Inhalt

VG Augsburg, Urteil v. 13.11.2019 – Au 6 K 17.35453
Titel:

Unbegründeter Asylantrag eine türkischen Asylbewerbers kurdischer Volkszugehörigkeit wegen befürchteter "Blutrache"

Normenketten:
AsylG § 3, § 3e, § 4
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7
Leitsätze:
1. Kurdische Volkszugehörige unterliegen in der Türkei zwar einer gewissen Diskriminierung. Für die Annahme einer Gruppenverfolgung fehlt es jedenfalls an der erforderlichen kritischen Verfolgungsdichte (vgl. BVerwG BeckRS 2015, 43199). (Rn. 33) (red. LS Clemens Kurzidem)
2. Kurdische Volkszugehörige besitzen in der Westtürkei trotz der auch dort problematischen Sicherheitslage und der schwierigen wirtschaftlichen Bedingungen die Möglichkeit internen Schutzes (vgl. OVG Bautzen BeckRS 2016, 45428). Sie können innerhalb der Türkei den Wohnort wechseln und so insbesondere in Ballungsräumen in der Westtürkei eine in der Südosttürkei auf Grund der gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen türkischen Sicherheitskräften und der PKK etwa höhere Gefährdung verringern. (Rn. 33) (red. LS Clemens Kurzidem)
3. Türkische Strafverfolgungsbehörden verfolgen vermehrt Tötungsdelikte auf der Grundlage von Familienfehden (Ehrenmorde, Blutrache); der türkische Staat bietet daher insoweit im Rahmen seiner Möglichkeiten auch Schutz. Die Inanspruchnahme dieses Schutzes ist einem kurdischen Asylbewerber bei Bedrohungen durch die Familie seiner Ehefrau grundsätzlich zumutbar. (Rn. 41 – 45) (red. LS Clemens Kurzidem)
4. Auch gegenüber befürchteter Übergriffe aus dem familiären Umfeld bieten die Großstädte der Westtürkei einem kurdischen Asylbewerber die Möglichkeit internen Schutzes. Im Hinblick auf die allgemeine Versorgungslage sowie die wirtschaftliche Situation ist ihm dessen Inanspruchnahme zumutbar. (Rn. 46 – 48) (red. LS Clemens Kurzidem)
5. Einem kurdischen Asylbewerber kommt kein Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK zu, da er im Falle seiner Rückkehr in die Türkei nach den vorliegenden Erkenntnissen keiner unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Strafe ausgesetzt wäre. (Rn. 67 – 71) (red. LS Clemens Kurzidem)
Schlagworte:
Türkische Staatsangehörige kurdischer Volkszugehörigkeit, Ehepaar, Behauptete Bedrohungen durch Familie der Ehefrau in der Türkei wegen anderweitiger Verheiratungspläne, Familienfehde / „Blutrache“, türkischer Staatsangehöriger, kurdische Volkszugehörigkeit, Flüchtlingsschutz, Gruppenverfolgung, Türkei, türkische Strafverfolgungsbehörden, Schutzgewähr, Großstädte, PKK, interner Schutz, subsidiärer Schutz, Blutrache, Ehrenmorde, Familienfehde, nationale Abschiebungsverbote, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung
Fundstelle:
BeckRS 2019, 32369

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens zu tragen.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung durch den jeweiligen Vollstreckungsgläubiger durch Sicherheitsleistung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Vollstreckungsgläubiger zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

1
Der seinem vorgelegten Nüfus zu Folge am ... 1985 in ... in der Türkei geborene Kläger und seine ihrem vorgelegten Nüfus zu Folge am ... 1996 in ... in der Türkei geborene Ehefrau und Klägerin im wegen erneuter Verhandlungsunfähigkeit abgetrennten und unter dem neuen Aktenzeichen Au 6 K 19.31476 fortgeführten Parallelverfahren (VG Augsburg, B.v. 5.11.2019 - Au 6 K 17.35453) sind türkische Staatsangehörige kurdischer Volkszugehörigkeit muslimischer Religionszugehörigkeit und hielten sich vor ihrer Ausreise zuletzt tatsächlich im Bezirk ... in der Provinz ... in der Türkei auf, waren jedoch gemeldet im Bezirk ... in der Provinz ... (BAMF-Akte Bl. 121, 163). Sie reisten nach eigenen Angaben am 11. Juli 2017 aus der Türkei aus und u.a. am selben Tag nach Deutschland ein, wo sie Asyl beantragten.
2
In seiner auf Türkisch geführten Anhörung vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) am 25. Oktober 2017 gab der Kläger im Wesentlichen an (BAMF-Akte Bl. 120 ff.), sie seien auf dem Luftweg über den Flughafen ... eingereist (ebenda Bl. 121), hätten aber keine Unterlagen über den Flug mehr. Sein Vater und seine Stiefmutter lebten im Bezirk ... in der Provinz, weitere Verwandte in der Türkei seien vier Brüder und eine Schwester, fünf Halbschwestern und die Großfamilie (ebenda Bl. 122). Der Kläger habe 14 Jahre lang die Schule besucht und mit Abitur abgeschlossen, den Beruf Koch erlernt und in diesem Beruf auch gearbeitet; Wehrdienst habe er ab 2011 für 15 Monate geleistet (ebenda Bl. 122). Zu seinen Ausreisegründen gab er an, seine Ehefrau und er seien aus der Türkei geflohen; ihre Familie sei sehr traditionell und er kenne sie seit 2014. Im Mai 2016 habe er gemeinsam mit seiner Familie die Familie seiner Braut besucht, um um ihre Hand anzuhalten. Später habe ihm seine jetzige Ehefrau vom Telefonanschluss ihrer Cousine aus mitgeteilt, dass sie von ihrem Vater geschlagen wurde, dass er ihr das Handy weggenommen hätte und dass sie Ihren Cousin heiraten solle. Im Juni 2016 sei sie gegen ihren Willen mit ihrem Cousin verlobt worden; er habe sie um Geduld gebeten, aber sie habe begonnen, sich selbst Schaden zuzufügen, schnitt sich die Arme auf. Um der Polizei keine Handhabe zu geben, hätten sie die offiziellen Angelegenheiten erledigt; im Juli 2016 habe er seine Frau standesamtlich geheiratet und sie seien in seine eigene Wohnung in ... gezogen (ebenda Bl. 123). Im September 2016 seien sie gemeinsam zu seinem Bruder nach ... geflohen; dieser habe, damit die Familie seiner Frau sie nicht finden konnte, eine möblierte Wohnung für sie gemietet. Von seinem Vater habe der Kläger erfahren, dass die Familie seiner Frau ihre Familie bedrohe; sie habe verlangt, dass sie ihn töteten, die Familie seiner Frau würde im Gegenzug seine Frau töten. Die Tötungen sollten ausgeführt werden, damit es nicht zu einer Blutfehde komme (ebenda Bl. 123). Zu dieser Zeit sei der Vater seiner Frau zu seinem Onkel gegangen, habe ihn beschimpft und bedroht, die Tochter seines Onkels zu entführen und zu zwingen, ein Mitglied der Familie seiner Frau zu heiraten. Danach habe sein Cousin eine Personengruppe beauftragt, den Vater seiner Frau aufzusuchen und ihn zu misshandeln, wozu der Kläger die Kopie eines Schriftstückes vorlegte (ebenda Bl. 123). Danach sei der Vater seiner Frau von einer Gruppe Unbekannter an einer Bushaltestelle überfallen und geschlagen worden, habe eine Anzeige erstattet; die Verdächtigen hätten jedoch nicht ermittelt werden können (ebenda Bl. 123). Die Cousine seiner Frau unterstützte sie und berichtete, dass die Familie seiner Frau sie überall suchen würde und dass sie den 17-jährigen Bruder seiner Ehefrau,, beauftragt hätten, sie zu töten (ebenda Bl. 124). Der Vater des Klägers habe sich an die HDP in ... gewendet, die dann eine Gruppe von Parteimitgliedern nach ... zu den Ältesten der Familie seiner Ehefrau geschickt habe. Die Ältesten hätten die Vorschläge der Vermittler zurückgewiesen und gesagt, dass der Preis sehr hoch sein würde. Sie wollten keinen Frieden. Die Familie seiner Ehefrau habe die Adressen aller Mitglieder seiner Familie ermittelt; deshalb habe sein Vater verfügt, dass er die Wohnung in der Nähe seines Bruders verlassen solle, weil sonst dessen Familie gefährdet wäre (ebenda Bl. 124). Die Kläger seien im Januar 2017 nach ... gegangen, wo er aus dem Wehrdienst noch einen Freund hatte, bei dem sie sich für etwa 4 Monate versteckten und das Haus selten verlassen hätten. Um ihn nicht weiterhin