Inhalt

VG München, Beschluss v. 04.06.2019 – M 10 S 18.5630
Titel:

Keine Fiktionswirkung wegen verspätet gestellten Antrags auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis

Normenketten:
AufenthG § 51 Abs. 1 Nr. 1, § 81 Abs. 4 S. 1, 3, § 84 Abs. 1 S. 1 Nr. 1
VwGO § 80 Abs. 5
Leitsatz:
Die Fiktionswirkung des § 81 Abs. 4 S. 1 AufenthG setzt voraus, dass der Ausländer vor Ablauf seines Aufenthaltstitels dessen Verlängerung beantragt hat. Eine unbillige Härte, die es der Ausländerbehörde ermöglicht, bei verspätet gestelltem Antrag die Fortgeltungswirkung anzuordnen, liegt nur vor, wenn die Frist zur Antragstellung nur geringfügig und lediglich infolge Fahrlässigkeit überschritten worden ist (Rn. 16 – 18). (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Antrag auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis, Um 3 Monate verspätete Antragstellung, Keine unbillige Härte, Keine Fiktionswirkung, Unstatthafter Eilantrag, Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis, Minderjähriger, Fiktionswirkung, unbillige Härte, Fortgeltungswirkung, vorläufiger Rechtsschutz, Rechtsschutzbedürfnis
Rechtsmittelinstanz:
VGH München, Beschluss vom 17.07.2019 – 10 CS 19.1212
Fundstelle:
BeckRS 2019, 17440

Tenor

I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.
III. Der Streitwert wird auf EUR 2.500,-- festgesetzt.

