Inhalt

LG Nürnberg-Fürth, Beschluss v. 21.08.2019 – 18 Qs 33/19
Titel:

Nachholung der gebotenen Anhörung im Falle einer faktischen Auswechslung des Haftgrundes

Normenkette:
StPO § 112 Abs. 2 Nr. 1, Nr. 2, § 114 Abs. 2 Nr. 3, Nr. 4, § 115 Abs. 3, § 309 Abs. 2
Leitsätze:
1. Die Auswechslung des Haftgrundes (hier: Flucht gegen Fluchtgefahr) erfordert zwingend eine mündliche Anhörung des Betroffenen. Unterbleibt ein ausdrücklicher Hinweis auf die mögliche Änderung, weil der Haftrichter irrtümlich annimmt, der bestehende Haftbefehl sei bereits auf den neuen Haftgrund gestützt, so ist die Anhörung im Zweifel selbst dann defizitär, wenn der Betroffene sich gleichwohl zu Umständen äußert, die (auch) die Voraussetzungen des neuen Haftgrundes betreffen. (Rn. 10 und 11)
2. Hilft der Haftrichter im fortbestehenden Irrtum über den Inhalt des Haftbefehls einer Haftbeschwerde des Betroffenen nicht ab, kann das Beschwerdegericht den wesentlichen Verfahrensmangel einer (weiterhin) unterbliebenen Anhörung zum neuen Haftgrund zum Anlass nehmen, ausnahmsweise isoliert die Nichtabhilfeentscheidung aufzuheben und die Sache zur ergänzenden Vernehmung des Betroffenen und anschließenden erneuten Entscheidung über die Abhilfe an die Ausgangsinstanz zurückzugeben. (Rn. 11 und 12)
Schlagworte:
Angeklagter, Nachholung, Anhörung, Auswechslung, Haftgrund, Fluchtgefahr, Haftbefehl, Haftentscheidung, Nichtabhilfeentscheidung, Untersuchungshaft, Verfahrensmangel, Zurückverweisung
Vorinstanz:
AG Erlangen vom 14.08.2019 – 1 Ds 901 Js 141590/19
Fundstellen:
BeckRS 2019, 19859
LSK 2019, 19859
wistra 2020, 40

Tenor

1. Die Nichtabhilfeentscheidung des Amtsgerichts Erlangen vom 14.08.2019, Az. 1 Ds 901 Js 141590/19, wird aufgehoben.
2. Die Sache wird an das Amtsgericht Erlangen zur Ergänzung der Vernehmung des Angeklagten und zur anschließenden erneuten Entscheidung über die Abhilfe zurückgegeben.