zu belasten, seien sie wieder von dort weggegangen und im April 2017 nach ... zu einem Freund gezogen (ebenda Bl. 124). Da er von dort per Telefon erfahren habe, dass sein Bruder in ... mit einer Waffe bedroht worden war und sich die Situation immer weiter verschlechtern würde, habe ihm seine Familie geraten, nach Deutschland zu seinem Bruder zu gehen, damit sich das Ganze nicht zu einer Blutfehde entwickele; sie hätten daraufhin die Türkei verlassen (ebenda Bl. 124). Auf Fragen räumte er ein, nie in der gemeinsamen Wohnung in, wo sein Arbeitsplatz als Koch gewesen sei, mit seiner Frau gewohnt zu haben, sondern in einer Wohnung in, damit sie nicht gefunden würden (ebenda Bl. 124), in der ... Wohnung sei er ja offiziell gemeldet gewesen und die Familie seiner Frau wüsste von dieser Wohnung und wo er arbeitete; die Eltern seiner Frau lebten ebenfalls in ... (ebenda 124). Auf Frage, ob er jemals persönlich von Familienmitgliedern seiner Frau bedroht worden sei, verneinte er; er sei zwar bedroht worden, aber das wurde ihm jeweils von Anderen berichtet. Die Familie seiner Frau habe ihn nicht finden können (ebenda Bl. 124). Ihm sei berichtet worden, dass bei einer Familienversammlung der Familie seiner Frau beschlossen wurde, dass ihr 17-jähriger Bruder den Kläger erschießen soll. Der Cousin seiner Frau, mit dem sie gegen ihren Willen verlobt worden war, sollte den Bruder dabei unterstützen. Die Tat habe aber der 17-jährige Bruder ausführen sollen, da ihn als Minderjährigen eine geringere Strafe erwarten würde; dies habe er von ihrer Cousine erfahren (ebenda Bl. 125). Auch in dieser Zeit, als sie in ... lebten, sei er persönlich nicht bedroht worden, weil die Familie seiner Frau ihn nicht kontaktieren konnte, weil sie seine Telefonnummer nicht kannten (ebenda Bl. 125). Auf Frage, ob er die Morddrohungen bei der Polizei angezeigt habe, verneinte er, er habe deswegen auch schon mit seinem Vater gesprochen. Aber ihnen sei bewusst gewesen, dass die Polizei sie nicht schützen könne. Deswegen sei seine Familie zu „der Partei, die sie wählt“ gegangen. Wäre er zur Polizei gegangen und hätte eine Anzeige erstattet, wären auch die Familienmitglieder seiner Frau verhört worden. Auf diesem Wege hätten die Familienmitglieder seiner Frau erfahren, wo er sich gemeinsam mit seiner Frau versteckt halte. Die Familie seiner Frau kenne keine Gesetze. Sie hätten ihre eigenen Gesetze. Man höre auch oft in den Nachrichten, dass Frauen ihre Ehemänner wegen häuslicher Gewalt anzeigten und dass den Ehemännern daraufhin verboten wird, sich den Ehefrauen zu nähern. In der Realität würden solche Urteile jedoch nicht beachtet und diese Frauen würden trotzdem misshandelt und manchmal sogar getötet (ebenda Bl. 125 f.). Für den Fall der Rückkehr in die Türkei befürchte er, dass er und seine Ehefrau umgebracht würden (ebenda Bl. 126). Auf Frage nach einer anderen Region in der Türkei als Lebensraum gab er an, sie hätten schon versucht, in anderen Städten zu leben. Deutschland sei ihre letzte Wahl. Er habe immer Orte gewählt, die er kannte; Alleine wäre es möglich in eine große unbekannte Stadt zu ziehen, da er aber verheiratet sei und auch Verantwortung trage, sei es schwierig, in eine große unbekannte Stadt zu ziehen, wo er niemanden kenne. Seine Ehefrau sei schwanger und habe auch sehr große Angst. Vor allem nachts. Zudem habe sie Verwandtschaft, die bei der Polizei beschäftigt sei und deswegen Angst, dass ihre Adresse an ihre Familie weitergegeben wird, wenn z.B. zum Anmieten einer Wohnung eine Meldebescheinigung verlangt werde (ebenda Bl. 126). Würden sie ihrer eigenen Polizei trauen, hätten sie sich längst an sie gewandt, um Schutz zu erhalten (ebenda Bl. 126).
3
In ihrer auf Türkisch geführten Anhörung vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) am 26. Oktober 2017 bestätigte die Ehefrau im Wesentlichen die Angaben des Klägers (BAMF-Akte Bl. 162 ff.). Vertiefend gab sie an, ihre in der Provinz ... lebende Familie sei sehr religiös, sehr traditionsbewusst, habe sie gezwungen, ein Kopftuch zu tragen; obwohl sie die Zulassungsprüfung zur Universität bestanden habe, habe sie nicht studieren dürfen (ebenda Bl. 164). Am Abend der Brautwerbung ihres Ehemanns hätten sich die Älteren ihrer Familie getroffen und entschieden, dass sie ihren Cousin heiraten soll, sie sei für den Cousin angemessen. Sie habe zum ersten Mal ihrem Vater widersprochen, der sie deshalb geschlagen, in ihr Zimmer eingesperrt und ihr Telefon zerstört habe (ebenda Bl. 164 f.). Am Morgen ihrer Verlobung mit dem Cousin, habe ihr Vater eine Teekanne nach ihr geworfen, aber nicht sie sondern ihre Mutter am Kopf getroffen, so heftig, dass sie eine Platzwunde davon trug und diese genäht werden musste. Deswegen habe sie sich nicht weiter gegen ihren Vater widersetzen können und es akzeptiert (ebenda Bl. 165). Auf Frage, ob sie persönlich von ihrer Familie bedroht worden sei, gab sie an, nachdem sie durchgebrannt seien, habe sie keinen Kontakt mehr mit ihrer Familie. Aber ihre Familie bedrohe die Familienangehörigen ihres Mannes. Ihr Vater habe ihr mit dem Tod gedroht, als sie ihren Cousin heiraten sollte. Sie sei nicht zur Polizei gegangen, sie habe mit ihrem Vater unter einem Dach gelebt und konnte das Haus kaum verlassen (ebenda Bl. 166). Wen hätte sie anzeigen sollen - hätte ihr Bruder sie nicht getötet, dann hätte es ihr Verlobter getan, wenn nicht dieser, dann ihr Vater; man hätte sie auf jeden Fall getötet (ebenda 166). Woanders in der Türkei zu leben, z.B. in, wäre nicht möglich gewesen, denn wenn sie eine Wohnung mieten möchten, dann hätten sie sich anmelden müssen. Somit wäre bekannt gewesen, wo sie lebten; auch bei der Niederkunft für ihr Kind wäre über das Krankenhaus bei der Geburt bekannt geworden, wo sie lebten (ebenda Bl. 166).
4
Das Bundesamt lehnte mit Bescheid vom 21. November 2017 den Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Nr. 1), auf Asylanerkennung (Nr. 2) und auf Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus (Nr. 3) sowie auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG ab (Nr. 4). Die Abschiebung in die Türkei wurde androht (Nr. 5). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 6). Zur Begründung führte das Bundesamt aus, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und die Anerkennung als Asylberechtigter nicht vorlägen, weil die Kläger eine Verfolgung im Herkunftsstaat nicht hätten glaubhaft machen können. Eine konkrete Verfolgung in Anknüpfung an ein flüchtlingsrelevantes Merkmal hätten sie nicht erlitten. Eine Bedrohung sei persönlich nicht erfolgt und nicht glaubhaft; sie seien auch nicht sofort sondern erst elf Tage nach Beginn des Gültigkeitszeitraums ihrer Visa überhaupt ausgereist; schließlich handele es sich um eine Familienfehde, aber nicht um eine flüchtlingsrelevante Verfolgung mangels Verfolger und Verfolgungsmerkmal. Die Kläger hätten auch keinen staatlichen Schutz der Türkei zu erlangen versucht. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus lägen ebenfalls nicht vor. Auch Abschiebungsverbote seien nicht ersichtlich. Die derzeitigen humanitären Bedingungen in der Türkei würden nicht zu der Annahme führen, dass bei einer Abschiebung des Klägers eine Verletzung des Art. 3 EMRK vorliege. Die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots sei angemessen. Schutzwürdige Belange seien nicht vorgetragen worden.
5
Gegen diesen ihnen am 21. November 2017 zugestellten Bescheid ließen der Kläger und seine Ehefrau am 28. November 2017 Klage erheben zuletzt mit dem Antrag:
I.
