Inhalt

LG Memmingen, Beschluss v. 30.09.2019 – 41 T 991/19
Titel:

Materielle Rechtskraft, Rechtsbeschwerdegrund

Normenketten:
FamFG § 26, § 38 Abs. 3 S. 3, § 48 Abs. 1 S. 1, § 58, § 278 Abs. 1 S. 1
BGB § 1896 Abs. 2 S. 2
Leitsätze:
1. Keine entgegenstehende materielle Rechtskraft einer früheren Ablehnung der Anordnung einer Betreuung bei der Entscheidung über eine wiederholte Anregung des Betroffenen zu einer solchen Anordnung.
2. Auf die Entscheidung über eine wiederholte Anregung des Betroffenen zur Anordnung einer Betreuung ist nicht § 48 Abs. 1 und 2 FamFG anwendbar, weil dort nicht nur eine formelle Rechtskraft, sondern auch eine materielle Rechtskraft der früheren Endentscheidung vorausgesetzt wird.
3. Wiederholte Anregungen des Betroffenen zur Bestellung eines Betreuers kann der Einwand des Rechtsmissbrauchs entgegenstehen, wenn die Anregung evident unberechtigt ist und keinerlei Änderungen der zugrundeliegenden Sach- oder Rechtslage ersichtlich sind.
Schlagworte:
Betreuungsverfahren, Rechtskraft, Anhörung, Betreuungsbedürftigkeit, Wille, Betreuung
Vorinstanz:
AG Neu-Ulm, Beschluss vom 24.06.2019 – XVII 65/19
Fundstellen:
RPfleger 2020, 25
FamRZ 2020, 50
BtPrax 2020, 40
BeckRS 2019, 23575
LSK 2019, 23575

Tenor

1. Der Beschluss des Amtsgerichts Neu-Ulm vom 24.06.2019 (Az. XVII 65/19) wird a u f g e h o b e n .
2. Die Betreuung des Betroffenen wird angeordnet für die Aufgabenkreise:
 Vermögenssorge,
 Vertretung gegenüber Behörden, Versicherungen, Renten- und Sozialleistungsträgern, Zum Betreuer wird bestellt:
Rechtsanwalt (…) als Berufsbetreuer.
Der Zeitpunkt, bis zu dem das Gericht über die Aufhebung oder Verlängerung der Betreuung zu entscheiden hat, wird festgesetzt auf 10. September 2026.
3. Der Geschäftswert des Beschwerdeverfahrens wird auf 5.000,00 Euro festgesetzt.

Gründe

I.
1
Am 17.06.2016 wurde durch die behandelnden Ärzte des Bezirkskrankenhauses Günzburg die Einrichtung einer dauerhaften Betreuung angeregt. Die vom Betreuungsgericht als Sachverständige beauftrage Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. (…) diagnostizierte in ihrem Gutachten vom 13.07.2016 beim Betroffenen eine rezidivierende depressive Störung, derzeit leichte depressive Episode (ICD-10: F33.0) und eine Alkoholabhängigkeit (IDC-10: F10.2) und sah eine Betreuung als sinnvoll an für die Aufgabenbereiche Wohnungsangelegenheiten, Gesundheitsfürsorge, Aufenthaltsbestimmung, Vermögenssorge und Vertretung gegenüber Behörden, Versicherungen, Renten- und Sozialleistungsträgern, sofern der Betroffene nicht eine Person seines Vertrauens bevollmächtigen und sich Hilfestellungen über ambulante Einrichtungen holen könne. Mit Beschluss des Amtsgerichts Neu-Ulm vom 18.07.2017, Az. XVII 299/16, wurde das Verfahren wegen Anordnung einer Betreuung eingestellt und eine Betreuung nicht angeordnet. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass der Betroffene beim ihm in seinem Alter zumutbaren Anstrengungen trotz seiner Erkrankung sämtliche Angelegenheiten rechtlich selbst besorgen könne, nötigenfalls unter Zuhilfenahme seiner Lebensgefährtin, wofür auch die Tatsache spreche, dass er aus eigenem Antrieb bei einer Rechtsanwältin die Eröffnung eines Verbraucherinsolvenzverfahrens angestoßen und eine Rente beantragt habe.
