LG München I, Urteil v. 27.10.2022 – 7 O 10295/22
Titel:

Vermutungswirkung für den Rechtsbestand des Verfügungspatents

Normenketten:
EPÜ Art. 64 Abs. 1, Abs. 3
PatG § 139 Abs. 1 S. 1
ZPO § 935, § 940
Leitsätze:
1. Für Europäische Patente streitet ab dem Zeitpunkt der Veröffentlichung ihrer Erteilung eine Vermutung der Gültigkeit. Für die im Rahmen des Verfügungsgrundes vorzunehmende Prüfung des hinreichend gesicherten Rechtsbestands des Verfügungspatents bedeutet dies, dass aufgrund der Vermutung der Gültigkeit zunächst von einem gesicherten Rechtsbestand auszugehen ist und es im zweiseitigen einstweiligen Verfügungsverfahren dem Antragsgegner/Verfügungsbeklagten obliegt, diese Vermutung zu erschüttern (Fortführung von LG München I GRUR 2022, 1808 (1810 f.) - Fingolimod). (Rn. 61) (redaktioneller Leitsatz)
2. Durch die Vorlage einer für den Bestand des geltend gemachten Patentanspruchs (vorläufigen) negativen Einschätzung aus dem Bestandsverfahren wird die Vermutung der Gültigkeit regelmäßig erschüttert. Dies gilt grundsätzlich auch für (vorläufige) negative Einschätzungen aus inländischen oder ausländischen Bestandsverfahren betreffend Parallelschutzrechte, die dieselbe Priorität in Anspruch nehmen (Fortführung von LG München I GRUR 2022, 1808 (1811) - Fingolimod). (Rn. 61) (redaktioneller Leitsatz)
3. Hat der Antragsgegner/Verfügungsbeklagte erhebliche Gründe, die zur Überzeugung des Gerichts eine überwiegende Wahrscheinlichkeit der Vernichtung des Verfügungspatents begründen, vorgetragen und gegebenenfalls glaubhaft gemacht und mithin die Vermutung der Gültigkeit erschüttert, obliegt es wiederum dem Antragsteller/Verfügungskläger darzulegen und gegebenenfalls glaubhaft zu machen, dass der Rechtsbestand des Verfügungspatents trotz der hiergegen erhobenen Angriffe hinreichend gesichert ist. Im Falle des Vorliegens (vorläufiger) negativer Einschätzungen aus in- oder ausländischen Bestandsverfahren ist vom Antragsteller/Verfügungskläger insoweit auch vorzutragen und gegebenenfalls glaubhaft zu machen, dass und warum die (vorläufige) negative Einschätzung fehlerhaft ist (Diagnose) und im weiteren Gang des Bestandsverfahrens überwunden werden wird (Prognose) (Fortführung von LG München I GRUR 2022, 1808 (1811) - Fingolimod). (Rn. 62) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagwort:
Patenrecht
Fundstellen:
MittdtPatA 2023, 140
GRUR-RS 2022, 36588
LSK 2022, 36588
GRUR 2023, 152

Tenor

1. Die Verfügungsbeklagten werden verurteilt, es bei Meidung eines Ordnungsgeldes in Höhe von bis zu EUR 250.000 für jeden Fall der Zuwiderhandlung, ersatzweise Ordnungshaft, oder eine Ordnungshaft bis zu 6 Monaten, im Wiederholungsfalle Ordnungshaft bis zu insgesamt 2 Jahren, jeweils zu vollziehen an den jeweiligen gesetzlichen Vertretern der Verfügungsbeklagten, zu unterlassen, gebrauchsfertige flüssige pharmazeutische Lösungen, umfassend ein wässriges Lösungsmittel, einen Bortezomibester, der in dem Lösungsmittel gelöst enthalten ist, wobei die Bortezomibester-Bildungskomponente Mannitol ist, wobei die Lösung bei einer Temperatur von 2 bis 8°C eine Laufzeit von zumindest 3 Monaten aufweist, wobei der Bortezomibgehalt bis zum Ende der Laufzeit 90% des ursprünglich eingesetzten Bortezomibs nicht unterschreitet, nämlich das Produkt ... in der Bundesrepublik Deutschland anzubieten, in Verkehr zu bringen und/oder zu gebrauchen und/oder zu den genannten Zwecken einzuführen und/oder zu besitzen (unmittelbare Verletzung des EP ... B1).
2. Die Verfügungsbeklagten tragen die Kosten des Rechtsstreits gesamtschuldnerisch.
3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
4. Die Vollziehung der Ziffer 1 ist abhängig von einer vorherigen Sicherheitsleistung in Höhe von 1 Mio. €. Die Sicherheit kann bewirkt werden durch eine schriftliche, unwiderrufliche, unbedingte und unbefristete Bürgschaft eines im Inland zum Geschäftsbetrieb befugten Kreditinstituts oder durch Hinterlegung von Geld oder Wertpapieren.

Tatbestand

1
Die Verfügungsklägerin nimmt die Verfügungsbeklagten wegen behaupteter Verletzung des deutschen Teils des ... in Anspruch.
2
Die Verfügungsklägerin ist ein pharmazeutisches Unternehmen mit Sitz in Deutschland.
3
Die Verfügungsklägerin ist Inhaberin des am 21.07.2016 unter Inanspruchnahme der Priorität vom 22.07.2015 angemeldeten Europäischen Patents, ... . Der Erteilungshinweis wurde am 17.08.2022 veröffentlicht. Das Patent ist für die Bundesrepublik Deutschland validiert und steht in Kraft (im Folgenden: Verfügungspatent; Anlage PBP 2, 3). Das Verfügungspatent betrifft eine gebrauchsfertige Bortezomib-Lösung. Der in der deutschen Verfahrenssprache erteilte Patentanspruch 1 lautet:
„Gebrauchsfertige flüssige pharmazeutische Lösung, umfassend
- ein wässriges Lösungsmittel;
- einen Bortezomibester, der in dem Lösungsmittel gelöst enthalten ist, wobei die Bortezomibester Bildungskomponente Mannitol ist,
wobei die Lösung bei einer Temperatur von 2 bis 8°C eine Laufzeit von zumindest 3 Monaten aufweist, wobei der Bortezomibgehalt bis zum Ende der Laufzeit 90% des ursprünglich eingesetzten Bortezomibs nicht unterschreitet.“
4
Während des Erteilungsverfahren hatten Dritte Einwendungen gegen die Erteilung des Patents geltend gemacht (sog. Third-Party-Oberservation, TPO). Anspruch 1 der damaligen Anmeldung wurde in der Folge dahingehend geändert, dass die gebrauchsfertige Lösung bei einer Temperatur von 2 bis 8°C eine Laufzeit von zumindest 3 Monaten aufweist und der Bortezomibgehalt bis zum Ende der Laufzeit 90% des ursprünglich eingesetzten Bortezomibs nicht unterschritten wird. Die im hiesigen Rechtsstreit zu prüfende Entgegenhaltung AG 6 (= D14) war nicht Gegenstand des Erteilungsverfahrens.
5
Die Verfügungsbeklagten gehören zu der Pharmaunternehmensgruppe ... mit Hauptsitz in Österreich, die auf die Forschung, Entwicklung, Herstellung und Vermarktung von Produkten in den Bereichen Neurologie und Spezialinjektabilia spezialisiert ist. Sie bieten in der Bundesrepublik Deutschland an und vertreiben das Produkt „... Injektionslösung“ („angegriffene Ausführungsform“).
6
Der Wirkstoff Bortezomib wurde von dem Unternehmen Janssen-Cilag als Arzneimittel erstmalig im Jahr 2005 unter der Bezeichnung „Velcade“® auf den Markt gebracht. Bei Velcade® handelt es sich um ein Medikament in Pulverform, das mittels steriler Natrium-Chlorid-Lösung nach genauerer Vorgabe aufgelöst wird und anschließend verabreicht wird. Der Wirkstoff Bortezomib ist seit 2019 gemeinfrei und wird von verschiedenen pharmazeutischen Unternehmen, darunter die Parteien, in Deutschland vertrieben.
7
Nach erfolgloser Abmahnung der Verfügungsbeklagten am 07.06.2022 wegen Verletzung des inhaltsgleichen parallelen Gebrauchsmusters ... durch die angegriffene Ausführungsform beantragte die Verfügungsklägerin am 16.06.2022 deswegen unter dem Az. 7 O 6982/22 den Erlass einer einstweiligen Verfügung. Das Gebrauchsmuster war am 09.03.2020 eingetragen worden. Der Antrag der Verfügungsklägerin ist mit Beschluss vom 20.07.2022 mangels Dringlichkeit zurückgewiesen worden.