6
Die Beklagte ist unter Aufhebung des streitgegenständlichen Bescheids vom 21. November 2017 zu verpflichten, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen und festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 3 AsylG in seiner Person vorliegen.
II.
7
Hilfsweise ist die Beklagte unter Teilaufhebung ihres streitgegenständlichen Bescheids zu verpflichten, dem Kläger den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen.
III.
8
Höchsthilfsweise ist die Beklagte unter Teilaufhebung ihres streitgegenständlichen Bescheids zu verpflichten festzustellen, dass die Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich des Herkunftslandes sowie hinsichtlich des Abschiebelandes vorliegen.
9
Weiter begehrten sie Prozesskostenhilfe und ließen zur Begründung ausführen, die geschilderte Verfolgung sei glaubhaft, der Vortrag entspreche den bekannten Traditionen solcher Familien. Die Kläger hätten zwischen der Erteilung des Visums und ihrer Ausreise nicht unnötig viel Zeit verstreichen lassen. Auch dass sie nicht persönlich bedroht worden seien, ändere nichts an der Verfolgungslage, da sie sich etwa ein Jahr lang im Land versteckt hätten. Aufgrund dessen könnten die Kläger auch keinen staatlichen Schutz erhalten, denn der türkische Staat sei mit polizeilichen Mitteln nicht in der Lage, solche Familienfehden zu unterbinden und im Voraus gegen die Gefährdung vorzugehen. Ein Versöhnungsversuch über die HDP sei gescheitert. Eine Anzeige bei der Polizei hätten sie nicht erstatten können, ohne durch ihre Daten ihr eigenes Leben zu riskieren. Den Klägern drohe als Kurden im Falle einer Rückkehr aufgrund der bestehenden Verdachtsumstände auch Folter oder eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung durch den türkischen Staat. Hierzu wurde auf einzelne Meldungen aus den Jahren 2014-2017 verwiesen. Die Kläger würden daher in der Türkei einer Gefahr politischer Verfolgung ausgesetzt. Aufgrund ihrer Stigmatisierung hätten sie auch keine Möglichkeit, im Fall einer Rückkehr eine Lebensgrundlage zu finden. Der Vater der Ehefrau habe Anzeige wegen Entführung und Freiheitsberaubung der Tochter gestellt und versuche so offenbar, deren Aufenthaltsort herauszufinden. Versöhnungsversuche seien weiterhin gescheitert; die Familie der Ehefrau bedrohe und beleidige hin und wieder die Familie des Klägers. Wie sich aus einer Stellungnahme von ... ergebe, bestehe für die Kläger im Fall einer Rückkehr eine ernsthafte Bedrohung von Leben und Gesundheit.
10
Ergänzend wurden vorgelegt für den Kläger:
11
- A. v., Primärtherapeut & Traumatherapeut, Heilpraktiker,, Psychologische Stellungnahme vom 17. Juli 2018 für den Kläger (VG-Akte Bl. 69 ff.): Keine Diagnose einer psychischen Störung nach ICD 10; starke Angstsymptome vor einer Abschiebung in die Türkei, Reiseunfähigkeit für eine Abschiebung in die Türkei.
12
- Dr. B., Neurologe, Psychiater, Psychotherapeut, Attest vom 16. Juni 2019 für den Kläger: Anamnese: Patient habe sich in der Praxis vorgestellt. Vorausgegangen seien mehrere traumatische Ereignisse wie die Flucht aus der Türkei wegen einer „Liebesheirat“, die jedoch von beiden Familien abgelehnt werde, sowie ein Suizid des Onkels. Bereits in der Türkei habe der Patient zeitweise Medikamente verordnet bekommen, manchmal über Suizid nachgedacht, jedoch nie konkrete Suizidabsichten gehabt.
Therapie: trizyklische Antidepressiva.
13
- D., Psychologische Psychotherapeutin, Stellungnahme vom 6. November 2019 für den Kläger (in mündlicher Verhandlung übergeben):
Diagnosen: Rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig mittelgradig-schwere Episode (ICD 10 F33.1), Angst vor Abschiebung und Ehrenmord oder polizeilicher Verhaftung in der Türkei, Ängste bezogen auf Zukunft und Aufenthalt in Deutschland, durch familiäre Situation total erschöpft.
Therapie: Seit August 2019 in ambulanter Psychotherapie in großen Abständen zunächst zwecks eigener Stabilisierung, aber Befund, dass Kläger selbst sehr depressiv ist.
Therapieempfehlung: Langwierige stabilisierende Psychotherapie in Deutschland notwendig in türkischer bzw. kurdischer Sprache; bei einer Abschiebung in die Türkei wäre sein Leben in Gefahr, höchstwahrscheinlich werde er wegen seinem Internet-Post inhaftiert werden oder/und von der Familie seiner Frau getötet werden, auf Grund dieser wahrscheinlichen Konsequenzen sei eine akute Suizidalität bei drohender Abschiebung nicht auszuschließen. Unabhängig von vorhandenen Therapiemöglichkeiten in der Türkei könne eine Psychotherapie, wo psychische Verletzungen stattgefunden hätten, wenig erfolgreich sein […].
14
Weiter machte der Kläger noch geltend, ein in der Schweiz lebender Bekannter der Familie habe die Familie des Klägers im April 2019 in ... besucht und erlebt, wie drei unbekannte Personen gekommen seien und nach dem Verbleib der Kläger gefragt und auf deren Schweigen hin beschimpft hätten und er daraufhin seinen Aufenthalt abgebrochen habe. Der Kläger und seine Ehefrau seien daher auch akut bedroht und staatlicher Schutz sei nicht ohne Weiteres zu erlangen. Neben der Ehefrau sei auch der Kläger gesundheitlich betroffen. Die Türkei sei nicht schutzfähig und schutzwillig bei Familienstreitigkeiten innerhalb der kurdischen Bevölkerung. In den letzten Jahren habe es jährlich über 400 Frauenmorde mit Tätern aus dem Familienkreis gegeben. Die Kläger seien als Angehörige einer bestimmten sozialen Gruppe verfolgt und könnten in anderen Teilen der Türkei keine Existenzgrundlage finden, da sie sich verstecken müssten und als von ihrer Familie Verfolgte keinen Arbeitsplatz fänden.
15
Die Beklagte hat keinen Antrag gestellt, aber unter Vertiefung ihrer Bescheidsbegründung geltend gemacht, die Türkei sei schutzfähig und schutzwillig gegen sogenannte „Ehrendelikte“ auch an Frauen, wie neuere Erkenntnisse zeigten, zudem hätte der Kläger staatlichen Schutz zumutbar in Anspruch nehmen können. Auch ein Abschiebungsverbot liege nicht vor, da der Kläger begrenzt arbeitsfähig sei und in der Türkei über ein familiäres Netzwerk seiner Familie verfüge. Er und seine Ehefrau könnten in der Türkei muttersprachliche Behandlung erhalten, wie sie in den vorgelegten Attesten als wünschenswert erwähnt werde.
16
Die Regierung von ... als Vertreterin des öffentlichen Interesses hat auf jegliche Zustellungen mit Ausnahme der Endentscheidung verzichtet.
17
Mit Beschluss vom 8. Juli 2019 wurde der Rechtsstreit dem Einzelrichter zur Entscheidung übertragen und mit Beschluss vom gleichen Tag Prozesskostenhilfe abgelehnt. Mit der Ladung übersandte das Gericht eine aktuelle Erkenntnismittelliste. Ein erster Verhandlungstermin musste wegen stationären Aufenthalts und Verhandlungsunfähigkeit der Ehefrau abgesetzt werden, vor dem folgenden Termin wurde das Klageverfahren der Ehefrau wegen erneuter Verhandlungsunfähigkeit mit Beschluss vom 5. November 2019 abgetrennt und unter dem neuen Aktenzeichen Au 6 K 19.31476 fortgeführt.