2
Am 30.03.2017 regte die Jugend- und Erwachsenenhilfe (…) gemeinsam mit dem Betroffenen die Anordnung einer Betreuung an. Der Betroffene befindet sich seit dem 01.01.2017 in einer Eingliederungsmaßnahme des ambulant betreuten Wohnens der Jugend- und Erwachsenenhilfe (…), nachdem er vorher ein halbes Jahr in der Fachklinik Hirtenstein in Bolsterlang zur Behandlung seiner Alkoholabhängigkeit und Depression war. Zur Begründung wurde vorgetragen, der Betroffene sei immer noch stark gefährdet, in die Alkoholabhängigkeit wieder abzudriften, verliere schnell den Überblick, sei nicht in der Lage Prioritäten zu setzen bzw. einen Ansatzpunkt zu finden, mit dem er die Lösung der Situation angehen könne und sei trotz der Unterstützung im Rahmen des ambulant betreuten Wohnens in absehbarer Zeit nicht in der Lage, selbst souverän mit Behördenpost und Behördengängen umzugehen. Mit Schreiben vom 06.04.2017 an die Jugend- und Erwachsenenhilfe (…) verwies das Amtsgericht auf die gerichtliche Entscheidung aus dem Jahr 2016 mit Az. XVII 299/16 und lehnte eine erneute Überprüfung ab. Zur Begründung wurde angegeben, dass der Betroffene sich im besten Alter befinde und es dem Betroffenen zumutbar sei, durch die im § 1896 Abs. 2 S. 2 Alt. 2 BGB genannten anderen Hilfen seinen Alltag zu regeln, wie Millionen anderer Menschen in einer vergleichbaren Situation dies auch tun könnten. Das Gericht sei an den Willen des Gesetzgebers im § 1896 Abs. 2 S. 2 Alt. 2 BGB gebunden.
3
Am 18.07.2017 wurde durch die behandelnden Ärzte des Bezirkskrankenhauses Günzburg erneut die Einrichtung einer Betreuung angeregt. Der vom Betreuungsgericht als Sachverständige beauftragte Arzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. (…) stellte die Diagnosen Alkoholabhängigkeit, gegenwärtiger Konsum (ICD-10: F10.24) rezidivierende depressive Störung, aktuell leichte Episode, bei Problemen mit Ausbildung, Wohnung, Arbeitstätigkeit und Finanzen (ICD-10: F33.0, Z59, Z56) und mittelgradige Visusminderung (ICD-10: H53.9). Die vom Betreuungsgericht an den Sachverständigen gerichtete Frage, ob der Betroffene Defizite der Erkenntnisfähigkeit, Willensbildung oder Willenssteuerung aufweise, die erheblich vom Normalmaß abwichen, aber nicht notwendig die freie Willensbildung ausschließen, beantwortete der Sachverständige dahin, dass der Betroffene meist an wenigen Tagen des Monats bezüglich Willensbildung und Willenssteuerung Defizite aufzeige, was insgesamt aber nicht die freie Willensbildung ausschließe. Die weitere Frage des Betreuungsgerichts, ob die Erkrankung oder Behinderung des Betroffenen bereits einen solchen Grad erreiche, dass die Fähigkeit des Betroffenen zur Wahrnehmung seines Selbstbestimmungsrechts ausgeschlossen oder so erheblich beeinträchtigt sei, dass er zu eigenverantwortlichen Entscheidungen im betreffenden Aufgabenbereich nicht mehr in der Lage sei, verneinte der Sachverständige. Ferner bejahte der Sachverständige die Frage, des Betreuungsgerichts, ob der Betroffene eine Person seines Vertrauens aktuell wirksam bevollmächtigen könne, er insofern geschäftsfähig sei und diesbezüglich seinen Willen noch frei bestimmen könne. Ebenfalls bejahte der Sachverständige die Frage des Betreuungsgerichts, ob der Betroffene trotz seiner Erkrankung oder Behinderung dazu fähig sei, andere Hilfe im Sinne des § 1896 Abs. 2 S. 2 Alt. 2 BGB in Anspruch zu nehmen, um so einen Betreuungsbedarf zu decken. Auf die Frage, wie lange eine etwaige rechtliche Betreuung voraussichtlich mindestens/längstens