8
Die Verfügungsbeklagten haben mit Schreiben vom 18.08.2022 gegen die Erteilung des Verfügungspatents beim Europäischen Patentamt Einspruch eingelegt (Anlage AG 5).
9
Die Verfügungsklägerin trägt vor, die Verfügungsbeklagten verletzten mit dem Vertrieb der angegriffenen Ausführungsform Anspruch 1 des Verfügungspatents wortsinngemäß und unmittelbar. Die gegen den Bestand des Verfügungspatents gerichteten Angriffe der Verfügungsbeklagten überzeugten nicht. Weder die Entgegenhaltung AG 4, noch die Entgegenhaltung AG 6 offenbarten die erfinderische Lehre eindeutig und unmittelbar.
10
Soweit die Verfügungsbeklagten auf von ihnen durchgeführte Stabilitätsversuche gemäß der Anlage AG 9 verwiesen, seien diese untauglich, das Vorliegen eines neuheitsschädlichen Stands der Technik zu belegen. Es sei schon nicht nachvollziehbar, ob vor dem Prioritätstag zur Verfügung stehende Vials in jeder Beziehung identisch zu den untersuchten seien. Es sei davon auszugehen, dass dies nicht der Fall sei. Ob sich die Zusammensetzung des Produkts seit dem Prioritätstag ausweislich der Zulassungsunterlagen geändert habe, sei hierfür ohne Bedeutung. Auch wenn sich die Zusammensetzung des Produkts seit dem Prioritätstag nicht verändert haben sollte, sei ein heute erworbenes Produkt nicht mit einem vor Jahren erworbenen vergleichbar. Die Produkte unterlägen nicht nur Qualitätsschwankungen, sondern auch Optimierungen im Produktionsprozess. Dies sei gerade im Zusammenhang mit der technisch komplizierten Lyophilisierung von Bedeutung. Beispielsweise entstehe bei der Reaktion von Boronsäure mit Mannitol Wasser, das für eine qualitativ hochwertige Lyophilisierung vollständig entfernt werden müsse. Gelinge dies nicht, wirke sich dies negativ auf die Stabilität auch der rekonstituierten Lösung aus. Verbesserungen im Produktionsprozess könnten deshalb eine erhebliche Auswirkung auf die Stabilität des Produkts haben. Die Untersuchung eines heute im Handel erhältlichen Produkts könne daher keine taugliche Grundlage für die Feststellung eines Standes der Technik im Prioritätszeitpunkt bilden. Darüber hinaus sei nicht nachvollziehbar, ob die durch die Verfügungsbeklagten vorgenommene Rekonstitution der Lösung den Bedingungen im Klinikalltag entsprochen habe. Es sei vielmehr davon auszugehen, dass die Rekonstitution unter Laborbedingungen stattgefunden habe, die gerade nicht den Klinikbedingungen entsprächen. Hinzu komme, dass die im Klinikalltag rekonstituierte Lösung mit ihren Eigenschaften schon deshalb keinen Stand der Technik darstellen könne, weil sie sofort verbraucht und der Öffentlichkeit nicht zur Verfügung gestellt worden sei. Darüber hinaus beruhten die Messungen der Verfügungsklägerin weder auf lege artis durchgeführten Stabilitätsversuchen, noch seien sie statistisch signifikant.
11
Eine inhärente Offenbarung, wie von den Verfügungsbeklagten postuliert, sei fernliegend. Die Entgegenhaltungen legten die Lehre des Verfügungspatents auch nicht nahe.
12
Die zeitliche Dringlichkeit sei eingehalten, da der hiesige Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung am 19.08.2022, mithin zwei Tage nach Veröffentlichung des Erteilungshinweises gestellt wurde.
13
Im Rahmen der Interessenabwägung sei zu berücksichtigen, dass es sich um einen Fall aus der Fallgruppe der „Generika-Rechtsprechung“ handele. Ferner sei aufgrund der veröffentlichten Daten der Verfügungsbeklagten zu 2) zweifelhaft, ob sie überhaupt in der Lage sei, etwaige finanzielle Schäden der Verfügungsklägerin in einem späteren Schadensersatzprozess zu begleichen.
14
Die Verfügungsklägerin beantragt zuletzt,
es bei Meidung der gesetzlichen Ordnungsmittel, Ordnungshaft zu vollziehen an den jeweiligen gesetzlichen Vertretern der Antragsgegnerinnen, zu unterlassen, gebrauchsfertige flüssige pharmazeutische Lösungen, umfassend ein wässriges Lösungsmittel, einen Bortezomibester, der in dem Lösungsmittel gelöst enthalten ist, wobei die BortezomibesterBildungskomponente Mannitol ist, wobei die Lösung bei einer Temperatur von 2 bis 8°C eine Laufzeit von zumindest 3 Monaten aufweist, wobei der Bortezomibgehalt bis zum Ende der Laufzeit 90% des ursprünglich eingesetzten Bortezomibs nicht unterschreitet, insbesondere das Produkt ... Injektionslösung“ („angegriffene Ausführungsform“).
in der Bundesrepublik Deutschland anzubieten, in Verkehr zu bringen und/oder zu gebrauchen und/oder zu den genannten Zwecken einzuführen und/oder zu besitzen.
(unmittelbare Verletzung des ...)
Hilfsweise:
es bei Meidung der gesetzlichen Ordnungsmittel, Ordnungshaft zu vollziehen an den jeweiligen gesetzlichen Vertretern der Antragsgegnerinnen, zu unterlassen, gebrauchsfertige flüssige pharmazeutische Lösungen, umfassend ein wässriges Lösungsmittel, einen Bortezomibester, der in dem Lösungsmittel gelöst enthalten ist, wobei die Bortezomibester-Bildungskomponente Mannitol ist, wobei die Lösung bei einer Temperatur von 2 bis 8°C eine Laufzeit von zumindest 6 Monaten aufweist, wobei der Bortezomibgehalt bis zum Ende der Laufzeit 90% des ursprünglich eingesetzten Bortezomibs nicht unterschreitet, insbesondere die Produkte Injektionslösung“ („angegriffene Ausführungsform“).
in der Bundesrepublik Deutschland anzubieten, in Verkehr zu bringen und/oder zu gebrauchen und/oder zu den genannten Zwecken einzuführen und/oder zu besitzen.
(unmittelbare Verletzung des ...)
15
Die Verfügungsbeklagten beantragen,
den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung zurückzuweisen.
16
Die Verfügungsbeklagten tragen vor, dem Verfügungsantrag fehle die zeitliche Dringlichkeit. Die angegriffene Ausführungsform sei bereits seit Anfang 2022 auf dem Markt. Bereits am 11.04.2022 habe die Verfügungsklägerin Gesellschaften der Unternehmensgruppe der Verfügungsbeklagten wegen irreführender Werbung abmahnen lassen. In Bezug auf das Verfügungspatent müsse sich die Verfügungsklägerin entgegenhalten lassen, dass sie trotz Mitteilung der Erteilungsabsicht durch das Europäische Patentamt vom 11.04.2022 das Erteilungsverfahren verzögert habe.
17
Der Antrag auf Erlass der einstweiligen Verfügung sei ferner zurückzuweisen, weil das erst kürzlich erteilte Verfügungspatent kein erstinstanzliches Bestandsverfahren erfolgreich überstanden habe und somit sein Rechtsbestand ganz allgemein, aber insbesondere im Hinblick auf die geltend gemachten Entgegenhaltungen nicht als gesichert angesehen werden könne.
18
Hieran ändere auch die jüngst ergangene Entscheidung des EuGH in der Sache, „Phoenix Contact/Harting“, Urt. v. 28.04.2022, C-44/21, GRUR 2022, 811 nichts. Denn obwohl der EuGH in dieser Entscheidung von der „Vermutung“ der Rechtsgültigkeit spreche, die aus dem Erteilungsakt folgen solle, sei zu beachten, dass diese Aussage vor dem Hintergrund der zur Entscheidung gestellten Vorlagefrage zu sehen sei. Dieser habe indes ein Sachverhalt zu Grunde gelegen, wonach das vorlegende Gericht selbst von der Rechtsbeständigkeit des Antragspatents überzeugt war. Die Aussage des EuGH könne daher nicht dahingehend zu verstehen sein, dass sie ein im Rahmen eines Verfügungsverfahren angerufenes Gericht vollkommen von der Prüfung des Rechtsbestands entbinde. Der EuGH befasse sich vielmehr allein mit der Frage, ob der Erlass einer einstweiligen Verfügung bei Bejahung der Schutzfähigkeit und der Verletzung zwingend von der vorherigen Durchführung eines zweiseitigen Rechtsbestandsverfahren abhängig gemacht werden dürfe. Dass demgegenüber das angerufene Verletzungsgericht den Rechtsbestand weiterhin einer kritischen Prüfung unterziehen müsse, folge bereits aus der Enforcement-Richtlinie selbst und dem darin verankerten Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sowie aus Art. 16, 17 und 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union. Die Verfügungsklägerin hege zudem selbst Zweifel am Bestand ihrer Schutzrechte, da sie in dem auf das Gebrauchsmuster …51 gestützten einstweiligen Verfügungsverfahren (LG München 1, Az.: 7 O 6982/22) vorgerbacht habe, nach Mitteilung der Erteilungsabsicht zunächst eine Validitätsanalyse durchgeführt haben zu wollen. Damit habe sie zum Ausdruck gebracht, dass sie der Erteilungsabsicht selbst nicht traue.