18
In der mündlichen Verhandlung machte der Kläger erstmals geltend, er sei in der Türkei politisch aktiv gewesen; hierzu verwies er auf die Zuerkennung von Flüchtlingsschutz wegen drohender Wehrdiensteinziehung für einen beim Broschürenverteilen staatlich misshandelten Bruder (VG Freiburg, U.v. 8.3.2018 - A 6 K 5937/17), habe auch im Internet sich kritisch zur türkischen Offensive in Afrin geäußert, nehme an kurdischen Kundgebungen in ... und ... teil (hierzu verwies er auf Fotos gemeinsam mit seinem Kind). Die Polizei habe bei seiner Familie in ... nach dem Kläger gefragt. Der Vater seiner Ehefrau habe ihn, wie vorgetragen, angezeigt, um seinen Aufenthaltsort herauszufinden. Auskunft aus e-Devlet über angebliche strafrechtliche Ermittlungen habe er keine und bisher auch keinen eigenen Zugang; seine Familie habe einen Anwalt beauftragt, aber es sei noch keine konkrete Auskunft da. Auf Frage nach Verwandten der Ehefrau, die bei der Polizei arbeiteten, erklärte der Kläger, ein Cousin ersten Grades der Familie seiner Frau arbeite bei der Polizei als Vertreter vom Polizeichef und könne jederzeit Auskunft geben, auch bei einer normalen Schulanmeldung. Er habe der Familie zu einer Anzeige bei der Staatsanwaltschaft geraten, damit der Kläger landesweit gesucht wird.
19
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichts- und die von der Beklagten vorgelegte Behördenakte sowie das Protokoll der mündlichen Verhandlung verwiesen.

Entscheidungsgründe

20
Die zulässige Klage ist nicht begründet. Der Kläger hat zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, auf die Gewährung subsidiären Schutzes oder auf ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 AufenthG (§ 113 Abs. 5 VwGO). Der angefochtene Bescheid des Bundesamtes vom 21. November 2017 ist daher rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Es wird insoweit in vollem Umfang Bezug genommen auf die Gründe des angefochtenen Bescheids (§ 77 Abs. 2 AsylG) und ergänzend ausgeführt:
21
1. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG.
22
Nach § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Ein Ausländer ist nach § 3 Abs. 1 AsylG Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560 - Genfer Flüchtlingskonvention), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb seines Herkunftslandes befindet.
23
Im Einzelnen sind definiert die Verfolgungshandlungen in § 3a AsylG, die Verfolgungsgründe in § 3b AsylG und die Akteure, von denen eine Verfolgung ausgehen kann bzw. die Schutz bieten können, in §§ 3c, 3d AsylG. Einem Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG, der nicht den Ausschlusstatbeständen nach § 3 Abs. 2 AsylG oder nach § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG unterfällt oder der den in § 3 Abs. 3 AsylG bezeichneten anderweitigen Schutzumfang genießt, wird die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt (§ 3 Abs. 4 AsylG). Als Verfolgung i.S.d. § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG gelten Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Art. 15 Abs. 2 EMRK keine Abweichung zulässig ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG), oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG). Zwischen den Verfolgungsgründen (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG i.V.m. § 3b AsylG) und den Verfolgungshandlungen - den als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen, § 3a AsylG - muss für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft eine Verknüpfung bestehen (§ 3a Abs. 3 AsylG).
24
Eine Verfolgung i.S.d. § 3 AsylG kann nach § 3c Nr. 3 AsylG auch von nicht-staatlichen Akteuren ausgehen, sofern der Staat oder ihn beherrschende Parteien oder Organisationen einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor der Verfolgung zu bieten.
25
Für die Beurteilung der Frage, ob die Furcht des Betroffenen vor Verfolgung begründet i.S.v. § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG ist, gilt einheitlich der Prognosemaßstab der tatsächlichen Gefahr („real risk“), der demjenigen der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, U.v. 1.6.2011 - 10 C 25/10 - juris) entspricht.
26
Der Wahrscheinlichkeitsmaßstab setzt voraus, dass bei einer zusammenfassen-den Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (vgl. zum Ganzen: BVerwG, U.v. 20.2.2013 - 10 C 23/12 - juris Rn. 32).
27
Die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU in Form einer widerlegbaren Vermutung ist im Asylerstverfahren zu beachten, wenn der Antragsteller frühere Verfolgungshandlungen oder Bedrohungen mit Verfolgung als Anhaltspunkt für die Begründetheit seiner Furcht geltend macht, dass sich die Verfolgung im Falle der Rückkehr in das Heimatland wiederholen werde. Die solchen früheren Handlungen oder Bedrohungen nach Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU zukommende Beweiskraft ist von den zuständigen Behörden unter der sich aus Art. 9 Abs. 3 QRL ergebenden Voraussetzung zu berücksichtigen, dass diese Handlungen oder Bedrohungen eine Verknüpfung mit dem Verfolgungsgrund aufweisen, den der Betreffende für seinen Antrag auf Schutz geltend macht (vgl. zum Ganzen: BVerwG, B.v. 6.7.2012 - 10 B 18/12 - juris Rn. 5 unter Bezugnahme auf EuGH, U.v. 2.3.2010 - Rs. C-175/08 u.a. - juris Rn. 93; BVerwG, U.v. 5.5.2009 - 10 C 21/08 - juris Rn. 25). Die vorgenannte Vermutung kann aber widerlegt werden. Hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung bzw. des Eintritts eines solchen Schadens entkräften. Hat der Asylbewerber seine Heimat jedoch unverfolgt verlassen, kann sein Asylantrag nur Erfolg haben, wenn ihm auf Grund von Nachfluchttatbeständen politische Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit (BVerwG, U.v. 27.4.2010 - 10 C 5.09 - BVerwGE 136, 377/382 Rn. 18) droht.
28
Gemäß § 3 Abs. 2 Satz 1 AsylG ist ein Ausländer nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn aus schwerwiegenden Gründen die Annahme gerechtfertigt ist, dass er ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat im Sinne der internationalen Vertragswerke, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen zu treffen (Nr. 1), vor seiner Aufnahme als Flüchtling eine schwere nichtpolitische Straftat außerhalb des Bundesgebiets begangen hat, insbesondere eine grausame Handlung, auch wenn mit ihr vorgeblich politische Ziele verfolgt wurden (Nr. 2), oder den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwidergehandelt hat (Nr. 3). Satz 1 gilt auch für Ausländer, die andere zu den darin genannten Straftaten oder Handlungen angestiftet oder sich in sonstiger Weise daran beteiligt haben (§ 3 Abs. 2 Satz 2 AsylG).
29
Es ist Sache des Schutzsuchenden, seine Gründe für eine Verfolgung in schlüssiger Form vorzutragen. Er hat unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, aus dem sich bei Wahrunterstellung ergibt, dass bei verständiger Würdigung seine Furcht vor Verfolgung begründet ist, so dass ihm nicht zuzumuten ist, im Herkunftsland zu verbleiben oder dorthin zurückzukehren. Wegen des sachtypischen Beweisnotstands, in dem sich Flüchtlinge insbesondere im Hinblick auf asylbegründende Vorgänge im Verfolgerland vielfach befinden, genügt für diese Vorgänge in der Regel eine Glaubhaftmachung. Voraussetzung für ein glaubhaftes Vorbringen ist allerdings ein detaillierter und in sich schlüssiger Vortrag ohne wesentliche Widersprüche und Steigerungen.
30
a) Der Kläger hat keine staatliche oder staatlich geduldete Gruppenverfolgung ethnischer Kurden erlitten oder zu befürchten.
31
Die Annahme einer Gruppenverfolgung setzt voraus, dass entweder sichere Anhaltspunkte für ein an asylerhebliche Merkmale anknüpfendes staatliches Verfolgungsprogramm oder für eine bestimmte Verfolgungsdichte vorliegen, welche die „Regelvermutung“ eigener Verfolgung rechtfertigt. Hierfür ist die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in flüchtlingsrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. Die Verfolgungshandlungen müssen vielmehr im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne Weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht.
32
Kurdische Volkszugehörige zählen etwa 13 Mio. bis 15 Mio. Menschen auf dem Gebiet der Türkei und stellen noch vor Kaukasiern und Roma die größte Minderheit in der Bevölkerung der Türkei (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Türkei vom 19.2.2017, S. 13 - im Folgenden: Lagebericht); sie unterliegen demnach aufgrund ihrer Abstammung keinen staatlichen Repressionen, zumal aus den Ausweispapieren in der Regel - sofern keine spezifisch kurdischen Vornamen geführt werden - nicht hervorgeht, ob ein türkischer Staatsbürger kurdischer Abstammung ist (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht, S. 13). Der private Gebrauch der in der Türkei gesprochenen kurdischen Sprachen Kurmandschi und des weniger verbreiteten Zaza ist in Wort und Schrift keinen Restriktionen ausgesetzt, der amtliche Gebrauch ist allerdings eingeschränkt. Unterricht in kurdischer Sprache an öffentlichen Schulen war bis 2012 nicht erlaubt und wurde seither stufenweise bei entsprechender Nachfrage erlaubt; Dörfer im Südosten können ihre kurdischen Namen zurückerhalten. Die verfassungsrechtliche Festschreibung von Türkisch als einziger Nationalsprache bleibt jedoch erhalten und erschwert die Inanspruchnahme öffentlicher Dienstleistungen durch Kurden und Angehörige anderer Minderheiten, für die Türkisch nicht Muttersprache ist (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht, S. 13 f.). Seit der Verhängung des Notstands aber hat sich die Lage verändert: Zwei Drittel der per Notstandsdekret geschlossenen Medien sind kurdische Zeitungen, Onlineportale, Radio- und Fernsehsender, darunter auch IMC TV und die Tageszeitung „Özgür Gündem“ unter dem Vorwurf, „Sprachrohr der PKK“ zu sein (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht, S. 14).
