 InsO i. V. m. § 281 Abs. 2 Satz 2, § 495 ZPO unanfechtbaren Verweisungsbeschluss vom 3. Juli 2019 für unzuständig erklärt, das Amtsgericht Charlottenburg durch die dem Antragsteller mitgeteilte, zuständigkeitsverneinende Entscheidung vom 10. Oktober 2019. Die jeweils ausdrücklich ausgesprochene Leugnung der eigenen Zuständigkeit erfüllt das Tatbestandsmerkmal „rechtskräftig“ im Sinne des § 4 InsO i. V. m. § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschluss vom 15. August 2017, X ARZ 204/17, NJW-RR 2017, 1213 Rn. 12 m. w. N.; Schultzky in Zöller, ZPO, 33. Aufl. 2020, § 36 Rn. 34 f. m. w. N.). Der Anhörung der Antragsgegnerin bedarf es hierfür nicht zwingend (vgl. BGH, Beschluss vom 24. Juli 1996, X ARZ 778/96, NJW 1996, 3013 [juris Rn. 4]); sie war hier gemäß § 10 Abs. 1 mit Abs. 2 InsO entbehrlich (Wolfer in BeckOK, InsO, 16. Ed. Stand: 15. Oktober 2019, § 14 Rn. 21).
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Eines Gesuchs von Verfahrensbeteiligten bedarf es im Fall von § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO nicht (Pape in Uhlenbruck, InsO, 15. Aufl. 2019, § 3 Rn. 7; Schultzky in Zöller, ZPO, § 37 Rn. 2).
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b) Das Bayerische Oberste Landesgericht ist gemäß § 36 Abs. 2 ZPO i. V. m. § 9 EGZPO zur Entscheidung des Zuständigkeitsstreits berufen, weil die Bezirke der am negativen Kompetenzkonflikt beteiligten Gerichte zum Zuständigkeitsbereich unterschiedlicher Oberlandesgerichte (Oberlandesgericht München und Kammergericht) gehören und das mit der Rechtssache zuerst befasste Gericht in Bayern liegt.
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2. Das Amtsgericht München ist für das vorliegende Verfahren örtlich zuständig.
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a) Die internationale Zuständigkeit der deutschen Gerichte für das Insolvenzverfahren, die Voraussetzung für die Bestimmung des örtlich zuständigen Gerichts ist (vgl. allgemein: BGH, Beschluss vom 11. Juli 1990, XII ARZ 28/90, FamRZ 1990, 1224 [juris Rn. 5]; Beschluss vom 17. September 1980, IVb ARZ 557/80, NJW 1980, 2646 [juris Rn. 4]), ist vorliegend gegeben.
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Zwar ist wegen des Wohnsitzes des Geschäftsführers und Alleingesellschafters der Schuldnerin in der Republik Polen ein Auslandsbezug gegeben, der Veranlassung gibt, die internationale Zuständigkeit deutscher Gerichte zu prüfen, was gemäß Art. 4 Satz 1 der Verordnung (EU) Nr. 848/2015 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Mai 2015 über Insolvenzverfahren (EuInsVO) von Amts wegen zu erfolgen hat (vgl. auch Mankowski in Mankowski/Müller/J. Schmidt, EuInsVO 2015, 1. Aufl. 2016, Art. 4 EuInsVO 2017 Rn. 5 und Rn. 8 sowie Art. 3 EuInsVO 2017 Rn. 4). Die seitens des Antragstellers vorgetragenen und vom Amtsgericht Charlottenburg ermittelten Umstände rechtfertigen jedoch nicht den Schluss, dass der Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen der Schuldnerin, auf den gemäß Art. 3 Abs. 1 Satz 1 EuInsVO abzustellen ist, im maßgeblichen Zeitpunkt der Antragstellung (Mankowski in Mankowski/Müller/ J. Schmidt, a. a. O., Art. 3 EuInsVO 2017 Rn. 28) vom Gebiet der Bundesrepublik Deutschland in das Gebiet der Republik Polen verlegt gewesen sei.