Gründe

I.
1
Gegen den Angeklagten A. besteht Haftbefehl des Amtsgerichts Erlangen vom 27.03.2019, Gz. 9 Gs 164/19, gestützt auf den dringenden Tatverdacht der (vorsätzlichen) Körperverletzung in zwei Fällen (Tatzeit: 19.01.2019) und den Haftgrund der Flucht.
2
Aufgrund des Haftbefehls wurde der Angeklagte festgenommen und am 01.07.2019 dem Ermittlungsrichter des Amtsgerichts Erlangen vorgeführt. Dieser eröffnete dem Angeklagten den Haftbefehl und hörte ihn sodann an. Eine anschließende ausdrückliche Anordnung der Aufrechterhaltung des Haftbefehls und des Vollzugs der Untersuchungshaft unterblieb.
3
Mit Anklageschrift vom 08.07.2019, bei Gericht eingegangen am 09.07.2019, erhob die Staatsanwaltschaft in vorliegender Sache Anklage zum Amtsgericht Erlangen.
4
Mit Beschluss des Amtsgerichts Erlangen vom 30.07.2019 wurde die Anklage vom 08.07.2019 zur Hauptverhandlung zugelassen, das Hauptverfahren eröffnet und Haftfortdauer mit der Begründung angeordnet, dass „die bisherigen Haftgründe zutreffen und fortbestehen“.
5
Mit Schriftsatz seines Verteidigers vom 09.08.2019, bei Gericht eingegangen am gleichen Tage, hat der Angeklagte Beschwerde gegen den Haftbefehl eingelegt und beantragt, diesen aufzuheben oder - hilfsweise - außer Vollzug zu setzen. Zur Begründung wird ausgeführt, dass das „Vorliegen von Haftgründen“ zu Unrecht angenommen werde, weil er (der Angeklagte) freiwillig zur Beschuldigtenvernehmung erschienen sei, einen festen Wohnsitz habe und enge soziale Bindungen zu seiner Lebensgefährtin und deren Tochter unterhalte.
6
Das Amtsgericht hat der Beschwerde mit Beschluss vom 14.08.2019 unter Bezugnahme auf den Haftbefehl und die „dort genannten“, „weiterhin zutreffenden“ Gründe nicht abgeholfen.
7
Die Staatsanwaltschaft hat die Verwerfung des Rechtsmittels als unbegründet beantragt.
8
Termin zur Hauptverhandlung ist zwischenzeitlich auf den 27.08.2019 bestimmt worden.
II.
9
Die Sache ist nicht entscheidungsreif. Der Haftbefehl vom 27.03.2019 gründet sich (nur) auf den Haftgrund der Flucht (§ 112 Abs. 2 Nr. 1 StPO). Dieser Haftgrund ist mit der Ergreifung des Angeklagten freilich unzweifelhaft entfallen. Das Amtsgericht und die Staatsanwaltschaft gehen ersichtlich - ohne dies allerdings ausdrücklich aktenkundig gemacht zu haben - davon aus, dass statt dessen nun der Haftgrund der Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO) besteht. Die Kammer kann sich nach Aktenlage indes nicht davon überzeugen, dass der Angeklagte zu einer Auswechslung des Haftgrundes in der gebotenen Weise angehört worden ist.
10
Zwar hat sich der Angeklagte im Anhörungstermin vom 01.07.2019 und in der Beschwerdebegründung zu seinen aktuellen Wohn- und Lebensverhältnissen geäußert. Diese Ausführungen zielen jedoch unter den gegebenen Umständen - nicht ausschließbar - darauf ab, die Annahme zu erschüttern, er sei auf der Flucht gewesen und habe so den vom Gericht (einzig) herangezogenen Haftgrund geschaffen. Eine weitergehende Stellungnahme zum etwaigen Eingreifen eines anderen Haftgrundes war gar nicht veranlasst, solange die Möglichkeit einer Auswechslung des Haftgrundes nicht thematisiert wurde. Diese Möglichkeit ist bis heute nicht offiziell eingeführt worden, denn der Ermittlungsrichter hatte am 01.07.2019 eine ausdrückliche Anhörung hierzu sowie die - gebotene - Abänderung der Haftentscheidung unterlassen und der Strafrichter hat sowohl im Eröffnungs- als auch im Nichtabhilfebeschluss, jeweils formal eindeutig, auf die „weiterhin zutreffenden“ Haftgründe - also auf eine vermeintlich fortbestehende Flucht - verwiesen.
11
Die Auswechslung des Haftgrundes erfordert eine vorherige diesbezügliche Anhörung im Sinne des § 115 Abs. 3 StPO (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Aufl., § 115 Rn. 12 i.V.m. § 114 Rn. 18). Die Zurückverweisung einer Beschwerdesache kann ausnahmsweise erfolgen, wenn dadurch das Verfahren beschleunigt wird oder das Beschwerdegericht an einer sofortigen Sachentscheidung gehindert ist. Beides ist hier der Fall, weil die unterbliebene zielgerichtete Anhörung des Angeklagten zu den Umständen, die eine Fluchtgefahr begründen könnten, zunächst nachzuholen ist. Im Beschwerdeverfahren findet eine mündliche Anhörung regelmäßig nicht statt (vgl. BGH, Beschluss vom 05.05.1995 - StB 15/95 -, NStZ 1995, 610; KG, Beschluss vom 11.12.1998 - 5 Ws 672/98 -, NJW 1999, 1797; Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 309 Rn. 8).
12
Die Kammer macht deshalb von der Möglichkeit einer Zurückverweisung Gebrauch. Das Amtsgericht erhält damit zugleich die erforderliche Gelegenheit, im Zuge der erneuten Befassung den bestehenden Haftbefehl - sollte es den seinen Haftentscheidungen „inoffiziell“ bereits zugrunde gelegten Haftgrund der Fluchtgefahr nach der Anhörung weiterhin bejahen - durch Abänderung der Fassung vom 27.03.2019 im Wortlaut ausdrücklich anzupassen.
III.
13
Eine Kostenentscheidung ist - derzeit - nicht veranlasst.