19
Das Merkmal „gebrauchsfertig“ sei dahingehend auszulegen, dass eine Lösung gemäß Anspruch 1 dann „gebrauchsfertig“ sei, wenn sie direkt verabreicht werden könne, mithin ohne Änderung ihrer Beschaffenheit, insbesondere durch Zugabe von Flüssigkeiten. Der Begriff schließe somit eine direkt verabreichbare Lösung auch dann mit ein, wenn diese Lösung dadurch hergestellt wird, dass ein zunächst vom Hersteller in fester Form vertriebenes Pulver durch Versetzen mit Kochsalzlösung in einen gebrauchsfertigen Zustand überführt worden ist.
20
Dasjenige Merkmal des Verfügungspatentanspruchs 1, das eine Lagerung bei 2 bis 8°C bei einer Laufzeit von 3 Monaten und einem Bortezomibgehalt bis zum Ende der Laufzeit von nicht unter 90 Prozent des ursprünglich eingesetzten Bortezomibs beanspruche, stelle ein sogenanntes „result-to-be-achieved“ Merkmal dar. Dabei werde ein gewünschtes Ziel, die medizinische Haltbarkeit der gebrauchsfertigen Lösung von über drei Monaten, mittels des Merkmals beansprucht, ohne die dazu erforderlichen stofflichen Merkmale anzugeben.
21
Das Verfügungspatent sei von der Entgegenhaltung AG 6 (= D14, „Walker“) neuheitsschädlich getroffen. Diese Entgegenhaltung sei nicht Gegenstand des Erteilungsverfahrens, auch nicht der Third-Party-Observation, gewesen. Für den Fachmann, der vorliegend ein in der Arzneimittelforschung tätiger Apotheker sei, der in einem Team von Fachleuten arbeite und durch einen analytisch ausgerichteten promovierten Chemiker unterstützt werde, wäre aus der dort offenbarten Stabilität von 98 Prozent Bortezomib in dem vorbekannten Medikament Velcade®, welches mit einer Natriumchloridlösung rekonstituiert und für 42 Tage bei 4°C und bei einer Raumtemperatur (23°C) gelagert wurde, im Wege der Interpolation offensichtlich gewesen, dass die Lösung unter den genannten Bedingungen auch für einen Zeitraum von 90 Tagen stabil sei und einen Bortezomibgehalt von nicht unter 90 Prozent aufweise. Entsprechend der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, wonach eine die Neuheit eines Stoffes ausschließende Offenbarung bereits dann gegeben sei, wenn ein bestimmtes, dem Fachmann zugängliches Material benannt wird, das alle beanspruchten Merkmale aufweise und eine wissenschaftliche Begründung dafür, weshalb der Einsatz eines solchen Materials den patentgemäßen Erfolg eintreten lässt, nicht erforderlich sei (BGH, Xa ZR 149/08 - Fentanyl-TTS), könne von einem gesicherten Rechtsbestand des Verfügungspatents nicht die Rede sein.
22
Auch die Entgegenhaltung AG 4 (= D11), bei der es sich um die Gebrauchsinformation zum Produkt Velcade® aus dem Jahr 2014 handele, nehme aufgrund ihres inhärenten Offenbarungsgehalts die verfügungspatentgemäße Lehre neuheitsschädlich vorweg. Bis auf das „result-to-be-achieved“ Merkmal, welches im Erteilungsverfahren zur Abgrenzung vom Stand der Technik eingefügt worden sei, seien die Entgegenhaltung AG 4 und der Verfügungspatentanspruch 1 identisch. Eine gebrauchsfertige Lösung gemäß dem Verfügungspatent sei in ihrer angegebenen stofflichen Zusammensetzung mit einer gemäß Gebrauchshinweis rekonstituierten Velcade®-Lösung identisch. Für eine Fachperson auf dem Gebiet der pharmazeutischen Formulierung folge daraus, dass beide Lösungen aufgrund ihrer stofflichen Zusammensetzung die gleichen Eigenschaften und daher auch die gleiche Stabilität aufweisen müssten, insbesondere dann, wenn sie den gleichen Lagerbedingungen unterworfen würden. Somit sei das „result-to-be-achieved“ Merkmal implizit offenbart.
23
Das Velcade® Lyophilisat sei durch Auflösen in NaCl-Lösung gemäß seiner Gebrauchsinformation ebenfalls neuheitsschädlich für das Verfügungspatent. Zum Zeitpunkt der Auflösung, quasi im „Zeitpunkt Null“, sei die Lösung neuheitsschädlich, da sie aus chemischer Sicht aufgrund ihrer stofflichen Eigenschaften bereits die Stabilitätskriterien, gemessen wie im Anspruch spezifiziert, erfülle, durch die der Verfügungspatentanspruch das „Desideratum“ definiere, nämlich eine Lösung mit wünschenswerter Laufzeit. Der Verfügungspatentanspruch definiere lediglich eine „gebrauchsfertige flüssige pharmazeutische Lösung“, wobei diese Lösung die technische Eigenschaft habe, dass sie nach Lagerung bei 2-8°C für 3 Monate mindestens 90% Wirkstoff beibehalte. Die neuheitsschädliche Zusammensetzung sei indes die Lösung vor der Lagerung, die für die gewünschte Laufzeit geeignet ist. Die Stabilität eines Erzeugnisses wie beispielsweise einer rekonstituierten Velcade®-Lösung zu ermitteln, konnte vom Fachmann ohne unzumutbaren Aufwand durchgeführt werden, sodass das intrinsische Merkmal der Stabilität einer rekonstituierten Velcade®-Lösung zum Stand der Technik gehöre. Dieses Ergebnis entspreche der Rechtsprechung der Beschwerdekammern, insbesondere in der Entscheidung G 0001/92.
24
Dass eine rekonstituierte Velcade®-Lösung auch tatsächlich das „result-to-be-achieved“ Merkmal aufweise, belege die von den Verfügungsbeklagten vorgelegte Studie (Anlage AG 9). Die dort wiedergegebenen Untersuchungen bestätigten nicht nur die bereits von Walker et. al (Anlage AG 6) gefundene Stabilität, sondern zeigten darüber hinaus, dass sich bei gemäß Packungsanweisung rekonstituiertem Velcade® und Lagerung bei Kühlschranktemperatur über einen Zeitraum von drei Monaten kein nennenswerter Wirkstoffverlust feststellen lasse.
25
Die Anlage AG 6 „Walker“ lege die Erfindung zudem nahe. Sie sei ein geeigneter Ausgangspunkt für die Anwendung des Aufgabe-Lösung-Ansatzes, da in dieser Anlage bereits die Stabilität einer rekonstituierten und somit gebrauchsfertigen Bortezomib-Lösung untersucht worden sei. Für eine über die in der Anlage AG 6 untersuchten 42 Tage hinausgehende Laufzeit würde die Fachperson, die vor der Aufgabe stehe, eine Bortezomib-Lösung mit verlängerter Laufzeit bereitzustellen, im Rahmen ihrer fachüblichen Tätigkeit eine Extrapolation der Daten durchführen. Diese Extrapolation, unter Annahme einer linearen Abbaugeschwindigkeit, auf 3 Monate (90 Tage) würde der Fachperson dann zeigen, dass nach 3-monatiger Lagerung mit einem Wirkstoffverlust von nur etwa 4 bis 5% zu rechnen sei. Um diese Extrapolation zu überprüfen, würde die Fachperson die entsprechenden Untersuchungen vornehmen. Somit wäre der Fachperson sofort klar gewesen, dass der zu erwartende Wirkstoffverlust nach 3 Monaten deutlich unter 10% liegen werde. Zudem enthalte die Anlage AG 6 eine Lehre zum Erreichen einer längeren Laufzeit, nämlich durch Entfernen der Luft in den Fläschchen während der Lagerung bzw. durch grundsätzliche Verringerung des Sauerstoffgehalts in den Fläschchen. Bei diesen Maßnahmen handele es sich um hinlänglich bekannte Maßnahmen, die eine Fachperson im Rahmen ihrer üblichen Tätigkeit bei einer fachgerechten pharmazeutischen Entwicklung einer entsprechenden Formulierung anwende (vgl. Anlage AG 7). Im Lichte der Anlage AG 6 wäre die Fachperson daher motiviert gewesen, Bortezomib-Mannitol-Lösungen für Laufzeiten von mehr als 3 Monaten herzustellen und die Sauerstoffkonzentration in der Lösung und im Kopfraum über der Lösung mit fachbekannten Verfahren zu reduzieren und wäre so ohne erfinderisches Zutun zur verfügungspatentgemäßen Lösung gelangt. In der Anlage AG 6 würden zudem genügend Datenpunkte offenbart, die eine mathematisch korrekte Extrapolation über einen Zeitraum von ca. drei Monaten/90 Tagen unter Annahme eines linearen Wirkstoffabbaus erlaubten. Durch diese Extrapolation sei für den Fachmann klar, dass bei entsprechend längeren Lagerungen über einen Zeitraum von 84 Tagen (doppelter Zeitraum) ein Wirkstoffverlust von höchstens 4 bis 5% zu erwarten wäre. Ein Fachmann auf dem Gebiet der pharmazeutischen Formulierungen hätte diese Annahme durch weitere Untersuchungen überprüft und bestätigt.