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Der Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen liegt gemäß der Definition in Art. 3 Abs. 1 Satz 2 EuInsVO an dem Ort, an dem der Schuldner gewöhnlich der Verwaltung seiner Interessen nachgeht und der für Dritte feststellbar ist. Der unionsrechtsautonom auszulegende, weite Begriff der „Interessen“ wird umschrieben als die allgemeine wirtschaftliche Tätigkeit des Schuldners (Mankowski in Mankowski/Müller/J. Schmidt, a. a. O., Art. 3 EuInsVO 2017 Rn. 13 m. w. N.). Hierfür genügt allerdings eine - gemäß den Angaben des früheren Geschäftsführers hier ungeprüft unterstellte - Aufbewahrung von Unterlagen über die (frühere) Geschäftstätigkeit nicht. Denn mit der Lagerung von Unterlagen wird weder eine wirtschaftliche Aktivität noch zumindest eine Abwicklungstätigkeit mit Wirkung nach außen und somit für die Gläubiger wahrnehmbar ausgeübt. Die aus der Geschäftstätigkeit herrührenden Verbindlichkeiten der Schuldnerin bestehen zudem - soweit ersichtlich - ausschließlich aus der auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland ausgeübten Geschäftstätigkeit. Gerade im Interesse der Rechtssicherheit und Vorhersehbarkeit muss gemäß Art. 3 Abs. 1 Satz 2 EuInsVO der Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen für Dritte, insbesondere Gläubiger, objektiv feststellbar sein (vgl. Erwägungsgrund 28; BGH, Beschluss vom 2. März 2017, IX ZB 70/16, NJW-RR 2017, 552 Rn. 9; auch AG Hamburg, Beschluss vom 1. Dezember 2005, 67a IN 450/05, juris Rn. 8 ff. jeweils zu Art. 3 der Verordnung [EG] Nr. 1346/2000 des Rates vom 29. Mai 2000 über Insolvenzverfahren).
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Vorliegend ist somit jedenfalls gemäß der für juristische Personen geltenden und nicht widerlegten Vermutung des Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 2 Satz 1 EuInsVO der Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen der Schuldnerin am Ort ihres inländischen Sitzes anzunehmen. Da nur die Geschäftsadresse, nicht aber der Gesellschaftssitz ins Ausland verlegt worden ist, kommt es dabei auf die Sperrfrist des Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 2 Satz 2 EuInsVO nicht an, wonach die Vermutung des Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 2 Satz 1 EuInsVO nur gilt, wenn der Sitz der Gesellschaft nicht in einem Zeitraum von drei Monaten vor dem Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens in einen anderen Mitgliedstaat verlegt worden ist. Unter Berücksichtigung des mit dieser Regelung verfolgten Ziels, manipulativen Verlegungen des Mittelpunkts der hauptsächlichen Interessen kurz vor erwarteten Anträgen auf Insolvenzeröffnung entgegenzuwirken (vgl. Mankowski in Mankowski/Müller/Schmidt, a. a. O., Art. 3 EuInsVO 2017 Rn. 33; auch Erwägungsgründe 28 bis 31), ist die Verlegung (lediglich) der Geschäftsadresse weniger als zwei Wochen vor Insolvenzbeantragung als makelbehaftet anzusehen. Sie ist nicht geeignet, die Annahme einer zuständigkeitsrelevanten Verlegung des Mittelpunkts der hauptsächlichen Interessen zu tragen.
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b) Gemäß den somit maßgeblichen Regelungen der § 2 Abs. 1, § 3 Abs. 1 Sätze 1 und 2 InsO ist das Amtsgericht als Insolvenzgericht (sachlich und) örtlich ausschließlich zuständig, in dessen Bezirk der Mittelpunkt der selbständigen wirtschaftlichen Tätigkeit des jeweiligen Schuldners oder - nachrangig - sein allgemeiner Gerichtsstand (§ 4 InsO i. V. m. §§ 12, 13, 17 ZPO) liegt (Ganter/Bruns in Münchener Kommentar zur InsO, § 3 Rn. 13). Maßgeblicher Zeitpunkt für das Vorliegen der Anknüpfungsmerkmale zur Bestimmung der örtlichen Zuständigkeit ist der Eingang des Insolvenzantrags bei Gericht (BGH, Beschluss vom 22. März 2007, IX ZB 164/06, NJW-RR 2007, 1062 Rn. 5; Ganter/Bruns in Münchener Kommentar zur InsO, § 3 Rn. 5 f.).
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Danach ist hier das Amtsgericht München zuständig.