erforderlich sein werde, erklärte der Sachverständige, zur Sortierung der genannten Wohnungs- und Arbeitsprobleme werde ein Zeitraum von einem Jahr empfohlen. Die Betreuungsbehörde befürwortete in ihrer Stellungnahme die Anordnung einer Betreuung. Die Betreuungsbehörde legte dar, dass der Betroffene niemanden habe, den er bevollmächtigen könne. Seine Eltern seien zu alt, wären durch eine Betreuung überfordert und würden in Hessen leben. Gegen die Lebensgefährtin des Betroffenen und ihre Tochter sei der Betroffene handgreiflich geworden, was zu einer Unterbringung des Betroffenen geführt habe. Ferner sei die Lebensgefährtin mit ihren eigenen Problemen überfordert, könne sich nur deshalb über Wasser halten, weil sie finanziell unterstützt werde und sie leide unter Angststörungen. Mit Beschluss vom 21.11.2017, Az. XVII 401/17 hat das Amtsgericht Neu-Ulm das Verfahren wegen Anordnung einer Betreuung eingestellt und eine Betreuung nicht angeordnet. Zur Begründung wird insbesondere angegeben, dass die diagnostizierte rezidivierende depressive Störung mit aktuell leichter Episode nicht die erforderliche gewisse Erheblichkeit habe. Aus den Erkrankungen ergebe sich zudem keine Betreuungsbedürftigkeit, weil der Betroffene zu einer Wahrnehmung seines Selbstbestimmungsrechts nach dem Ergebnis des Sachverständigengutachtens in der Lage sei. Erhebliche Defizite bei der Willensbildung und der Willenssteuerung, die auch für einen medizinischen Laien mit der üblichen Alltagserfahrung augenfällig wären, seien dem Gericht bei der persönlichen Anhörung nicht aufgefallen. Ein weiterer Regelungsbedarf könne durch sonstige Hilfen im Sinne des § 1896 Abs. 2 S. 2 Alt. 2 BGB gedeckt werden. Das Rechtsinstitut der rechtlichen Betreuung sei kein Allheilmittel für alle Probleme des Lebens bzw. für die Personalknappheit bei Behörden oder sonstigen Einrichtungen.
4
Am 28.01.2019 ging eine erneute Anregung zur Bestellung eines Betreuers für den Betroffenen von der Jugend- und Erwachsenenhilfe (…) sowie dem Betroffenen selbst bei Gericht ein. Zur Begründung wurde unter anderem eine Stellungnahme des Betroffenen vom 23.01.2019 (Bl. 6 d. A.), eine Stellungnahme der Betreuerin vom ambulant betreuten Wohnen (…) (Bl,. 7 d. A.) sowie eine Stellungnahme des Geschäftsführers (…) der Jugend- und Erwachsenenhilfe Seitz (Bl. 8 d. A.), ein Befundbericht der Fachärzte der Tagesklinik Suchterkrankungen Ulm für ein Verfahren vor dem Sozialgericht Augsburg (Bl. 9/11 d. A.), ein ärztliches Attest des Facharztes für Psychiatrie, Psychotherapie und Neurologie Dr. (…) des Universitätsklinikums Ulm (Bl. 13 d. A.), ein vorläufiger Entlassbrief des Bezirkskrankenhauses Günzburg vom 26.07.2017 (Bl. 14/17 d. A.) und weitere Arztbriefe des Universitätsklinikums Ulm, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie eingereicht. Wegen des Inhalts wird auf die Stellungnahmen und Berichte Bezug genommen. Im Auftrag des Betreuungsgerichts gab die Betreuungsbehörde des Landratsamtes Neu-Ulm eine Stellungnahme vom 18.02.2019 ab, in der unter anderem darauf hingewiesen wurde, dass die Lebensgefährtin des Betroffenen nicht mehr als Unterstützung zur Verfügung stehe. Wegen der Einzelheiten wird auf die schriftliche Stellungnahme (Bl. 27/28 d. A.) Bezug genommen. Ferner wurde vom Betreuungsgericht ein nervenärztliches Gutachten des Arztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. (…) vom 20.05.2019 erholt. Wegen des Inhalts wird auf das schriftliche Gutachten (Bl. 34/58 d. A.) Bezug genommen.