26
Auch ausgehend von Anlage AG 4 und im Lichte der Anlage AG 6 wäre die Fachperson motiviert gewesen, Bortezomib-Mannitol-Lösungen für Laufzeiten von mehr als 3 Monaten herzustellen und hätte hierbei die Sauerstoffkonzentration in der Lösung und im Kopfraum über der Lösung mit fachbekannten Verfahren reduziert (Anlage AG 7). Die Lösung der objektiven technischen Aufgabe sei daher für die Fachperson naheliegend gewesen.
27
Die anzustellende Interessenabwägung falle ebenfalls zugunsten der Verfügungsbeklagten aus. Der Wirkstoff Bortezomib sei seit 2019 ohne Patentschutz und daher für jedermann frei verfügbar und werde von zahlreichen (17) verschiedenen Unternehmen vertrieben. Jeder Schaden, der bei der Verfügungsklägerin möglicherweise eintrete, gehe nicht über das bei Patent- oder Gebrauchsmusterverletzungen auftreten Normale hinaus. Insbesondere fehle es vorliegend an einer sogenannten „Generika-Situation''. Denn die diese kennzeichnende typische Gefährdungslage, wonach immense Kosten für die Entwicklung von neuen Wirkstoffen durch das vorzeitige Auftreten von Nachahmern und nicht wiedergutzumachendem Preisverfall nicht mehr hereingeholt werden können und ein unmittelbares gerichtliches Einschreiten erforderlich werden lassen, sei hier nicht gegeben. Der eigentliche Entwicklungsaufwand für den pharmazeutischen Wirkstoff Bortezomib als Mannitol-Boronsäureester sei nicht von der Verfügungsklägerin geleistet worden. Umgekehrt entstünde bei den Verfügungsbeklagten im Falle des Erlasses einer einstweiligen Verfügung ein erheblicher, nicht wiedergutzumachender Schaden. Im Übrigen sei zu beachten, dass die Verfügungsklägerin selbst, seit sie vor Ablauf des Patentschutzes des Originator-Produkts auf den Markt gedrängt ist, durch eine aggressive Niedrigpreispolitik für einen Preisverfall gesorgt habe, der sich nach Hinzutreten weiterer Mitbewerber noch beschleunigt habe.
28
Soweit die Verfügungsklägerin auf eine angeblich gefährdete Einbringbarkeit etwaiger Schadensersatzforderungen bei der Verfügungsbeklagten zu 2) abstelle, übersehe sie die gesamtschuldnerische Haftung der Verfügungsbeklagten. Mit der Verfügungsbeklagten zu 1) stünde die Muttergesellschaft des ... Konzerns als leistungsfähiger Schuldner zur Verfügung.
29
Im Übrigen wird auf die Schriftsätze der Parteien nebst Anlagen sowie das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 27.10.2022 (BI. 106/108 d. eA.) verwiesen.

Entscheidungsgründe

30
Der zulässige Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung ist begründet.
31
Die Verfügungsklägerin hat aus dem Verfügungspatent einen Verfügungsanspruch auf Unterlassung aus Art. 64 Abs. 1, 3 EPÜ iVm § 139 Abs. 1 Satz 1, 9 S. 2 Nr. 1 PatG, §§ 940, 936, 920 f. ZPO (A.). Daneben ist auch der Verfügungsgrund gegeben, da eine zeitliche Dringlichkeit glaubhaft gemacht ist (B. 1.) und die zu treffende Interessenabwägung ebenfalls zugunsten der Verfügungsklägerin streitet (B. II.).
A.
32
Die Verfügungsbeklagten machen durch den Vertrieb der angegriffenen Ausführungsform von der Lehre des Verfügungspatents entgegen § 9 S. 2 Nr. 1 PatG wortsinngemäß Gebrauch, weswegen ein Verfügungsanspruch gemäß Art. 64 Abs. 1, 3 EPÜ iVm § 139 Abs. 1 Satz 1 PatG besteht.
I.
33
Das Verfügungspatent betrifft eine gebrauchsfertige Bortezomib-Lösung zur therapeutischen Verwendung.
34
1. Bortezomib ist der internationale Freiname (INN international non proprietary name) für (IR)-3-Methyl-1-[((2S)-3-phenyl-2-[(2-pyrazinylcarbonyl)-amino] propanoyl) amino]-butylborsäure. Bortezomib ist ein Arzneistoff aus der Gruppe der Proteasomlnhibitoren, der für die Mono- und Kombinationstherapie zur Behandlung des multiplen Myeloms und des Mantelzelllymphoms zugelassen ist. Die Wirkung von Bortezomib beruht dabei auf der selektiven Hemmung der chymotrypsinartigen Aktivität des 26S-Proteasoms. Bortezomib wird unter der Markenbezeichnung Velcade® in Form eines lyophilisierten, d.h. gefriergetrockneten Pulvers in den Wirkstärken 1 mg und 3,5 mg Bortezomib vertrieben; Abs. [0002] - Abs. [0004].
35
Die Verfügungspatentschrift schildert, Bortezomib sei im Stand der Technik als Produkt „Velcade®“ in Form eines Mannitol-Boronsäureesters enthalten, der nach Rekonstitution die pharmazeutisch aktive Komponente Bortezomib in vivo relativ gut freisetzen solle. Für die intravenöse Verabreichung werde das in einer Durchstechflasche („Vial“) enthaltene sterile Pulver mit einer 0,9%-igen Kochsalzlösung rekonstituiert, wobei eine Lösung mit 1 mg/ml Bortezomib zur intravenösen oder 2,5 mg/ml Bortezomib zur subkutanen Applikation hergestellt werde. Die Lagerstabilität einer ungeöffneten Durchstechflasche Velcade® werde im Stand der Technik bei einer Temperatur bis zu 30' C mit 3 Jahren angegeben, die einer durch Rekonstitution von Velcade® erhaltenen Bortezomib-Lösung bei 25' C hingegen nur mit 8 Stunden; Abs. [0004].
36
Die Verfügungspatentschrift schildert als Stand der Technik die Druckschrift WO 2015/025000 A1. Diese offenbare eine lyophilisierte pharmazeutische Zusammensetzung, umfassend Bortezomib in Mischung mit Natriumgluconat und ein Verfahren zu deren Herstellung. Weiter offenbare die Druckschrift eine flüssige pharmazeutische Zusammensetzung, bestehend aus einer Lösung einer Zusammensetzung, umfassend Bortezomib und Natriumgluconat in einem zur parenteralen Verabreichung, d.h. den Magen-Darm-Trakt umgehenden, geeigneten Verdünnungsmittel sowie in Verfahren zur Herstellung der flüssigen Zusammensetzung, umfassend die Rekonstitution der lyophilisierten Zusammensetzung mit einem zur parenteralen Verabreichung geeigneten Verdünnungsmittel; Abs. [0005].
37
Weiterhin erwähnt die Verfügungspatentschrift die Druckschrift EP 2 644 189 A 1. Diese offenbare eine lagerbeständige flüssige pharmazeutische Zusammensetzung, umfassend Bortezomib in einer therapeutisch wirksamen Menge, wobei die Zusammensetzung Folgendes umfasse: eine einphasige flüssige Formulierung, umfassend ein im Wesentlichen nichtwässriges Lösungsmittel-System, das zur Injektion geeignet sei, einen wässrigen Acetatpuffer und Bortezomib, wobei Bortezomib in der Formulierung in einer therapeutisch wirksamen Konzentration vorhanden sei. Das Lösungsmittel-System umfasse dabei als vorherrschende Komponente Propylenglykol und der Puffer weise einen pH-Wert von 3 auf. Das Lösungsmittel-System, der Puffer und der pH-Wert seien so gewählt, um wirksam die Bildung von mindestens einem aus einem Amidabbauprodukt, einem ersten Carbinolamidabbauprodukt und einem zweiten Carbinolamidabbauprodukt zu unterdrücken, wenn die flüssige Formulierung unter Lagerungsbedingungen gelagert werde; Abs. [0006].