Gründe

I.
1
Der Antragsteller begehrt die aufschiebende Wirkung seiner Klage gegen die Ablehnung einer Aufenthaltserlaubnis.
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Der am … Dezember 1999 geborene Antragsteller ist mazedonischer Staatsangehöriger albanischer Volkszugehörigkeit. Er reiste im Jahr 2011 im Alter von 11 Jahren im Rahmen des Familiennachzugs mit Mutter und drei Geschwistern zum Vater in die Bundesrepublik Deutschland ein. Ihm wurde erstmals am 5. September 2011 eine befristete Aufenthaltserlaubnis erteilt, die zuletzt bis zum 22. April 2017 verlängert wurde. Die erneute Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis wurde von seinen Eltern am 11. Juli 2017 bei der Antragsgegnerin beantragt.
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Mit Urteil des Landgerichts München I vom 2. Mai 2018 wurde der Antragsteller wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Jugendstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Er hatte bei einem Streit am Abend des 11. April 2017 einen anderen mit einem Messer bedroht und durch einen Stich in den linken Brustkorb in den Lungenflügel so verletzt, dass es bei diesem zu einem Pneumothorax kam. Nach den Feststellungen des Strafurteils war die Stichverletzung so erheblich, dass der Geschädigte hieran gestorben wäre, wenn nicht rechtzeitig Rettungskräfte eingetroffen wären und durch eine Notoperation den Verletzten gerettet hätten. Auf die Gründe des Strafurteils wird Bezug genommen. Der Antragsteller befand sich seit dem 11. April 2017 in Untersuchungshaft. Am 2. Juni 2018 wurde er aus der Haft entlassen, mit Beschluss des Amtsgerichts München vom 31. August 2018 wurde der Rest der Jugendstrafe zur Bewährung auf drei Jahre ausgesetzt.
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Nach vorheriger Anhörung wurde der Antragsteller mit Bescheid der Antragsgegnerin vom 16. Oktober 2018 aus der Bundesrepublik Deutschland ausgewiesen (Nr. 1 des Bescheids), sein Antrag auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis vom 11. Juli 2017 wurde abgelehnt (Nr. 2), das Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde unter der Bedingung, dass Straffreiheit nachgewiesen werde, auf vier Jahre beginnend mit der Ausreise befristet und für den Fall der Nichterfüllung der Bedingung auf sechs Jahre befristet (Nr. 3) und ihm eine Ausreisefrist bis 19. November 2018 unter Androhung der Abschiebung nach Mazedonien gesetzt (Nr. 4). Auf die Begründung des Bescheids wird Bezug genommen.
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Mit Schriftsatz vom 1. November 2018, beim Verwaltungsgericht München eingegangen am 16. November 2018, hat der Antragsteller Klage gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 16. Oktober 2018 erhoben (Az. M 10 K 18.5628) und zugleich beantragt,
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die aufschiebende Wirkung dieser Klage gegen die in Nr. 4 des angefochtenen Bescheids enthaltene Abschiebungsandrohung anzuordnen.
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Die Ausweisung sei zu Unrecht erfolgt. Es liege schon keine gegenwärtige Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung vor, da vom Antragsteller keine Wiederholungsgefahr ausgehe. Bei der Prognose, ob eine Wiederholung vergleichbarer Straftaten mit hinreichender Wahrscheinlichkeit drohe, seien die besonderen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Tat, die Umstände ihrer Begehung, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts sowie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt. Das Landgericht München I habe in seinem Urteil ausdrücklich festgestellt, dass es sich bei der Tat des Antragstellers um eine Affekttat aus einem psychischen Ausnahmezustand heraus gehandelt habe. Das Amtsgericht München habe im Beschluss zur Aussetzung der Reststrafe auf Bewährung festgestellt, dass vom Antragsteller keine Wiederholungsgefahr ausgehe. Auch aus der Persönlichkeit des Antragstellers ergebe sich, dass eine Wiederholungsgefahr nicht bestehe. Die Antragsgegnerin habe keine substanzielle Begründung dafür gegeben, warum sie anders als die Strafgerichte eine Wiederholungsgefahr sehe. Auf die weitere eingehende Begründung wird Bezug genommen.
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Die Antragsgegnerin beantragt,
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den Eilantrag abzuweisen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte und die beigezogene Behördenakte Bezug genommen.
II.
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Der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO, die aufschiebende Wirkung der erhobenen Klage gegen die in Nr. 4 des angefochtenen Bescheids enthaltene Abschiebungsandrohung anzuordnen, hat keinen Erfolg. Er ist mangels Rechtsschutzbedürfnisses bereits unzulässig.
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Der Antragsteller verfolgt mit seinem Antrag das Rechtschutzziel, seine Ausreisepflicht auszusetzen. Im vorliegenden Fall ergibt sich die vollziehbare Ausreisepflicht nicht aus der angeordneten Ausweisung, da die erhobene Klage hinsichtlich der Ausweisung aufschiebende Wirkung entfaltet, § 84 Abs. 1 und 2 AufenthG; insoweit wurde ausdrücklich von der Anordnung des Sofortvollzugs abgesehen (II.7. der Bescheidsgründe).