33
Kurdische Volkszugehörige unterliegen damit in Türkei zwar einer gewissen Diskriminierung. Es fehlt aber jedenfalls an der für die Annahme einer Gruppenverfolgung erforderlichen kritischen Verfolgungsdichte (vgl. zur Gruppenverfolgung BVerfG, B.v. 23.1.1991 - 2 BvR 902/85, 2 BvR 515/89, 2 BvR 1827/89 - BVerfGE 83, 216 m.w.N.; BVerwG, B.v. 24.2.2015 - 1 B 31/14 - juris). Das Gericht geht aufgrund der vorliegenden und ins Verfahren eingeführten Erkenntnismittel davon aus, dass eine Verfolgung kurdischer türkischer Staatsangehöriger jedenfalls nicht die von der Rechtsprechung verlangte Verfolgungsdichte aufweist, die zu einer Gruppenverfolgung und damit der Verfolgung eines jeden Mitglieds führt (im Ergebnis wie hier VG Aachen, U.v. 5.3.2018 - 6 K 3554/17.A - juris Rn. 51 m.w.N.). Unabhängig davon steht Kurden in der Westtürkei trotz der auch dort problematischen Sicherheitslage und der schwierigen wirtschaftlichen Bedingungen eine inländische Fluchtalternative offen (vgl. SächsOVG, U.v. 7.4.2016 - 3 A 557/13.A; BayVGH, B.v. 22.9.2015 - 9 ZB 14.30399, alle juris). Sie können den Wohnort innerhalb des Landes wechseln und so insbesondere in Ballungsräumen in der Westtürkei eine in der Südosttürkei auf Grund der gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen türkischen Sicherheitskräften und PKK etwa höhere Gefährdung verringern. Keine Ausweichmöglichkeiten hingegen bestehen, soweit eine Person Ziel behördlicher oder justizieller Maßnahmen wird, da die türkischen Sicherheitskräfte auf das gesamte Staatsgebiet Zugriff haben (Lagebericht ebenda S. 22).
34
Dies gilt auch für den nicht ortsgebundenen Kläger. Er war bis zu seiner Ausreise zu keinem Zeitpunkt Ziel behördlicher oder justizieller Maßnahmen. Im Gegenteil spricht die unbehelligte Ausreise auf dem Luftweg trotz der strengen Grenzkontrollen in der Türkei (dazu unten) gegen jegliches staatliche Verfolgungsinteresse.
35
b) Der Kläger hat auch mit seinem individuellen Vortrag nicht glaubhaft machen können, dass ihm in der Türkei eine flüchtlingsrelevante Verfolgung droht.
36
Hierbei ist der Bescheidsbegründung der Beklagten zu folgen, wonach der Kläger keine an ihn individuell gerichteten Bedrohungen oder gar Übergriffe geschildert hat, sondern lediglich solche auf Grund der familiären Konstellation und neuen Vortrags zu einer politischen Tätigkeit befürchtet. Das aber führt nicht zur Annahme, dass ihm im Fall ihrer Rückführung in die Türkei Verfolgungsmaßnahmen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen.
37
aa) Nach seinem Vortrag ist schon nicht plausibel, dass ihm eine staatliche oder von einem territorialen Machthaber ausgehende Verfolgung, die an ein Verfolgungsmerkmal anknüpfte, droht.
38
Ihre Familien haben keine Territorialgewalt; es ist auch nicht ersichtlich, dass befürchtete Übergriffe der Familie der Ehefrau vom türkischen Staat geduldet oder gar gebilligt würden. Soweit der Kläger meint, weil seine Familie politisch aktiv sei, würde die türkische Polizei seine Familie nicht unterstützen, sondern ihr nur schaden, sie hätten die Vermittlung über die HDP versucht und diese habe nichts machen können (Protokoll vom 13.11.2019 S. 2), ist dies seine bloße Vermutung. Da er und seine Ehefrau aber bewusst gar keinen staatlichen Schutz in Anspruch nehmen wollten und auch nicht genommen haben (dazu sogleich), ohne es probiert zu haben und ggf. abgelehnt worden zu sein, steht seine bloße Vermutung im Raum und reicht nicht für die Annahme einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit im Sinne von § 3 AsylG einer Schutzverweigerung als Verfolgung durch Unterlassen oder mittelbare Täterschaft.
39
Dass der Kläger bei seiner Familie vom türkischen Staat gesucht worden sein will, begründet ebenfalls keine Annahme einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit. Wie er selbst ausführte, habe sein Schwiegervater gegen ihn Anzeige erstattet - dass die Nachfrage nicht deswegen sondern wegen Internet-Aktivität und einer erst jetzt erwähnten politischen Haltung des Klägers stattgefunden habe, steht als bloße neue Behauptung und Steigerung des bisherigen Vorbringens im Raum. Ein Auszug aus e-Devlet, der sein Vorbringen stützen könnte, liegt aber nicht vor und soll erst beschafft werden.
40
Eine flüchtlingsrelevante Verfolgung im Sinne des § 3 AsylG ist daher nicht mit einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit erkennbar. Auch ist keine Anknüpfung an ein Verfolgungsmerkmal ersichtlich. Der Kläger (und seine Ehefrau) stellen keine eigene soziale Gruppe dar, da sie nicht von außen an Hand eines unveränderlichen Merkmals als anders und als eigene Gruppe wahrgenommen werden.
41
bb) Der Kläger hat auch nicht um staatlichen Schutz nachgesucht, obwohl der türkische Staat - entgegen der Einschätzung der Kläger - grundsätzlich schutzfähig und schutzwillig ist und es jedem Staatsbürger zunächst zumutbar ist, den Schutz des eigenen Herkunftsstaates in Anspruch zu nehmen, bevor er Schutz im Ausland sucht.
42
Nach der Auskunftslage kommt es in der Türkei immer noch zu so genannten „Ehrenmorden“ insbesondere an Frauen oder Mädchen wegen eines sogenannten „schamlosen“ vor- oder außerehelichen Verhaltens etc.; auch Männer werden - vor allem im Rahmen von Familienfehden (Blutrache) - Opfer solcher „Ehrenmorde“ insbesondere wegen Eingehung sogenannter „schamloser Beziehungen“ zu Frauen oder weil sie sich weigern, die vermeintlich verletzte Ehre der Familie wiederherzustellen. Dem Anfang 2007 veröffentlichten Bericht einer „Ehrenmord“-Kommission des türkischen Parlaments zufolge kam es in den Jahren 2001 bis 2006 zu 1.190 sogenannten „Ehrenmorden“ und Blutrachedelikten, davon 710 an Männern und 480 an Frauen und Mädchen. Die generell bei Gewalt gegen Frauen steigenden Zahlen der letzten Jahre können ein Hinweis sein, dass mehr Straftaten bekannt und verfolgt werden bzw. Frauen eher bereit sind, Hilfe von außen in Anspruch zu nehmen (vgl. Lagebericht ebenda S. 19 f.).
43
Dies zeigt, dass türkische Strafverfolgungsbehörden solche Delikte vermehrt verfolgen und der türkische Staat im Rahmen seiner Möglichkeiten Schutz gewährt. Ein lückenloser Schutz kann nicht gewährt werden, auch nicht in Deutschland von deutschen Behörden, wie die hier trotz aller staatlichen Bemühungen um Ächtung dieser Delikte leider immer noch gelegentlich vorkommenden „Ehrenmorde“ zeigen (vgl. S. Güsten, Brutaler Frauenmord erschüttert die Türkei, Stuttgarter Zeitung vom 25.8.2019, VG-Akte Bl. 182 ff., wonach in der Türkei in den letzten Jahren mehr als 400 Morde an Frauen gezählt worden seien, mehr als doppelt so viele Opfer wie in Deutschland).