38
Die Druckschrift WO 2013/128419 A2 offenbare ebenfalls pharmazeutische Zusammensetzungen umfassend Bortezomib, Tromethamin und eine organische Carbonsäure, wobei die Zusammensetzung einen pH-Wert von ungefähr 3 bis 6 aufweise; Abs. [0007].
39
2. Als Problem schildet die Verfügungspatentschrift in Abs. [0008], dass Bortezomib-Mannitolester zwar in fester Formulierung verhältnismäßig stabil sei, nicht jedoch in wässriger Formulierung, da freies Bortezomib in wässriger Lösung sehr oxidations-empfindlich sei und Bortezomib-Mannitolester in Lösung im Gleichgewicht mit seinen Hydrolyseprodukten freies Bortezomib und Mannitol vorliege. Die Verfügungspatentschrift erachtet es daher als erstrebenswert, Bortezomib in Form einer gebrauchsfertigen Lösung am Markt anbieten zu können; Abs. [0008].
40
Das hat auch die weiter geschilderte Druckschrift WO 2011/116286 A2 erkannt, die entsprechend eine gebrauchsfertige Bortezomib-Lösung auf Basis des organischen Lösungsmittels Propylenglykol vorschlägt. Eine derartige Lösung solle die an eine gebrauchsfertige Lösung zu stellenden Anforderungen hinsichtlich Stabilität und damit Lagerfähigkeit erfüllen. Hieran kritisiert das Verfügungspatent indes, dass Propylenglykol starke Reizungen verursachen sowie zu Leberanomalien und Nierenschäden führen könne; Abs. [0009].
41
3. Demnach betrachtet die Verfügungspatentschrift es als zu lösende Aufgabe, eine gebrauchsfertige flüssige pharmazeutische Bortezomib-Lösung bereitzustellen, die eine verbesserte physiologische Toleranz aufweist; Abs. [0010].
42
Zur Lösung schlägt das Verfügungspatent eine gebrauchsfertige flüssige pharmazeutische Lösung vor, umfassend ein wässriges Lösungsmittel und einen Bortezomibester, der in dem Lösungsmittel gelöst enthalten ist, wobei die Bortezomibester-Bildungskomponente Mannitol ist. Dementsprechend lässt sich der hier relevante Anspruch 1 des Verfügungspatents wie folgt gliedern:
1. Gebrauchsfertige flüssige pharmazeutische Lösung, umfassend
1.1 ein wässriges Lösungsmittel,
1.2 einen Bortezomibester, der in dem Lösungsmittel gelöst enthalten ist
1.3 wobei die Bortezomibester-Bildungskomponente Mannitol ist,
1.4 wobei die Lösung bei einer Temperatur von 2 bis 8°C eine Laufzeit von zumindest 3 Monaten aufweist,
1.5 wobei der Bortezomibgehalt bis zum Ende der Laufzeit 90% des ursprünglich eingesetzten Bortezomibs nicht unterschreitet.
43
4. Im Hinblick auf die zwischen den Parteien geführte Diskussion sind folgende Ausführungen veranlasst:
44
a) Die Bedeutung der in einem Patentanspruch verwendeten Begriffe ist durch Auslegung des Patentanspruchs zu ermitteln, die nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs stets geboten ist und auch dann nicht unterbleiben darf, wenn der Wortlaut des Patentanspruchs eindeutig zu sein scheint (BGH GRUR 2015, 875 - Rotorelemente, m. zahlr. w. Nachw.).
45
Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist für die Auslegung eines Patents nicht die sprachliche oder logisch-wissenschaftliche Bedeutung der im Patentanspruch verwendeten Begriffe maßgeblich, sondern deren technischer Sinn, der unter Berücksichtigung von Aufgabe und Lösung, wie sie sich objektiv aus dem Patent ergeben, zu bestimmen ist (vgl. nur BGH GRUR 1975, 422 [424] - Streckwalze; GRUR 1999, 909 [912] - Spannschraube}. Maßgeblich sind dabei der Sinngehalt eines Patentanspruchs in seiner Gesamtheit und der Beitrag, den die einzelnen Merkmale zum Leistungsergebnis der patentierten Erfindung beitragen.
46
Bei der Ermittlung des Sinngehalts des Patentanspruchs sind gemäß Art. 69 Abs. EPÜ bzw. § 14 S. 2 PatG auch die Beschreibung und die Zeichnungen heranzuziehen, die die technische Lehre des Patentanspruchs erläutern und veranschaulichen (vgl. BGH GRUR 2021, 574 Rn. 24, 25 - Kranarm; GRUR 2012, 1124 Rn. 27 - Polymerschaum I; BGH GRUR 2020, 159 Rn. 18 - Lenkergetriebe). Die Beschreibung des Patents, deren Funktion es ist, die geschützte Erfindung zu erläutern, kann Begriffe eigenständig definieren und insoweit ein patenteigenes Lexikon darstellen (BGH GRUR 2016, 361 Rn. 14 - Fugenband).
47
b) Eingedenk der soeben dargestellten Grundsätze ist der Begriff „gebrauchsfertig“ in der Merkmalsgruppe 1 aus Sicht des Fachmanns, bei dem es sich um ein Team aus einem erfahrenen Galeniker und einem ebenfalls in der klinischen Forschung erfahrenen Mediziner auf dem Gebiet der Regulierung der Zellfunktion und des Zellwachstums insbesondere im Bereich der Krebstherapie handelt, in Abgrenzung zu Arzneimittelformulierungen zu verstehen, die nicht unmittelbar am Patienten applizierbar sind.
48
So setzt Abs. [0021] der Verfügungspatentschrift die vom Verfügungspatent zur Verfügung gestellte und beanspruchte „gebrauchsfertige flüssige pharmazeutische WirkstoffLösung mit Bortezomib als Wirkstoff“ gleich mit dem aus dem Stand der Technik bekannten Begriff der „ready-to-use (RTU)-Lösungen“. Die vom Verfügungspatent getroffene Definition von „gebrauchsfertig“ meint somit eine Wirkstofflösung, die ohne weitere Zubereitungsmaßnahmen des medizinischen Personals dem Patienten verabreicht werden kann. Das erläutert die Verfügungspatentschrift in Abs. [0022] ausdrücklich. Als Gegenstück hierzu betrachtet das Verfügungspatent als Lösung zu applizierende feste Wirkstoffformulierungen z.B. in Form von Pulvern oder Lyophilisaten, die erst kurz vor ihrer Verabreichung mittels Rekonstitution in Lösung überführt werden; Abs. [0021]. Aus dem Umstand, dass in Abs. [0022] als gebrauchsfertig auch solche Lösungen angesehen werden, die „auch erst nach einer weiteren Zubereitung wie etwa einem Verdünnen auf eine gewünschte Wirkstoffkonzentration“ verabreicht werden, ergibt sich nichts anderes. Denn das Zubereiten im Wege des Verdünnens ändert nichts an der Eigenschaft der Lösung, als solche unmittelbar applizierbar zu sein.
49
Demnach ist ein Produkt, wie das im Markt befindliche „Velcade“®, das in Form eines lyophilisierten Pulvers vertrieben wird und vor Ort vom medizinischen Personal mit Kochsalzlösung zur Verabreichung erst noch angereichert werden muss (vgl. Abs. [0004]; Anlage AG 4), keine gebrauchsfertige Lösung im Sinne des Verfügungspatents.
II.
50
Die Verfügungsbeklagten stellen nicht in Abrede, dass die von ihnen vertriebene angegriffene Ausführungsform, ... Injektionslösung, sämtliche Merkmale des Verfügungspatents wortsinngemäß verwirklicht und demnach § 9 S. 2 Nr. 1 PatG erfüllt ist. Die für eine Unterlassungsverfügung erforderliche Wiederholungsgefahr ist mithin gegeben. Ein Verfügungsanspruch gemäß Art. 64 Abs. 1, 3 EPÜ iVm § 139 Abs. 1 Satz 1, 9 S. 2 Nr. 1 PatG, §§ 940, 936, 920 f. ZPO liegt somit vor.
B.