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Die grundsätzlich bestehende aufschiebende Wirkung einer Klage (§ 80 Abs. 1 Satz 1 VwGO) besteht nach § 84 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG jedoch nicht für Klagen gegen die Ablehnung eines Antrags auf Erteilung oder Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis. Ein Kläger ist insoweit auf die Anordnung des Gerichts nach § 80 Abs. 5 VwGO verwiesen, um die sofort vollziehbaren Rechtswirkungen der Ablehnung, insbesondere die Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht, zu suspendieren. Nach § 58 Abs. 2 AufenthG richtet sich die Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht grundsätzlich nach der Vollziehbarkeit der Ablehnung eines Antrags auf Aufenthaltserlaubnis. Es gibt jedoch auch Fälle, in denen der Antragsteller bereits aus anderen Gründen ausreisepflichtig ist. Ein Antrag bei Gericht nach § 80 Abs. 5 VwGO hat demnach nur ein Rechtsschutzbedürfnis, wenn der Antragsteller sein Ziel, die Ausreisepflicht auszusetzen, damit überhaupt erreichen kann und nicht unabhängig von der gerichtlichen Entscheidung über die Ablehnung seines Antrags auf Aufenthaltserlaubnis bereits ausreisepflichtig ist.
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Letzteres ist beim Antragsteller der Fall: Unabhängig von der Ablehnung der Aufenthaltserlaubnis ist er ausreisepflichtig. Das Gericht kann somit die Rechtsstellung des Antragstellers selbst dann nicht verbessern, wenn es die aufschiebende Wirkung der Klage anordnen würde.
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Der Antragsteller bedarf für den weiteren Aufenthalt im Bundesgebiet eines Aufenthaltstitels, § 4 Abs. 1 AufenthG. Der Antragsteller war seit dem 5. September 2011 bis zuletzt zum 22. April 2017 im Besitz einer befristeten Aufenthaltserlaubnis. Der erteilte Aufenthaltstitel war nach § 51 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG mit Ablauf seiner Geltungsdauer erloschen. Seit diesem Zeitpunkt ist der Antragsteller nach § 50 Abs. 1 AufenthG zur Ausreise verpflichtet, da er einen erforderlichen Aufenthaltstitel nicht mehr besitzt und auch sonst kein Aufenthaltsrecht besteht.
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Der Antragsteller kann sich nicht bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache über die beantragte Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis darauf berufen, dass der bisherige Aufenthaltstitel vom Zeitpunkt seines Ablaufs bis zur Entscheidung der Ausländerbehörde als fortbestehend gilt, § 81 Abs. 4 Satz 1 AufenthG. Diese sogenannte Fiktionswirkung, über die nach § 81 Abs. 5 AufenthG eine Fiktionsbescheinigung auszustellen ist, konnte im vorliegenden Fall nicht eintreten. Denn diese Fiktionswirkung setzt voraus, dass der Ausländer vor Ablauf seines Aufenthaltstitels dessen Verlängerung beantragt hat. Dies war nicht der Fall. Der Antrag auf Verlängerung der befristeten Aufenthaltserlaubnis wurde von den Eltern des Antragstellers erst am 11. Juli 2017 bei der Antragsgegnerin gestellt (Bl. 120 der Behördenakte).
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Der Antragsteller kann sich auch nicht auf die Härtefallregelung des § 81 Abs. 4 Satz 3 AufenthG berufen. Danach kann die Ausländerbehörde bei einer verspäteten Beantragung der Verlängerung eines Aufenthaltstitels zur Vermeidung einer unbilligen Härte die Fortgeltungswirkung anordnen. Eine derartige Fortgeltungswirkung wurde von der Antragsgegnerin gerade nicht ausgesprochen. Zudem ist auch keine unbillige Härte infolge der Versäumung der rechtzeitigen Verlängerungsbeantragung ersichtlich, unabhängig davon, ob dies überhaupt Auswirkungen auf die Statthaftigkeit des Antrags nach § 80 Abs. 5 VwGO hätte.
18
Mit Klage und Eilantrag wurden weder das Vorliegen einer unbilligen Härte behauptet, geschweige denn begründet. Eine unbillige Härte liegt nur vor, wenn die Frist zur Antragstellung nur geringfügig und lediglich infolge Fahrlässigkeit überschritten worden ist. Dazu hat der Ausländer Tatsachen vorzutragen und glaubhaft zu machen, die belegen, warum eine rechtzeitige Antragstellung nicht möglich war oder die Fristüberschreitung lediglich auf Fahrlässigkeit beruhte (vgl. BayVGH, B.v. 21.9.2016 - 10 ZB 16.1296 - juris Rn. 8). Die fast dreimonatige Fristüberschreitung bis zur Antragstellung (am 11.7.2017) nach Ablauf der Aufenthaltserlaubnis (am 22.4.2017) ist nicht kurzfristig. Auch liegen keine Anhaltspunkte für eine fahrlässige Fristüberschreitung vor. Zwar war der Antragsteller selbst in dem fraglichen Zeitraum in Untersuchungshaft. Da er in diesem Zeitraum jedoch noch minderjährig und damit nicht nach § 80 Abs. 1 AufenthG fähig zur Vornahme von Verfahrenshandlungen war, waren nach § 80 Abs. 4 seine gesetzlichen Vertreter - also seine Eltern - u.a. verpflichtet, für ihn die erforderlichen Anträge auf Verlängerung des Aufenthaltstitels zu stellen. Die Eltern, insbesondere der Vater, mussten auch wissen, dass dem Antragsteller in der Vergangenheit die Aufenthaltserlaubnis jeweils nur befristet ausgestellt worden war und deshalb die Notwendigkeit eines Verlängerungsantrags vor Ablauf der Befristung bestand. Aus den vorgelegten Behördenakten ergibt sich, dass jeweils der Vater in der Vergangenheit verschiedentlich Verlängerungsanträge gestellt hatte.
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Da sich der Antragsteller somit bereits seit dem 22. April 2017 unerlaubt im Bundesgebiet aufhielt und ab diesem Zeitpunkt ausländerrechtlich auch zur Ausreise verpflichtet war (was aufgrund der angeordneten Untersuchungshaft tatsächlich nicht möglich war) und er sich nicht auf die Fiktionswirkung des verspätet gestellten Verlängerungsantrags berufen kann, ist der gestellte Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO unstatthaft.
20
Kosten: § 154 Abs. 1 VwGO.
21
Streitwertfestsetzung: § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1 GKG i.V.m. Streitwertkatalog.