44
Dass der Kläger und seine Ehefrau die Bedrohungen durch ihre Familie überhaupt nicht angezeigt haben, obwohl ihnen bereits damals dritte Personen als Zeugen zur Verfügung standen, von denen sie von den Bedrohungen erfahren haben wollen, als auch mittlerweile die Mitglieder der HDP-Delegation als Zeugen zur Verfügung stünden, die eine Versöhnung vergeblich versucht haben (vgl. VGakte Bl. 76 f., 90), ist die Inanspruchnahme staatlichen Schutzes nicht unzumutbar. Soweit der Kläger darauf verweist, weil seine Familie politisch aktiv sei, würde die türkische Polizei seine Familie nicht unterstützen, sondern ihr nur schaden (vgl. oben), ändert dies nichts daran, dass der türkische Staat den Klägern keinen Schutz versagt hat. Da der Kläger jetzt auch einen Rechtsanwalt mit Recherchen betraut haben will (vgl. oben), zudem auch dritte Zeugen zur Verfügung stehen, wäre dem Kläger vor oder spätestens bei einer Rückkehr in die Türkei eine eigene Strafanzeige erst recht zumutbar.
45
Soweit der Kläger fürchtet, bei einer Strafanzeige erhalte die Schwiegerfamilie erst recht Kenntnis von seinem Aufenthaltsort, ist nicht ersichtlich, dass die türkische Polizei oder Staatsanwaltschaft insoweit keine Auskunftssperre zu Schutzzwecken einrichten könnte. Dass von Geheimhaltung rege Gebrauch gemacht wird, ist dem Verwaltungsgericht aus anderen türkischen Strafverfahren bekannt. Dass sie nicht auch zum Schutz von potentiellen Opfern eingerichtet werden könnte, ist daher nicht ausgeschlossen.
46
b) Schließlich ist der Kläger auf eine interne Fluchtalternative in der Westtürkei und in den Großstädten zu verweisen (§ 3e AsylG).
47
Das Gericht ist der Überzeugung, dass der Kläger bei einer Rückkehr in die Türkei in der Westtürkei und insbesondere in Großstädten befürchteten Übergriffen aus der Familie der Ehefrau ausweichen kann und dort keiner Verfolgung ausgesetzt wäre (vgl. oben) und dies daher als innerstaatliche Fluchtalternative noch geeignet und zumutbar ist, so dass erwartet werden kann, dass sie sich dort vernünftigerweise niederlassen. Der Kläger hat sich mit seiner Ehefrau nach der Heirat noch rund ein Jahr in der Türkei aufgehalten, allerdings, wie er angab, an wechselnden Orten und versteckt. Mit Blick auf die bisher nicht ergriffene Möglichkeit staatlichen Schutzes und einer Auskunftssperre oder dgl. insbesondere auf anwaltlichen Beistand hin (vgl. oben) könnte er voraussichtlich auch offiziell und nicht wie damals inoffiziell dort leben.
48
Dem Kläger ist die Westtürkei wirtschaftlich zumutbar. Ihm droht erst recht keine erhebliche konkrete Gefahr für Leib oder Leben wegen der allgemeinen Versorgungslage dort (dazu sogleich zu § 60 Abs. 5 AufenthG). Das Gericht geht davon aus, dass der wegen Kindesbetreuung begrenzt erwerbsfähige und erwerbstätige Kläger (vgl. Protokoll vom 13.11.2019, S. 5) seinen und seiner Familie Lebensunterhalt in der Westtürkei durch einfache Arbeiten, ggf. auch im erlernten Beruf eines Kochs, sicherstellen kann. Auch wenn hierfür mehr zu fordern ist als ein kümmerliches Einkommen zur Finanzierung eines Lebens am Rande des Existenzminimums (vgl. BVerwG, U.v. 31.1.2013 - 10 C 15/12 - juris Rn. 20), ist doch vernünftigerweise zu erwarten, dass der Kläger sich dort aufhält und ihren Lebensunterhalt dort sicherstellt. Hinzu kommt die von der Beklagten zutreffend gewürdigte familiäre Unterstützung durch die Familie des Klägers. Im Übrigen hat der Kläger von seiner Familie her erhebliche Unterstützung vor der Ausreise erlangt, so dass anzunehmen ist, dass sie ihm nicht feindlich gegenübersteht und ihn jedenfalls in gewissem Umfang möglicherweise auch wieder unterstützen könnte und wollte. Zudem steht der Familie notfalls der Förderungsfonds für Soziale Hilfe und Solidarität zur Seite (dazu unten).
49
2. Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Gewährung subsidiären Schutzes i.S. des § 4 Abs. 1 AsylG. Er hat keine stichhaltigen Gründe für die Annahme vorgebracht, dass ihnen bei einer Rückkehr in die Türkei ein ernsthafter Schaden i.S. des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nrn. 1 bis 3 AsylG droht.
50
Ein Ausländer ist subsidiär Schutzberechtigter nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 AsylG i.V.m. Art. 15 RL 2011/95/EU die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe, Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts.
51
Die Aufenthaltsbeendigung eines Ausländers durch einen Konventionsstaat kann Art. 3 EMRK verletzen, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme vorliegen und bewiesen sind, dass der Ausländer im Zielstaat einer Abschiebung tatsächlich Gefahr läuft, Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung ausgesetzt zu werden. Dann ergibt sich aus Art. 3 EMRK die Verpflichtung für den Konventionsstaat, den Betroffenen nicht in dieses Land abzuschieben (vgl. EGMR, U.v. 13.12.2016 - 41738/10 - NVwZ 2017, 1187 ff. Rn. 173 m.w.N.).
52
a) Der Kläger hat eine ernsthafte Bedrohung, so sie eine Gefährdungslage i.S. des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AsylG in Gestalt der Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe begründen würde, nicht glaubhaft gemacht.
53
Die Todesstrafe ist in der Türkei abgeschafft (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Türkei vom 19.2.2017, S. 24 - im Folgenden: Lagebericht). Für extralegale Hinrichtungen liegen keine Anhaltspunkte vor. Etwaige Tötungen durch Private wie Familienangehörige stellen keine „Todesstrafe“ hierzu berechtigter Institutionen dar und stehen auch in der Türkei als Kapitaldelikt unter Strafe.
54
b) Der Kläger hat eine ernsthafte Bedrohung, so sie eine Gefährdungslage i.S. des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG wegen Folter, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung begründen würde, nicht glaubhaft gemacht.
55
Unter Heranziehung der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union zu Art. 15b RL 2011/95/EU und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 3 EMRK ist als unmenschliche oder erniedrigende Behandlung i.S. des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG eine absichtliche, d.h. vorsätzliche Zufügung schwerer körperlicher oder seelischer Leiden zu verstehen, die im Hinblick auf Intensität und Dauer eine hinreichende Schwere aufweisen (vgl. nur EGMR, U.v. 21.1.2011 - 30696/09 - NVwZ 2011, 413 Rn. 220 m.w.N.; EGMR U.v. 11.7.2006 - 54810/00 - NJW 2006, 3117 Rn. 67; BVerwG, U.v. 31.1.2013 - 10 C 15.12 - NVwZ 2013, 1167 Rn. 22 ff. m.w.N.), Eine erniedrigende Behandlung setzt als Schweregrad eine Demütigung oder Herabsetzung voraus, die im Opfer Gefühle von Furcht, Todesangst und Minderwertigkeit verursacht und geeignet sind, diese Person zu erniedrigen oder zu entwürdigen und möglicherweise ihren psychischen oder moralischen Widerstand zu brechen.
56
Für die Wahrscheinlichkeit des Eintritts eines solchen ernsthaften Schadens gilt der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit („real risk“) unabhängig davon, ob der Betroffene bereits vor seiner Ausreise einen ernsthaften Schaden i.S. des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG erlitten hat; eine solche Vorschädigung stellt aber einen ernsthaften Hinweis darauf dar, dass er tatsächlich Gefahr läuft, (erneut) ernsthaften Schaden zu erleiden (zur Vermutungswirkung vgl. Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU.