51
Der Erlass einer einstweiligen Verfügung ist gleichwohl nur dann gerechtfertigt, wenn neben dem Verfügungsanspruch auch ein Verfügungsgrund glaubhaft gemacht wird. Denn der Erlass einer einstweiligen Verfügung setzt gemäß §§ 940, 936, 920 f. ZPO eine objektiv begründete Gefahr voraus, dass die Rechtsverwirklichung des Verfügungsklägers mittels eines erst im Hauptsacheprozess erlangten Urteils vereitelt oder erschwert werden könnte. Dies verlangt zum einen eine für die Eilmaßnahme sprechende rein zeitliche Dringlichkeit (1.) und daneben eine Abwägung der widerstreitenden Interessen zwischen den dem Schutzrechtsinhaber ohne den Erlass der beantragten Verfügung drohenden Nachteilen, welche gegen die Interessen des als Verletzer in Anspruch genommenen Verfügungsbeklagten abgewogen werden müssen (11.). Das Vorliegen eines Verfügungsgrundes ist seitens der Verfügungskläger darzulegen und glaubhaft zu machen (vgl. LG München 1 GRUR-RS 2022, 26511 Rn. 62 - Fingolimod mit Verweis auf OLG München GRUR-RS 2021, 12272).
I.
52
Die für den Erlass einer einstweiligen Verfügung notwendige Dringlichkeit liegt vor.
53
Die Erteilung des Verfügungspatents hat eine spezifische, auf das Verfügungspatent bezogene Dringlichkeitsfrist ausgelöst, die eingehalten wurde. Die einstweilige Verfügung ist am 19.08.2022 und somit nur zwei Tage nach der Veröffentlichung des Erteilungshinweises beantragt worden, die Monatsfrist ist somit gewahrt.
54
Zwar hatte die Verfügungsklägerin bereits im Frühjahr dieses Jahres und somit länger als einen Monat von Antragstellung Kenntnis davon, dass die Verfügungsbeklagte die angegriffene Ausführungsform im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland vertreiben. Die Verfügungsklägerin hatte somit bereits geraume Zeit vor der Beantragung der hiesigen einstweiligen Verfügung. Kenntnis von Tat und Täter. Die Dringlichkeitsfrist für das Verfügungspatent ist gleichwohl gewahrt. Denn der Hinweis auf die Erteilung des Verfügungspatents ist erst am 17.08.2022 vom Europäischen Patentamt veröffentlicht worden. Davor war es der Verfügungsklägerin unmöglich, aus diesem Schutzrecht einen Unterlassungsanspruch gegen die Verfügungsbeklagten geltend zu machen; §§ 58 Abs. 1 Satz 3, 9, 139 Abs. 1 Satz 1 PatG; Art. 64 Abs. 1, Abs. 3 EPÜ. Aus einer veröffentlichen europäischen Patentanmeldung kann gemäß Art. 67 Abs. 1, 64 Abs. 1, Abs. 3 EPÜ, § 33 Abs. 1 PatG nur ein Entschädigungsanspruch, nicht aber ein Unterlassungsanspruch erwirkt werden.
55
Dass die Verfügungsklägerin die Erteilung des Verfügungspatents verzögert hätte, wie von den Verfügungsbeklagten behauptet, kann nicht erkannt werden. Vielmehr hat die Verfügungsklägerin die vom Amt gesetzte Frist zur Einreichung von Übersetzungen nicht ausgeschöpft, sondern schon vor deren Ablauf die notwendigen Unterlagen eingereicht (vgl. Anlage PBP 23). Ob eine etwaige Verzögerung des Erteilungsakts durch die Rechteinhaberin sich auf die Dringlichkeitsfrist in einem anschließenden einstweiligen Verfügungsverfahren überhaupt auswirkt, kann daher offenbleiben.
56
Dass die Verfügungsklägerin aufgrund ihrer schon früher bestehenden Kenntnis in der jüngeren Vergangenheit gegen die Verfügungsbeklagten bereits aus einem anderen Schutzrecht, dem Gebrauchsmuster ... (erfolglos) vorgegangen ist, beeinträchtigt die Dringlichkeit im hiesigen Verfahren nicht. Zwar obliegt es einem Schutzrechtsinhaber, ein ihm als möglicherweise verletzend bekanntes Produkt hinsichtlich seines gesamten Schutzrechtsbestandes auf Verletzungen hin zu überprüfen, da andernfalls die Dringlichkeit für die Geltendmachung der trotz Zumutbarkeit der Untersuchung nicht auf ihre Verletzung hin überprüften Schutzrechte verloren geht (OLG Düsseldorf GRUR-RR 2021, 300 - Insulinpumpe; GRUR 2017, 1107 Rn. 31 f. - Östrogenblocker). Dieser Obliegenheit hat die Verfügungsklägerin indes nicht zuwidergehandelt. Im Gegenteil hat die Verfügungsklägerin mit der Beantragung einer einstweiligen Verfügung für das Gebrauchsmuster hinreichend deutlich zum Ausdruck gebracht, dass sie die Verletzung ihrer Schutzrechte und die Nutzung der damit geschützten technischen Lehre nicht hinnehmen und sich hiergegen mit allen erforderlichen gerichtlichen Mitteln wehren will. Für die Beantragung der einstweiligen Verfügung aus dem Verfügungspatent hat sie zudem keine weitere Zeit in Anspruch genommen, sondern diese unmittelbar nach dessen Erteilung bei Gericht nachgesucht.
II.
57
Die bei der Prüfung des Verfügungsgrundes vorzunehmende Interessenabwägung fällt zu Gunsten der Verfügungsklägerin aus. Das Erfordernis des Verfügungsgrundes umfasst in Patentstreitigkeiten auch die Frage des Rechtsbestandes des Verfügungspatents. Dieser ist vorliegend hinreichend gesichert (1.). Auch die Interessenabwägung im Übrigen fällt zugunsten der Verfügungsklägerin aus (2.).
58
1. a) Nach der bisherigen Rechtsprechung der Oberlandesgerichte Düsseldorf, Karlsruhe und München ist im Rahmen des Verfügungsgrundes darzulegen und glaubhaft zu machen, dass der Rechtsbestand des Verfügungspatents jedenfalls hinreichend gesichert ist, wobei den Verfügungskläger insoweit die Darlegungs- und Glaubhaftmachungslast dafür trifft, dass die vom Verfügungsbeklagten gegen das Verfügungspatent vorgebrachten Einwendungen unberechtigt sind (vgl. statt aller OLG Düsseldorf, lnstGE 12, 114 = BeckRS 2010, 15862 -Harnkatheterset). Dabei kann nach der bisherigen Rechtsprechung des Oberlandesgerichts Düsseldorf, der sich das Oberlandesgericht München im Jahr 2020 teilweise angeschlossen hat (wegen der bis dahin geltendend hiervon abweichenden ständigen Rechtsprechung vgl. OLG München GRUR-RS 2017, 118983 - Pemetrexed, Rn. 88 und 100), grundsätzlich nur dann von einem hinreichend gesicherten Rechtsbestand ausgegangen werden, wenn das Verfügungspatent bereits ein erstinstanzliches Einspruchs- oder Nichtigkeitsverfahren überstanden hat (OLG München, GRUR 2020, 385 - Elektrische Anschlussklemme; OLG Düsseldorf, GRUR-RR 2008, 329 = lnstGE 9, 140 (146) - Olanzapin; OLG Düsseldorf, GRUR-RR 2013, 236 - Flupirtin-Maleat; OLG Düsseldorf, lnstGE 12, 114 BeckRS 2010, 15862 - Harnkatheterset). Von dem Erfordernis einer dem Verfügungskläger günstigen streitigen Rechtsbestandsentscheidung soll danach nur in Ausnahmefällen abgesehen werden können. Ein solcher Ausnahmefall könne vorliegen, wenn das Verfügungspatent allgemein als schutzfähig anerkannt wird (was sich in dem Vorhandensein namhafter Lizenznehmer oder dergleichen widerspiegele), die gegen den Rechtsbestand vorgebrachten Einwendungen sich schon bei der im vorläufigen Rechtsschutzverfahren gebotenen summarischen Prüfung als haltlos erweisen, oder außergewöhnliche Umstände gegeben sind, die es für den Verfügungskläger wegen der ihm aus einer Fortsetzung der Verletzungshandlungen drohenden Nachteile unzumutbar machen, den Ausgang eines Einspruchs- oder Nichtigkeitsverfahrens abzuwarten (OLG Düsseldorf BeckRS 2010, 15862 - Harnkatheterset).
59
Außergewöhnliche Umstände seien bei Verletzungshandlungen von Generikaunternehmen regelmäßig anzunehmen (OLG Düsseldorf, GRUR-RR 2013, 236 - Flupirtin-Maleat).