5
Mit Beschluss vom 24.06.2019 hat das Amtsgericht Neu-Ulm die Wiederaufnahme des Betreuungsverfahrens XVII 401/17 abgelehnt und eine Betreuung weiterhin nicht angeordnet (Bl. 62/65 d. A.). Der Beschluss wurde dem Betroffenen am 26.06.2019 zugestellt.
6
Am 16.07.2019 ging bei Gericht ein Schreiben des Betroffenen vom 11.07.2019 ein, in dem der Betroffene erklärt, er „widerspreche“ dem Beschluss vom 24.06.2019 (Bl. 66 d. A.).
7
Mit Beschluss vom 16.07.2019 hat das Amtsgericht der Beschwerde des Betroffenen nicht abgeholfen und die Sache dem zuständigen Beschwerdegericht zur Entscheidung vorgelegt (Bl. 67/70 d. A.). Die Entscheidung wird im Wesentlichen darauf gestützt, dass keine wesentliche Veränderung gemäß § 48 Abs. 1 S. 1 FamFG vorliege und eine persönliche Anhörung des Betroffenen nicht erforderlich sei, weil das Gericht den Betroffenen bereits im Verfahren XVII 401/17 am 15.11.2017 persönlich angehört habe, ein weiterer Erkenntnisgewinn nicht zu erwarten sei und der Betroffene in der Lage sei, schriftlich Stellung zu nehmen.
8
Die Beschwerdekammer hat den Betroffenen am 10.09.2019 persönlich angehört. Wegen des Ergebnisses wird auf das Anhörungsprotokoll (Bl. 74/75 d.A.) Bezug genommen.
II.
9
Die Beschwerde ist zulässig und begründet.
10
1. Zutreffend hat das Amtsgericht das Schreiben des Betroffenen vom 11.07.2019 als Beschwerde gegen den Beschluss des Amtsgericht Neu-Ulm vom 24.06.2019 ausgelegt. Die Beschwerde ist zulässig (§§ 58 ff. FamFG).
11
2. Die Beschwerde ist begründet, weil sich das Amtsgericht zu Unrecht durch die Rechtskraft des Beschlusses vom 21.11.2017 im Verfahren XVII 401/17 gebunden sah und die Anordnung einer Betreuung von den Voraussetzungen des § 48 FamFG abhängig machte. Der angegriffene Beschluss war aufzuheben und die Betreuung wie ausgesprochen anzuordnen, weil die Voraussetzungen für die Anordnung einer Betreuung gemäß § 1896 BGB vorliegen.
12
a) Der angegriffene Beschluss leidet zunächst an einem formellen Fehler, weil das Betreuungsgericht den Betroffenen nicht wie geboten persönlich angehört hat. Zwar ordnet § 278 Abs. 1 S. 1 FamFG eine persönliche Anhörung nur vor der Bestellung eines Betreuers für den Betroffen an. Die persönliche Anhörung in einem Betreuungsverfahren dient jedoch nicht nur der Gewährung rechtlichen Gehörs, sondern hat vor allem den Zweck, dem Gericht einen unmittelbaren Eindruck von dem Betroffenen zu verschaffen. Ihr kommt damit auch in Fällen, in denen sie nicht durch Gesetz vorgeschrieben ist, eine zentrale Stellung im Rahmen der gem. § 26 FamFG von Amts wegen durchzuführenden Ermittlungen zu (BGH, NJW 2016, 3098 Tz. 16, zitiert nach juris). Nach diesen Grundsätzen war hier das Absehen von der persönlichen Anhörung des Betroffenen durch das Betreuungsgericht vor der Ablehnung einer Betreuungsanordnung am 24.06.2019 rechtsfehlerhaft, weil der Betreuungsrichter den Betroffenen zuletzt am 15.11.2017 und damit 20 Monate vorher persönlich angehört hatte und das Betreuungsgericht eine Entscheidung gegen den Willen des Betroffenen im Widerspruch zu den Empfehlungen der Betreuungsbehörde und der Jugend- und Erwachsenenhilfe (…) sowie den Feststellungen des gerichtlichen Sachverständigen beabsichtigte.