57
Gleichwohl hat das Verwaltungsgericht für die Beurteilung der Wahrscheinlichkeit sich nach § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO seine freie, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnene Überzeugung zu bilden. Auch im Asylverfahren muss die danach gebotene Überzeugungsgewissheit dergestalt bestehen, dass das Gericht die volle Überzeugung von der Wahrheit (nicht etwa nur von der Wahrscheinlichkeit) des behaupteten individuellen Schicksals erlangt hat. Wegen des sachtypischen Beweisnotstandes, in dem sich der Betroffene insbesondere hinsichtlich der von ihm vorgetragenen Vorgänge vielfach befindet, genügt für diese Vorgänge in der Regel die Glaubhaftmachung, wodurch allerdings das Gericht nicht von einer Überzeugungsbildung im Sinne des § 108 Abs. 1 VwGO enthoben ist. Vielmehr darf das Gericht keine unerfüllbaren Beweisanforderungen stellen und keine unumstößliche Gewissheit verlangen. Es muss sich in tatsächlich zweifelhaften Fällen mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit begnügen, der den Zweifeln Schweigen gebietet, auch wenn sie nicht völlig auszuschließen sind (vgl. zum Ganzen VGH BW, U.v. 11.4.2018 - A 11 S 924/17 - juris Rn. 32 ff.). Es ist daher zunächst Sache des Schutzsuchenden, die Gründe für seine Furcht vor Verfolgung schlüssig vorzutragen. Dazu hat er unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, aus dem sich bei verständiger Würdigung ergibt, dass ihm in seinem Heimatstaat Verfolgung droht. Hierzu gehört, dass er zu den in seine Sphäre fallenden Ereignissen, insbesondere zu seinen persönlichen Erlebnissen, eine Schilderung gibt, die geeignet ist, den behaupteten Anspruch lückenlos zu tragen. Erhebliche Widersprüche und Unstimmigkeiten im Vorbringen können dem entgegenstehen, es sei denn, diese können überzeugend aufgeklärt werden (vgl. zum Maßstab bereits oben zu § 3 AsylG).
58
Eine solche Gefahr besteht im Fall des Klägers nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit; auf die Würdigung des Vorbringens zu § 3 AsylG wird insoweit verwiesen.
59
3. Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG liegen ebenfalls nicht vor. Auf den Bescheid des Bundesamts wird Bezug genommen (§ 77 Abs. 2 AsylG) und ergänzend ausgeführt:
60
a) Dem Kläger steht kein Anspruch auf Verpflichtung zur Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG zu.
61
Gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Nach Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden. Dies ist auch der Fall, wenn es dem Betroffenen nicht (mehr) gelingen würde, seine elementaren Bedürfnisse wie Nahrung, Hygiene und Unterkunft, zu befriedigen (vgl. BayVGH, U.v. 21.11.2014 - 13a B 14.30285 - Asylmagazin 2015, 197) und die aus zu erwartenden schwierigen Lebensbedingungen resultierenden Gefährdungen im Einzelfall eine solche Intensität aufweisen, dass auch ohne konkret drohende Maßnahmen von einer unmenschlichen Behandlung auszugehen ist.
62
Hier liegen diese besonders strengen Voraussetzungen nicht vor:
63
aa) Der erwachsene und erwerbsfähige Kläger (vgl. oben) würde mit seiner Familie im Fall ihrer Abschiebung in die Türkei keiner besonderen Ausnahmesituation ausgesetzt sein, die mit hoher Wahrscheinlichkeit dazu führen würde, dass ihre elementarsten Bedürfnisse im Sinne eines absoluten Existenzminimums nicht gesichert wären (vgl. bereits oben zur zumutbaren inländischen Fluchtalternative).
64
Die Grundversorgung und die medizinische Versorgung sind nach Überzeugung des Gerichts für Rückkehrer in der Türkei jedenfalls im Umfang des absoluten Existenzminimums gesichert. In der Türkei gibt es zwar keine mit dem deutschen Recht vergleichbare staatliche Sozialhilfe. Sozialleistungen für Bedürftige werden aber über den Förderungsfonds für Soziale Hilfe und Solidarität gewährt und von den in 81 Provinzen und 850 Kreisstädten vertretenen 973 Einrichtungen der Stiftungen für Soziale Hilfe und Solidarität (Sosyal Yardımlaşma ve Dayanişma Vakfi) ausgeführt, die den Gouverneuren unterstellt sind. Anspruchsberechtigt sind bedürftige Staatsangehörige, die sich in Armut und Not befinden, nicht gesetzlich sozialversichert sind und von keiner Einrichtung der sozialen Sicherheit ein Einkommen oder eine Zuwendung beziehen, sowie Personen, die gemeinnützig tätig und produktiv werden können. Die Leistungsgewährung wird von Amts wegen geprüft. Eine neu eingeführte Datenbank vernetzt Stiftungen und staatliche Institutionen, um Leistungsmissbrauch entgegenzuwirken. Leistungen werden gewährt in Form von Unterstützung der Familie (Nahrungsmittel, Heizmaterial, Unterkunft), Bildungshilfen, Krankenhilfe, Behindertenhilfe sowie besonderen Hilfeleistungen wie Katastrophenhilfe oder Volksküchen. Die Leistungen werden in der Regel als zweckgebundene Geldleistungen für neun bis zwölf Monate gewährt. Darüber hinaus existieren weitere soziale Einrichtungen, die ihre eigenen Sozialhilfeprogramme haben (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Türkei vom 14.6.2019, S. 25 f. - im Folgenden: Lagebericht).
65
Die medizinische Versorgung durch das staatliche Gesundheitssystem hat sich in den letzten Jahren strukturell und qualitativ erheblich verbessert, vor allem in ländlichen Gegenden sowie für die arme, (bislang) nicht krankenversicherte Bevölkerung. Auch wenn Versorgungsdefizite vor allem in ländlichen Provinzen bei der medizinischen Ausstattung und im Hinblick auf die Anzahl von Ärzten bzw. Pflegern bestehen, sind landesweit Behandlungsmöglichkeiten für alle Krankheiten gewährleistet. Landesweit gab es im Jahr 2017 1.518 Krankenhäuser mit einer Kapazität von 226.000 Betten, davon ca. 60% in staatlicher Hand. Die Behandlung bleibt für die bei der staatlichen Krankenversicherung Versicherten mit Ausnahme der „Praxisgebühr“ unentgeltlich. Grundsätzlich können sämtliche Erkrankungen in staatlichen Krankenhäusern angemessen behandelt werden, insbesondere auch chronische Erkrankungen wie Krebs, Niereninsuffizienz (Dialyse), Diabetes, Aids, Drogenabhängigkeit und psychiatrische Erkrankungen. Wartezeiten in den staatlichen Krankenhäusern liegen bei wichtigen Behandlungen/Operationen in der Regel nicht über 48 Stunden. In vielen staatlichen Krankenhäusern ist es jedoch (nach wie vor) üblich, dass Pflegeleistungen nicht durch Krankenhauspersonal, sondern durch Familienangehörige und Freunde übernommen werden. Durch die zahlreichen Entlassungen nach dem gescheiterten Putschversuch, von denen auch der Gesundheitssektor betroffen ist, kommt es nach Medienberichten gelegentlich zu Verzögerungen bei der Bereitstellung medizinischer Dienstleistungen (vgl. Lagebericht ebenda S. 26). Psychiater praktizieren und elf psychiatrische Fachkliniken mit einer Bettenkapazität von rund 4.000 Plätzen standen im Jahr 2017 zur Verfügung, weitere Betten gibt es in besonderen Fachabteilungen einiger Regionalkrankenhäuser. Auch sind therapeutische Zentren für Alkohol- und Drogenabhängige vorhanden (vgl. Lagebericht ebenda S. 26; zur Behandlung psychischer Erkrankungen auch ebenda Anlage I S. 33 f. sowie Schweizer Flüchtlingshilfe SFH, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 18.8.2016, Behandlung und Pflege einer schizophrenen Person im Südosten der Türkei, S. 2). Die spezialisierte psychiatrische Fachklinik in Elazig deckt die Versorgung von Patienten in Südost- und Ostanatolien ab und verfügt über insgesamt 488 Betten, stationäre psychiatrische Versorgung ist auch in den Universitätskliniken in Gaziantep, Diyarbakir und Sanliurfa gewährleistet (SFH ebenda S. 3). Zum 1. Januar 2012 hat die Türkei eine allgemeine, obligatorische Krankenversicherung eingeführt für alle Personen mit Wohnsitz in der Türkei mit Ausnahmen u.a. für Soldaten/Wehrdienstleistende und Häftlinge. Die obligatorische Krankenversicherung erfasst u. a. Leistungen zur Gesundheitsprävention, stationäre und ambulante Behandlungen und Operationen, Laboruntersuchungen, zahnärztliche Heilbehandlungen sowie Medikamente, Heil- und Hilfsmittel. Unter bestimmten Voraussetzungen sind auch Behandlungen im Ausland möglich. Nicht der Sozialversicherungspflicht unterfallende türkische Staatsbürger mit einem Einkommen von weniger als einem Drittel des Mindestlohns können von der Beitragspflicht befreit werden. Bei einem Einkommen zwischen einem Drittel und dem doppelten Mindestlohn gelten ermäßigte Beitragssätze. Bis Mitte des Jahres 2014 haben sich rund 12 Mio. Türken einer solchen Einkommensüberprüfung unterzogen, für rund 8 Mio. von ihnen hat der Staat die Zahlung der Beiträge übernommen (vgl. Lagebericht, ebenda S. 27). Die für eine gesundheitliche Versorgung mittelloser türkischer Staatsbürger bisher geltenden „Grünen Karten“ (2011: knapp 9 Millionen Inhaber) sind ausgelaufen, ihre Inhaber sollen in die allgemeine Krankenversicherung überwechseln. Für Kinder bis zum Alter von 18 bzw. 25 Jahren, Ehepartner und (Schwieger-)Elternteile ohne eigenes Einkommen besteht die Möglichkeit einer Familienversicherung. Besondere Beitragsregelungen gelten schließlich auch für Bezieher von Alters- und Erwerbsminderungsrenten (vgl. Lagebericht ebenda S. 28).