60
b) Auch wenn es vorliegend im Ergebnis nicht ankommt, da auch nach der bisherigen Rechtsprechung des Oberlandesgerichts Düsseldorf, der sich das Oberlandesgericht München im Jahr 2020 teilweise angeschlossen hat, bei Verfügungsanträgen wegen Patentverletzungen durch Generikaunternehmen regelmäßig das Erfordernis des Vorliegens einer für den Verfügungskläger günstigen streitigen Rechtsbestandsentscheidung entfällt, geht die Kammer jedenfalls für europäische Patente mit dem Unionsgesichtshof (vgl. EuGH, Urteil vom 30. Januar 2020 - C-307/18, Rn. 48 = BeckRS 2020, 490 - Paroxetin; zitiert im Urteil vom 28. April 2022 - C- 44/21 Rn. 41 = GRUR 2022, 811 -Phoenix Contact/Harting) davon aus, dass für Europäische Patente ab dem Zeitpunkt der Veröffentlichung ihrer Erteilung eine Vermutung der Gültigkeit streitet (vgl. bereits LG München 1 GRUR-RS 2022, 26511 Rn. 68 - Fingolimod).
61
Für die im Rahmen des Verfügungsgrundes vorzunehmende Prüfung des hinreichenden gesicherten Rechtsbestandes des Verfügungspatents bedeutet dies, dass aufgrund der Vermutung der Gültigkeit zunächst von einem gesicherten Rechtsbestand auszugehen ist und es im zweiseitigen einstweiligen Verfügungsverfahren dem Antragsgegner/Verfügungsbeklagten obliegt, diese Vermutung zu erschüttern. Durch die Vorlage einer für den Bestand des geltend gemachten Patentanspruchs (vorläufigen) negativen Einschätzung aus dem Bestandsverfahren wird die Vermutung der Gültigkeit regelmäßig erschüttert. Dies gilt grundsätzlich auch für (vorläufige) negative Einschätzungen aus inländischen oder ausländischen Bestandverfahren betreffend Parallelschutzrechte, die dieselbe Priorität in Anspruch nehmen (vgl. LG München 1, ebd.; BeckRS 2017, 141696 Rn. 16). Hat der Antragsgegner/Verfügungsbeklagte erhebliche Gründe, die zur Überzeugung der Kammer eine überwiegende Wahrscheinlichkeit der Vernichtung des Verfügungspatents begründen, vorgetragen und gegebenenfalls glaubhaft gemacht und mithin die Vermutung der Gültigkeit erschüttert, obliegt es wiederum dem Antragsteller/Verfügungskläger darzulegen und gegebenenfalls glaubhaft zu machen, dass der Rechtsbestand des Verfügungspatents trotz der gegen den Rechtsbestand erhobenen Angriffe hinreichend gesichert ist.
62
Im Falle des Vorliegens (vorläufiger) negativer Einschätzungen aus in- oder ausländischen Bestandsverfahren ist vom Antragsteller/Verfügungskläger insoweit auch vorzutragen und gegebenenfalls glaubhaft zu machen (vgl. LG München 1 GRUR-RS 2015, 07460; BeckRS 2017, 126085; BeckRS 2017, 141696; BeckRS 2019, 2009; BeckRS 2019, 6225; BeckRS 2019, 18565), dass und warum die (vorläufige) negative Einschätzung fehlerhaft ist (Diagnose) und im weiteren Gang des Bestandsverfahren überwunden werden wird (Prognose). Die dazu notwendige Argumentation ist schriftsätzlich so aufzubereiten, dass die Kammer in die Lage versetzt wird, diese Beurteilung sicher treffen zu können. Ist eine sichere Beurteilung der Ausführungen zur Diagnose und Prognose nicht möglich, wird der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung regelmäßig zurückzuweisen sein (vgl. LG München 1 GRUR-RS 2022, 26511 Rn. 68 - Fingolimod).
63
Damit Zweifel am Rechtsbestand des Verfügungspatents sich in einer Zurückweisung des Verfügungsantrags niederschlagen können, muss das Verfügungsschutzrecht allerdings mit einem Einspruch oder einer Nichtigkeitsklage angegriffen werden, weil nur diese es tatsächlich zu Fall bringen können (OLG Düsseldorf, lnstGE 7, 147 - Kleinleistungsschalter). Daher ist es regelmäßig nicht ausreichend, im einstweiligen Verfügungsverfahren lediglich Einspruchs- oder Nichtigkeitsgründe aufzuzeigen, die zu einer Vernichtung des Verfügungspatents führen könnten, solange nicht spätestens bis zum Schluss der letzten mündlichen Verhandlung im Verfügungsverfahren tatsächlich beim Deutschen Patent- und Markenamt, beim Europäischen Patentamt oder beim Bundespatentgericht ein Verfahren eröffnet wurde, in dem aufgrund dieses Vorbringens ein Widerruf bzw. die Nichtigerklärung des Patents erfolgen kann. Liegt zwischen der Kenntnis des Verfügungsbeklagten vom Verletzungsvorwurf und dem Verhandlungstermin ein nur kurzer Zeitraum, innerhalb dessen dem Verfügungsbeklagten nicht zugemutet werden kann, das Verfügungspatent mit einem förmlichen Rechtsbehelf anzugreifen, muss zumindest zweifelsfrei absehbar sein, dass der Rechtsbestand des Verfügungsschutzrechts zu gegebener Zeit angegriffen werden wird (vgl. LG München 1 GRUR-RS 2022, 26511 Rn. 69 - Fingolimod; OLG Düsseldorf, Urteil vom 29. April 2010 - 1-2 U 126/09 - Harnkatheterset).
64
Zudem ist es erforderlich, dass der Antragsgegner/Verfügungsbeklagte in einer rechtzeitig eingereichten, in sich geschlossenen, verständlichen, vollständigen, zusammenhängenden und schlüssigen schriftsätzlichen Darstellung zu den Entgegenhaltungen und den daraus abgeleiteten sowie sonstigen Angriffen auf den Rechtsbestand vorträgt. Hierbei ist ein alleiniger Verweis auf Anlagen, insbesondere die Einspruchsschrift oder die Nichtigkeitsklage und Anlagen hierzu, in der Regel nicht ausreichend.
65
Denn allgemein reicht eine Bezugnahme auf Anlagen allenfalls dann aus, wenn diese Anlagen selbst den Anforderungen an schriftsätzliches Vorbringen im Zivilprozess genügen. Dies ist jedoch bei einem an das Deutsche Patent- und Markenamt, das Europäische Patentamt oder das Bundespatentgericht gerichteten Schriftsatz oftmals nicht der Fall (vgl. LG München 1 GRUR-RS 2022, 26511 Rn. 70 - Fingolimod).
66
c) Danach ist der Rechtsbestand des Verfügungspatents vorliegend als hinreichend gesichert anzusehen. Die schriftsätzlich bzw. in der mündlichen Verhandlung vorgetragenen Angriffe gegen den Rechtsbestand des Verfügungspatents rechtfertigen es nicht, einen Verfügungsgrund zu verneinen. Insbesondere rechtfertigt es der Vortrag der Verfügungsbeklagten zur fehlenden Neuheit bzw. dem fehlenden erfinderischen Schritt ausgehend von den Entgegenhaltungen AG 4 und AG 6 keine Ablehnung des Verfügungsgrundes.
67
Die Entgegenhaltung AG 4, bei der es sich um die Gebrauchsinformation für Anwender für das Arzneimittel „VELCADE ® 3,5 mg Pulver zur Herstellung einer Injektionslösung Bortezomib“ handelt, offenbart nicht eindeutig und unmittelbar die technische Lehre von Anspruch 1 des Verfügungspatents.
68
(1.) Die Entgegenhaltung offenbart bereits keine gebrauchsfertige pharmazeutische Lösung im Sinne der Merkmalsgruppe 1. Wie unter A. I. 4. b) dargelegt, versteht der Fachmann unter „gebrauchsfertig“ im Sinne des Verfügungspatents ein Arzneimittel, das unmittelbar, das heißt ohne weitere Zubereitungs- und/oder Vorbereitungshandlungen dem Patienten applizierbar ist.
69
Das Arzneimittel, auf welches sich die Gebrauchsinformation gemäß der Anlage AG 4 bezieht, muss demgegenüber erst noch zubereitet werden. Es handelt sich um das VELCADE Pulver zur Herstellung einer Injektionslösung (Anlage AG 4, S. 8). Das bedeutet, das VELCADE-Pulver muss sich vor der Anwendung vollständig aufgelöst haben. Diese Rekonstituierung wird von medizinischem Fachpersonal durchgeführt. Die gebrauchsfertige Lösung wird dann entweder in eine Vene oder unter die Haut injiziert“ (Anlage AG 4, S. 4). Demgemäß kann „VELCADE ® 3,5 mg Pulver zur Herstellung einer Injektionslösung Bortezomib“ gerade nicht unmittelbar an den Patienten verabreicht werden, so dass es keine gebrauchsfertige Lösung im Sinne des Verfügungspatents darstellt.