13
b) Rechtsfehlerhaft hat das Amtsgericht eine Sperrwirkung durch die materielle Rechtskraft des Beschlusses des Amtsgerichts Neu-Ulm vom 24.01.2017 im Verfahren XVII 401/17 bejaht. In Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit entfalten Gerichtsentscheidungen nur ausnahmsweise materielle Rechtskraft in echten Streitverfahren oder Verfahren, die ihnen in ihrem Wesen nahe kommen (vgl. BayObLG, FamRZ 1998, 1055 Tz. 10, zitiert nach juris; Engelhardt, in: Keidel, FamFG, 19. Auflage, § 45 Tz. 24 ff.; Bumiller, in: Bumiller, Harders/Schwamb, FamFG, 12. Auflage, § 45 Tz. 7 ff.). In dem Verfahren der rein vorsorgenden Gerichtsbarkeit, wie z.B. in Betreuungssachen ist die materielle Rechtskraft nur zu bejahen, wenn das Interesse an Rechtsfrieden und Rechtssicherheit das Interesse an individueller Gerechtigkeit und ständiger Korrekturmöglichkeit überwiegt (Engelhardt, aaO. Tz. 26). Nach diesen Grundsätzen erwächst ein Beschluss, mit dem ein Verfahren wegen Anordnung einer Betreuung eingestellt wird, nicht in materieller Rechtskraft. Eine Entscheidung über die Anordnung einer Betreuung weist keine Nähe zu einem kontradiktorischen Parteienstreit auf, in dem das Interesse an einer endgültigen Befriedung hohe Bedeutung hat. Obwohl erstinstanzlich Entscheidungen in Betreuungssachen nach Ablauf der Beschwerdefrist formell rechtskräftig werden (§§ 63, 45 FamFG), entfalten sie jedenfalls dann keine materielle Rechtskraft, wenn es sich wie hier um ein Amtsverfahren handelt, in dem sich als Beteiligte nur der Betroffene und das Gericht gegenüberstehen. Die formelle Rechtskraft bewirkt in derartigen Verfahren nur, dass nach Ablauf der Beschwerdefrist eine Beschwerde nicht mehr zulässig eingelegt werden kann. Sie berechtigt das Betreuungsgericht aber nicht, eine spätere gleichlautende Anregung auf Anordnung einer Betreuung ohne Sachprüfung abzulehnen.
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Wiederholten Anregungen zur Bestellung eines Betreuers steht in Verfahren wie dem Vorliegenden vielmehr nur der Einwand des Rechtsmissbrauchs entgegen, wenn die Anregung evident unberechtigt ist und keinerlei Änderungen der zugrundeliegenden Sach- oder Rechtslage ersichtlich sind. Diese Voraussetzungen liegen hier nicht vor, weil bereits der Beschluss des Amtsgerichts Neu-Ulm vom 06.11.2017 auf Rechtsfehlern beruht und seither eine Änderung der Sachlage insofern eingetreten ist, als der Betroffene nicht mehr mit seiner Lebensgefährtin zusammen wohnt und daher nicht mehr über deren Unterstützung verfügt.
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c) Das Amtsgericht durfte eine Anordnung einer Betreuung auch nicht von den Voraussetzungen des § 48 Abs. 1 FamFG für eine Abänderung der früheren Entscheidung oder den Voraussetzungen des § 48 Abs. 2 FamFG i.V.m. den Vorschriften des Buches IV der Zivilprozessordnung für eine Wiederaufnahme des Verfahrens abhängig machen. Diese Vorschriften setzen nicht nur eine formelle Rechtskraft, sondern auch eine materielle Rechtskraft einer früheren Endentscheidung mit Dauerwirkung voraus, woran es hier wie bereits dargelegt fehlt.
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d) Hier war die Betreuung wie ausgesprochen anzuordnen gemäß § 1896 BGB.