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Anhaltspunkte für eine Geschäftstätigkeit der Schuldnerin in München im Zeitpunkt der Antragstellung bestehen zwar nicht. Es fehlt aber auch an jeglichen belastbaren Erkenntnissen für die Annahme, dass im maßgeblichen Zeitpunkt der Mittelpunkt einer etwaigen wirtschaftlichen Tätigkeit der Schuldnerin in Berlin gelegen habe. Angesichts des kurzen Zeitabstands zwischen der Änderung der Geschäftsadresse und den erfolglosen Zustellversuchen an dieser - wie auch an der früheren - Adresse liegen vielmehr keinerlei Anhaltspunkte dafür vor, dass die Schuldnerin im Zeitpunkt der Antragstellung noch werbend tätig gewesen sei oder zumindest sogenannte „Abwicklungsmaßnahmen mit Außenwirkung“ entfaltet habe (vgl. Ganter/Bruns in Münchener Kommentar zur InsO, § 3 Rn. 7b; Pape in Uhlenbruck, InsO, § 3 Rn. 3; Prütting in Kübler/Prütting/Bork, InsO, 82. Lieferung Stand: Oktober 2019, § 3 Rn. 13). Die Eintragung einer geänderten Geschäftsadresse im Handelsregister mag zwar grundsätzlich indiziell auf eine Verlegung der Geschäftstätigkeit nach Berlin hinweisen (vgl. auch Servatius in Baumbach/Hueck, GmbHG, § 4a Rn. 5), die tatsächlichen Gegebenheiten (Unzustellbarkeit des Insolvenzantrags und der gerichtlichen Unterlagen an dieser Adresse) entkräften dieses Indiz jedoch.
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Danach richtet sich die örtliche Zuständigkeit nach dem allgemeinen Gerichtsstand der Schuldnerin. Dieser besteht beim Amtsgericht München, weil die Schuldnerin ihren satzungsmäßig festgelegten und zum Handelsregister angemeldeten Sitz (§ 3 Abs. 1 Nr. 1, § 4a, § 10 Abs. 1 Satz 1 GmbHG; § 17 Abs. 1 Satz 1 ZPO) in dessen Bezirk hat. Die Änderung der Geschäftsanschrift (vgl. § 8 Abs. 4 Nr. 1, § 10 Abs. 1 Satz 1 GmbHG) ohne Sitzverlegung hat auf den allgemeinen Gerichtsstand der GmbH keine Auswirkung. Ein Zusammenhang der Geschäftsadresse mit dem Satzungssitz ist auch aus Rechtsgründen nicht erforderlich (Servatius in Baumbach/Hueck, GmbHG, 22. Aufl. 2019, § 4a Rn. 5).
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c) Die örtliche Zuständigkeit des Amtsgerichts Charlottenburg ergibt sich auch nicht aus der Verweisung, weil der ergangene Beschluss ausnahmsweise nicht gemäß § 4 InsO i. V. m. § 281 Abs. 2 Satz 4, § 495 ZPO bindet.
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Allerdings sind im Interesse der Prozessökonomie und zur Vermeidung von Zuständigkeitsstreitigkeiten und dadurch bewirkten Verzögerungen und Verteuerungen des Verfahrens Verweisungsbeschlüsse gemäß § 281 Abs. 2 Satz 2 ZPO unanfechtbar und gemäß § 281 Abs. 2 Satz 4 ZPO für das Gericht, an welches verwiesen wird, grundsätzlich bindend. Demnach entziehen sich auch ein sachlich zu Unrecht ergangener Verweisungsbeschluss und die diesem Beschluss zugrunde liegende Entscheidung über die Zuständigkeit grundsätzlich jeder Nachprüfung (st. Rspr.; BGH, Beschluss vom 9. Juni 2015, X ARZ 115/15, NJW-RR 2015, 1016 Rn. 9; Beschluss vom 24. Januar 2006, X ARZ 446/05, juris Rn. 11 - zum Insolvenzverfahren; Beschluss vom 10. Dezember 1987, I ARZ 809/87, BGHZ 102, 338/340; Greger in Zöller, ZPO, § 281 Rn. 16).
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Nach ständiger Rechtsprechung kommt einem Verweisungsbeschluss jedoch dann keine Bindungswirkung zu, wenn er schlechterdings nicht als im Rahmen des § 281 ZPO ergangen angesehen werden kann, etwa weil er auf der Verletzung rechtlichen Gehörs beruht oder weil er jeder gesetzlichen Grundlage entbehrt und deshalb als willkürlich betrachtet werden muss (BGH, NJW-RR 2015, 1016 Rn. 11; Beschluss vom 9. Juli 2002, X ARZ 110/02, NJW-RR 2002, 1498). Letzteres ist hier der Fall.