66
Zwar muss sich der Kläger für diese Leistungen voraussichtlich offiziell mit Wohnsitz in der Türkei anmelden, ggf. aber mit der o.g. Auskunftssperre zu seiner und seiner Familie Schutz.
67
bb) Der Kläger würde im Fall der Abschiebung in die Türkei auch nicht wegen einer Asylantragstellung unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden.
68
Rückkehrerinnen und Rückkehrer werden nach vorliegenden Erkenntnissen keiner unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Strafe unterworfen. Dem Auswärtigen Amt und türkischen Menschenrechtsorganisationen, zu denen die Deutsche Botschaft engen Kontakt unterhält, ist in den letzten Jahren kein Fall bekannt geworden, in dem ein aus Deutschland in die Türkei zurückgekehrter Asylbewerber im Zusammenhang mit früheren Aktivitäten - dies gilt auch für exponierte Mitglieder und führende Persönlichkeiten terroristischer Organisationen - gefoltert oder misshandelt worden ist (vgl. Lagebericht ebenda S. 29). Aufgrund eines Runderlasses des türkischen Innenministeriums dürfen keine Suchvermerke (insbesondere für Wehrdienstflüchtlinge oder zur Fahndung ausgeschriebene Personen) mehr ins Personenstandsregister eingetragen werden; vorhandene Suchvermerke sollen Angaben türkischer Behörden zufolge im Jahr 2005 gelöscht worden sein (vgl. Lagebericht ebenda S. 29). Unbegleitet zurückkehrende Minderjährige finden in der Regel Aufnahme bei Verwandten, sonst im Einzelfall ggf. in einem Waisenhaus oder Kinderheim. in letzterem Fall sollten die zuständigen türkischen Behörden rechtzeitig informiert werden (vgl. Lagebericht ebenda S. 29).
69
In der Türkei finden Einreisekontrollen für alle Personen statt. Bei dieser Personenkontrolle können türkische Staatsangehörige mit einem gültigen türkischen, sie zur Einreise berechtigenden Reisedokument die Grenzkontrolle grundsätzlich ungehindert passieren. Seit dem Putschversuch vom Juli 2016 werden alle türkischen Staatsangehörigen auch auf Inlandsflügen einer fahndungsmäßigen Überprüfung unterzogen. In Fällen von Rückführungen gestatten die Behörden die Einreise nur mit türkischem Reisepass oder Passersatzpapier (vgl. Lagebericht ebenda S. 29). Die Einreisekontrollen wurden bereits im Zuge der Flüchtlingskrise verstärkt, nicht erst seit dem Putschversuch (vgl. Kamil Taylan, Gutachten an das VG Karlsruhe vom 13.1.2017, S. 3), nun aber gezielter mit Listen mutmaßlicher Gülen- oder PKK-Anhänger (Schweizer Flüchtlingshilfe SFH, Schnellrecherche an das VG Karlsruhe vom 17.2.2017, S. 2). Ein abgelehnter kurdischer Asylbewerber läuft bei der Rückkehr nicht Gefahr, allein wegen seiner Volkszugehörigkeit verhaftet zu werden, außer er hat sich für kurdische Rechte oder Organisationen aktiv eingesetzt oder z.B. an pro-kurdischen Demonstrationen teilgenommen (vgl. Kamil Taylan, Gutachten an das VG Karlsruhe vom 13.1.2017, S. 3 f., 28 f.; auch SFH ebenda S. 2, 3, 10 f.).
70
Da der Kläger und seine Ehefrau nach dem Putsch legal und unbehelligt die Türkei verlassen haben, ist nicht beachtlich wahrscheinlich, dass sie mit dem Putsch in Verbindung gebracht würden. Die Einreisekontrollen als solche stellen keine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung dar.
71
Soweit der Kläger meint, wegen der Strafanzeige seines Schwiegervaters oder wegen Internet-Posts gesucht zu werden, ist dies derzeit teils nicht hinreichend plausibel (vgl. oben) und steht einer Rückkehr, ggf. nach Vorbereitung durch den für ihn tätigen Rechtsanwalt (vgl. oben), daher derzeit auch nicht grundsätzlich entgegen.
72
b) Ein Abschiebungsverbot im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 2 ff. AufenthG wegen einer zielstaatsbezogenen erheblichen konkreten Gefahr für Leib oder Leben aus gesundheitlichen Gründen, die eine lebensbedrohliche oder schwerwiegende Erkrankung voraussetzt, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würde, liegt im Fall des Klägers nicht vor.
73
Soweit medizinische Diagnosen vorgelegt wurden, sind diese teils nicht in einer den Anforderungen des § 60a Abs. 2c und Abs. 2d AufenthG entsprechenden Weise fachärztlich geltend gemacht worden (vgl. A. v., Primärtherapeut & Traumatherapeut, Heilpraktiker,, Psychologische Stellungnahme vom 17. Juli 2018; D., Psychologische Psychotherapeutin, Stellungnahme vom 6. November 2019). Ein etwaiger ambulanter oder stationärer Behandlungsbedarf, soweit er aus den klinischen Attesten geschlossen werden kann, stellt keine zielstaatsbezogenen gesundheitlichen Abschiebungshindernisse von Dringlichkeit und Gewicht dar, deren Behandlung akut wäre und die einer Rücküberstellung angesichts des hohen medizinischen Standards in der Türkei (vgl. oben) zielstaatsbezogen entgegenstünden. Eine Medikation mit trizyklischen Antidepressiva oder eine stabilisierende Psychotherapie in türkischer bzw. kurdischer Sprache (vgl. Dr. B., Neurologe, Psychiater, Psychotherapeut, Attest vom 16. Juni 2019; D., Psychologische Psychotherapeutin, Stellungnahme vom 6. November 2019) sind in der Türkei nach der o.g. Auskunftslage jedenfalls verfügbar.
74
Die im Fall einer Abschiebung als möglich eingestufte Suizidalität (vgl. Dr. B., Neurologe, Psychiater, Psychotherapeut, Attest vom 16. Juni 2019; D., Psychologische Psychotherapeutin, Stellungnahme vom 6. November 2019) ist inlands- und nicht zielstaatsbezogen. Eine zielstaatsbezogene erhebliche konkrete Gefahr für Leib oder Leben aus gesundheitlichen Gründen, die eine lebensbedrohliche oder schwerwiegende Erkrankung voraussetzt, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würde, ist aus den o.g. Gründen nicht ersichtlich. Die laufende Behandlung in der Türkei wäre nach der o.g. Auskunftslage in der Türkei erhältlich und auch tatsächlich zugänglich.
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Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gebietet Art. 3 EMRK Staaten, die Drittstaatsangehörige in ihre Heimat abschieben wollen, zwar sicherzustellen, dass den Betroffenen im Zielland keine unmenschliche Behandlung droht. Inlandsbezogene Abschiebungshindernisse nach deutschem Recht wie eine Suizidgefahr können in einer Art. 3 EMRK angemessenen Weise aber dadurch ausgeschlossen werden, dass der abschiebende Staat konkrete Maßnahmen zur Verhinderung eines Selbstmords trifft (vgl. EGMR, E.v. 7.10.2004 - 33743/03 (Dragan u. a./ Deutschland) - NVwZ 2005, S. 1043 ff. juris Rn. 84). Eine Selbstmordgefahr als solche kann daher eine Abschiebung nicht hindern. Hindert eine akute Suizidalität die Abschiebung oder wäre der Betroffene z.B. nicht reisefähig, hat die zum Vollzug berufene Ausländerbehörde hierauf entsprechend zu reagieren. dies aber ist als inlandsbezogenes Abschiebungshindernis nicht vom Bundesamt zu prüfen, im angefochtenen Bescheid auch nicht geprüft worden und daher auch kein Streitgegenstand dieser Klage.
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4. Nachdem sich auch die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes nach § 11 Abs. 1 AufenthG - mangels gegenläufiger schutzwürdiger Belange des Klägers - als rechtmäßig erweist, war die Klage mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1VwGO abzuweisen. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG). Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.