17
Der Betroffene leidet an einer psychischen Krankheit im Sinne von § 1896 Abs. 1 S. 1 BGB. Alle vom Betreuungsgericht beauftragten Sachverständigen bescheinigten dem Betroffenen in Übereinstimmung mit den Stellungnahmen seiner behandelnden Ärzte nicht nur eine Alkoholabhängigkeit, sondern auch eine rezidivierende depressive Störung und damit eine psychische Krankheit. Zu Unrecht fordert das Amtsgericht im Beschluss vom 21.06.2017, Az. XVII 401/17, an das sich das Amtsgericht in seiner durch die vorliegende Beschwerde angegriffenen Entscheidung vom 24.06.2019 gebunden sieht, für ein neben der Alkoholabhängigkeit bestehendes geistiges Gebrechen, eine derartige Erheblichkeit, dass das geistige Gebrechen gegenüber der Alkoholabhängigkeit in den Vordergrund rückt. Richtig ist vielmehr lediglich, dass eine Betreuungsanordnung nicht allein auf eine Alkoholabhängigkeit gestützt werden kann (vgl. BGH, FamRZ 2016, 807 Tz. 7). Aus dem vom Betreuungsgericht eingeholten Sachverständigengutachten ergibt sich zudem auch nicht, dass die Depression gegenüber der Alkoholabhängigkeit völlig in den Hintergrund tritt. Vielmehr enthält das Sachverständigengutachten von Dr. (…) auf Seite 17 f. die Feststellung, der Alkoholkonsum werde episodisch fortgesetzt, wobei sich retrospektiv nicht klären lasse, ob es sich bei dem Alkoholgebrauch zumindest teilweise um einen dysfunktionalen Selbstbehandlungsversuch einer vorbestehenden rezidivierenden depressiven Störung handelt, oder ob sich die depressive Störung erst im Zusammenhang mit dem Alkoholübergebrauch und daraus resultierenden psychosozialen Schwierigkeiten entwickelt hat.
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Ferner besteht auch eine Betreuungsbedürftigkeit. Aus den im wesentlichen übereinstimmenden Feststellungen aller bisher vom Betreuungsgericht beauftragten Sachverständigen, den Berichten der Mitarbeiter der Jugend- und Erwachsenenhilfe (…), wo sich der Betroffene seit dem 01.01.2017 im ambulant betreuten Wohnen für Menschen mit seelischer Behinderung befindet, den Stellungnahmen der Betreuungsbehörde sowie den Angaben des Betroffenen in der persönlichen Anhörung durch die Beschwerdekammer ist der Betroffene nicht in der Lage, selbständig die notwendige Korrespondenz mit dem Jobcenter, der Deutschen Rentenversicherung, dem Gericht, insbesondere im Hinblick auf sein Privatinsolvenzverfahren zu erledigen und die erforderlichen Termine bei den Behörden, den Gerichten und den Ärzten wahrzunehmen. Die Kammer stimmt zwar dem Amtsgericht insofern zu, als die Begleitung zu Arztterminen nicht in den Aufgabenbereich eines rechtlichen Betreuers, sondern der Mitarbeiter des ambulant betreuten Wohnens fällt. Die rechtliche Vertretung gegenüber Behörden und Gerichten gehört jedoch zum Aufgabenbereich eines rechtlichen Betreuers gemäß § 1896 BGB.
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Rechtsfehlerhaft machte das Amtsgericht in seinem Beschluss vom 21.11.2017, Az. XVII 401/17, die Anordnung einer Betreuung davon abhängig, ob der Betroffene „zu einer Wahrnehmung seines Selbstbestimmungsrechts nicht mehr selbständig in der Lage“ ist. Betreuungsbedürftigkeit erfordert nach § 1896 Abs. 1 S. 1 BGB lediglich, dass der Betroffene seine Angelegenheiten ganz oder teilweise aufgrund seiner Erkrankung nicht besorgen kann. Ob der Betroffene über einen freien Willen verfügt, ist lediglich für eine Zwangsbetreuung gemäß § 1896 Abs. 1a BGB entscheidungserheblich, nicht jedoch, wenn wie hier, der Betroffene selber die Betreuung wünscht.