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Die Verweisung eines Rechtsstreits gemäß § 4 InsO, § 281 Abs. 1 ZPO setzt die Unzuständigkeit des angerufenen Gerichts voraus (BGH, NJW-RR 2015, 1016 Rn. 12; Beschluss vom 13. Dezember 2005, X ARZ 223/05, NJW 2006, 847 Rn. 13; Ganter/Bruns in Münchener Kommentar zur InsO, § 3 Rn. 28). Dabei sind gemäß § 5 Abs. 1 Satz 1 InsO von Amts wegen alle Umstände zu ermitteln, die für das Insolvenzverfahren von Bedeutung sind; das gilt auch für die die Zuständigkeit begründenden Tatsachen. Das nach § 3 Abs. 1 Satz 1 InsO zuständige Insolvenzgericht hat die Umstände, welche die örtliche Zuständigkeit eines anderen Insolvenzgerichts begründen sollen, selbst zu würdigen und den Sachverhalt insoweit von Amts wegen aufzuklären. Erst wenn danach ein Gerichtsstand bei ihm nicht eröffnet ist, kann es seine örtliche Unzuständigkeit aussprechen (BGH, Beschluss vom 24. Januar 2006, X ARZ 446/05, juris Rn.12; NJW 2006, 847 Rn. 13).
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Schwerwiegende Zweifel daran, dass die Schuldnerin einer wirtschaftlichen Tätigkeit in Berlin nachgehe, ergaben sich vorliegend bereits aus den im Gläubigerantrag geschilderten Umständen. Bereits die dort gemachten Angaben haben den Verdacht einer sog. „Firmenbestattung“ nahegelegt. Den sich aufdrängenden Zweifeln daran, dass eine Geschäftstätigkeit nach Berlin an die geänderte Adresse verlegt worden sei, ist das Amtsgericht München in keiner Weise nachgegangen. Es hat vielmehr, ohne zwischen dem statutarischen, im Handelsregister auch eingetragenen Sitz einerseits sowie der ebenfalls im Handelsregister eingetragenen Geschäftsadresse andererseits zu differenzieren, angenommen, mit der Geschäftsadresse habe sich auch der allgemeine Gerichtsstand der Schuldnerin geändert, und hierauf ohne Vornahme der ihm obliegenden und sich aufdrängenden Ermittlungen zum Mittelpunkt einer Geschäftstätigkeit an der neuen Geschäftsadresse die Verweisung gestützt. Dies ist nicht nur von Rechtsirrtum beeinflusst, sondern begründet objektiv Willkür (BGH NJW 2006, 847 Rn. 13; BayObLG, Beschluss vom 25. Juli 2003, 1Z AR 72/03, NJW-RR 2004, 986 [juris Rn. 14]; OLG Celle, Beschluss vom 27. September 2011, 4 AR 51/11, ZIP 2012, 1263 [juris Rn. 3]; OLG Schleswig, Beschluss vom 11. Februar 2010, 2 W 11/10, NZI 2010, 260 [juris Rn. 18] sowie Beschluss vom 4. Februar 2004, 2 W 14/04, NZI 2004, 264 [juris Rn. 6]; OLG Stuttgart, Beschluss vom 8. Januar 2009, 8 AR 32/08, NJW-RR 2009, 482; Ganter/Bruns in Münchener Kommentar zur InsO, § 3 Rn. 28a; Pape in Uhlenbruck, InsO, § 3 Rn. 7).
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d) Ansatzpunkte für weitere erfolgversprechende Ermittlungen darüber, ob und gegebenenfalls wo die Schuldnerin eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübt, sind nicht ersichtlich. Die durch die Nachforschungen des Amtsgerichts Charlottenburg gewonnenen Erkenntnisse erhärten vielmehr die Hinweise auf das Vorliegen einer sog. „Firmenbestattung“. Aus diesem Grund ist der Senat nicht gehalten, die Sache zur Durchführung weiterer Ermittlungen betreffend den für die Zuständigkeit erheblichen Sachverhalt an das Ausgangsgericht zurückzugeben (vgl. OLG München, Beschluss vom 17. Februar 2017, 34 AR 10/17 - nicht veröffentlicht). Die vorliegenden Erkenntnisse reichen vielmehr aus, um die örtliche Zuständigkeit des Amtsgerichts München für das Verfahren auszusprechen. Einer Anhörung der Schuldnerin im Bestimmungsverfahren bedurfte es nicht, weil diese auch im Ausgangsverfahren gemäß § 10 Abs. 1 mit Abs. 2 InsO nicht anzuhören war (vgl. Wolfer in BeckOK, InsO, § 14 Rn. 21; Schultzky in Zöller, ZPO, § 37 Rn. 3; Toussaint in BeckOK, ZPO, 34. Ed. Stand: 1. September 2019, § 37 Rn. 8; Heinrich in Musielak/Voit, ZPO, 16. Aufl. 2019, § 37 Rn. 5 a. E.; Patzina in Münchener Kommentar zur ZPO, 5. Aufl. 2016, § 37 Rn. 5).