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Rechtsfehlerhaft verneinte das Amtsgericht ferner eine Betreuungsbedürftigkeit gemäß § 1896 Abs. 2 S. 2 BGB. Diese Norm lässt die Erforderlichkeit der Betreuung nur bei Vorliegen einer konkreten Alternative entfallen. Daher ist das Vorliegen der Geschäftsfähigkeit des Betroffenen und die damit einhergehende rechtliche Möglichkeit der Bevollmächtigung nicht ausreichend. Vielmehr muss es auch tatsächlich mindestens eine Person geben, welcher der Betroffene das für eine Vollmachtserteilung nötige Vertrauen entgegenbringt und die zur Übernahme der anfallenden Aufgaben als Bevollmächtigter bereit und in der Lage ist (BGH, FamRZ 2018, 54 Tz. 21). Daran fehlt es hier. Die Eltern des Betroffenen sind wegen ihres Alters, der großen Entfernung ihres Wohnorts vom Aufenthaltsort des Betroffenen, der Demenz des Vaters und der nicht festgestellten Eignung der Mutter nicht geeignet. Die Lebensgefährtin des Betroffenen ist nach den Feststellungen der Betreuungsbehörde selbst psychisch belastet und daher nicht geeignet, was sich insbesondere aus dem Bericht der Betreuungsbehörde vom 13.11.2017 ergibt. Die Betreuung der Jugend- und Erwachsenenhilfe (…) im Rahmen des ambulant betreuten Wohnens für Menschen mit seelischer Behinderung kann nicht als eine andere Hilfe im Sinne von § 1896 Abs. 2 S. 2 Alt. 2 BGB angesehen werden, durch die die Angelegenheiten des Betroffenen auch ohne die Bestellung eines gesetzlichen Vertreters ebenso gut wie durch einen Betreuer besorgt werden könnten. Überzeugend erscheint die Darlegung des Geschäftsführers der Jugend- und Erwachsenenhilfe (…) in seiner Stellungnahme vom 21.01.2019 (Bl. 8 d. A.) sowie des für den Betroffenen zuständigen Krankenpflegers (…) in der Anhörung durch die Kammer, dass der Betroffene selber insbesondere in akuten Phasen der Depression handlungs- und entscheidungsunfähig sei und daher nicht nur eine Unterstützung zur Erledigung seiner rechtlichen Angelegenheiten brauche, sondern einen rechtlichen Vertreter. Im Übrigen erscheint auch die Darstellung der Mitarbeiter der Jugend- und Erwachsenenhilfe (…) überzeugend, dass der Umfang und die Schwierigkeit der vom Betroffenen zu erledigenden Angelegenheiten in verschiedenen Verfahren vor den Behörden und den Gerichten deutlich über das hinaus gehen, was die Betreuer im ambulant betreuten Wohnen zu leisten verpflichtet und in der Lage sind. Der für den Betroffenen bei der Jugend- und Erwachsenenhilfe (…) zuständige Betreuer (…) erklärte gegenüber der Kammer, er könne eine rechtliche Betreuung nicht übernehmen, weil er Krankenpfleger und zur Übernahme einer rechtlichen Betreuung nicht befugt sei.
21
Somit war hier ein Berufsbetreuer zu bestellen. Bei der Auswahl ist das Gericht dem bedenkenfreien Vorschlag des Betroffenen gefolgt. Die Bestimmung der Aufgabenkreise beruht auf der Beurteilung des Sachverständigen Dr. (…), dem Ergebnis der persönlichen Anhörung des Betroffenen durch die Beschwerdekammer und den Berichten der Jugend- und Erwachsenenhilfe Seitz sowie der Betreuungsbehörde, wonach derzeit ein konkreter Betreuungsbedarf bei der Regelung der finanziellen Angelegenheiten und der diesbezüglichen Vertretung gegenüber Behörden, Banken und Gerichten besteht. Insbesondere für Aufenthaltsbestimmung und Gesundheitssorge wurde kein Bedarf für eine rechtliche Betreuung festgestellt. Die Überprüfungsfrist wurde auf die höchstens gem. § 294 Abs. 3 FamFG zulässige Frist festgesetzt aufgrund der Feststellung des Sachverständigen (…) auf Seite 23 seines schriftlichen Gutachtens vom 20.05.2019, die Krankheit des Betroffenen habe bereits einen chronischen Verlauf genommen und es sei anzunehmen, dass der Hilfsbedarf im Verlauf eher zunehmen werde.
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3) Eine Kostenentscheidung gemäß § 81 FamFG war hier nicht geboten.
23
4) Der Geschäftswert für das Beschwerdeverfahren bestimmt sich nach §§ 79 Abs. 1 S. 1, 36 Abs. 2, 3 GNotKG.