70
(2.) Soweit die Verfügungsbeklagten darauf abstellen, die Anlage AG 4 offenbare die erfindungsgemäße Lösung, da sie in dem Moment, in dem sie zubereitet, d.h. rekonstituiert worden ist, gebrauchsfertig sei und das „result-to-be-achieved-Merkmal aufweise, wonach bei einer Temperatur von 2 bis 8°C eine Laufzeit von zumindest 3 Monaten vorliege und der Bortezomibgehalt bis zum Ende der Laufzeit 90% des ursprünglich eingesetzten Bortezomibs nicht unterschreite, verfängt dies nicht.
71
Die Behauptung der Verfügungsbeklagten, dasjenige VELCADE ® 3,5 mg Pulver, das zum Prioritätszeitpunkt verwendet worden sei, weise exakt diejenigen Eigenschaften auf, wie sie vom Verfügungspatent beansprucht werden, ist von der Verfügungsklägerin bestritten worden. Zwar verweisen die Verfügungsbeklagten insoweit auf die von ihnen durchgeführten Stabilitätsuntersuchungen an Bortezomib Injektionslösungen aus rekonstituiertem Velcade® gemäß der Anlage AG 9. Hierzu hat die Verfügungsklägerin vorgetragen, die Studie sei schon deswegen ungeeignet, da unklar sei, ob vor dem Prioritätstag zur Verfügung stehende Vials in jeder Beziehung identisch zu den untersuchten seien. Aufgrund von Qualitätsschwankungen und Optimierungen im Produktionsprozess, der gerade im Zusammenhang mit der technisch komplizierten Lyophilisierung vorliegend Bedeutung habe, könnten heute im Handel erhältliche Produkt keine taugliche Grundlage für die Feststellung eines Standes der Technik im Prioritätszeitpunkt bilden. Darüber hinaus sei nicht nachvollziehbar, ob die durch die Verfügungsbeklagten vorgenommene Rekonstitution der Lösung den Bedingungen im Klinikalltag entsprochen habe.
72
Diesem beachtlichen Vortrag der Verfügungsklägerin sind die Verfügungsbeklagten nicht mehr entgegengetreten. Das Gericht kann aus der Anlage AG 9 nicht entnehmen, unter welchen Bedingungen die Versuche gemacht wurden. Der Bericht führt hierzu unter 6 „Durchführung“ aus, dass Vials von Velcade® entsprechend den Angaben der SmPC mit 1.4 ml 0,9% NaCI rekonstituiert wurden und die rekonstituierten Proben bei 2-8°C gelagert wurden. Ob dies unter Labor- oder unter Klinikbedingungen geschah wird nicht mitgeteilt, bleibt für das Gericht somit unklar und geht zulasten der darlegungsbelasteten Verfügungsbeklagten.
73
(3.) Die von den Verfügungsbeklagten zitierte Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Frage der Neuheit von Stofferfindungen (vgl. BGH GRUR 2011, 129 - Fentanyl-TTS; 2012, 1133 - UVunempfindliche Druckplatte) steht der Neuheit nicht entgegen. Denn vorliegend geht es nicht um die Neuheit eines Stoffes an sich, sondern um einen weiteren technischen Effekt eines bereits als therapeutisch wirksam bekannten Stoffes. Die beanspruchte Erfindung betrifft eine weitere medizinische Indikation. Wie die Beschreibung des Verfügungspatents ausführt, war der Stoff Bortezomib bzw. die Stoffkombination aus Bortezomibester der Bildungskomponente Mannitol im Stand der Technik als therapeutisch wirksam bekannt. Für diese therapeutisch wirksame Stoffkombination vermittelt die Lehre des Verfügungspatents den weiteren technischen Effekt, dass sie über einen Zeitraum von drei Monaten ihre Stabilität und damit pharmazeutische Wirksamkeit beibehält.
74
Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist Gegenstand eines auf die Verwendung eines Stoffs zur Behandlung einer Krankheit gerichteten Patentanspruchs die Eignung des Stoffes für einen bestimmten medizinischen Einsatzzweck und damit letztlich eine dem Stoff innewohnende Eigenschaft (BGHZ 164, 220 = GRUR 2006, 135 - Arzneimittelgebrauchsmuster). Dies entspricht in der Sache einem zweckgebundenen Stoffschutz, wie ihn § 3 Abs. 4 PatG und Art. 54 Abs. 5 EPÜ in der seit 13.12.2007 geltenden Fassung ausdrücklich vorsehen. Dies gilt unabhängig davon, ob der Patentanspruch seinem Wortlaut nach auf zweckgebundenen Stoffschutz, auf die Verwendung des Medikaments oder auf dessen Herrichtung zu einem bestimmten Verwendungszweck gerichtet ist (BGH GRUR 2016, 921 - Rn. 83 Pemetrexed mit Verweis aus BGHZ 200, 229 Rn. 17 = GRUR 2014, 461 - Kollagenase 1).
75
Der Bundesgerichtshof hat ferner klargestellt, dass die spezifische Anwendung eines Stoffs zur therapeutischen Behandlung nicht nur durch die zu behandelnde Krankheit und die Dosierung bestimmt wird, sondern auch durch sonstige Parameter, die auf die Wirkung des Stoffs Einfluss haben und damit für den Eintritt des mit der Anwendung angestrebten Erfolgs von wesentlicher Bedeutung sein können (BGH, a.a.O., Ls. 2). Die eine Neuheit im Sinne von § 3 Abs. 4 PatG begründenden Parameter können wegen § 2 a Abs. 1 Nr. 2 PatG nur solche sein, die objektiv darauf abzielen, die Wirkung des Stoffs zu ermöglichen, zu verstärken, zu beschleunigen oder in sonstiger Weise zu verbessern (BGH, a.a.O., Ls. 3).
76
Der technische Effekt des Verfügungspatents liegt in der längeren Stabilität des Arzneimittels. Zum Prioritätszeitpunkt wurde das rekonstituierte Arzneimittel nur wenige Stunden aufbewahrt und anschließend vernichtet. Die ergibt sich aus der Anlage AG 4, in der es unter Ziffer 5 (S. 8) heißt:
„Die gebrauchsfertige Lösung muss nach der Zubereitung unverzüglich angewendet werden. Wenn die gebrauchsfertige Lösung nicht unverzüglich eingesetzt wird, ist der Anwender für die Dauer und die Bedingungen der Aufbewahrung vor der Anwendung verantwortlich. Die gebrauchsfertige Lösung ist in der Origin.al-Durchstechflasche und/oder der Spritze gelagert 8 Stunden bei 25°C stabil, wobei die gesamte Aufbewahrungsdauer für das gebrauchsfertige Arzneimittel vor der Anwendung einen Zeitraum von 8 Stunden nicht überschreiten darf.
VELCADE ist nur zur einmaligen Anwendung bestimmt. Nicht verwendetes Arzneimittel oder Abfallmaterial ist entsprechend den nationalen Anforderungen zu beseitigen.“
77
Ferner erläutert die Gebrauchsinformation unter Ziffer 1.3 (S. 11):
„Die gebrauchsfertige Lösung ist frei von Konservierungsstoffen und muss nach der Zubereitung unverzüglich angewendet werden. Die chemische und physikalische Stabilität wurde für 8 Stunden bei 25°C in der Originaldurchstechflasche und/oder einer Spritze belegt. Die gesamte Aufbewahrungsdauer für das gebrauchsfertige Arzneimittel vor der Anwendung darf einen Zeitraum von 8 Stunden nicht überschreiten. Wenn die gebrauchsfertige Lösung nicht unverzüglich eingesetzt wird, ist der Anwender für die Dauer und die Bedingungen der Aufbewahrung vor der Anwendung verantwortlich.“
78
Unter Ziffer 3 auf derselben Seite wird erklärt:
„Eine Durchstechflasche ist nur zur einmaligen Anwendung bestimmt und die verbleibende Lösung muss verworfen werden. Nicht verwendetes Arzneimittel oder Abfallmaterial ist entsprechend den nationalen Anforderungen zu beseitigen.“
79
Demgegenüber kann das gebrauchsfertige Arzneimittel gemäß Patentanspruch 1 des Verfügungspatents über einen Zeitraum von drei Monaten verwendet werden. Das stellt einen Parameter dar, der objektiv darauf abzielt, die Wirkung des Stoffs in sonstiger Weise zu verbessern, nämlich über einen längeren Zeitraum seine Stabilität zu gewährleisten und damit die therapeutische Anwendbarkeit zu verbessern (BGH, a.a.O., Ls. 3).
80
Der Umstand, dass nach der Entscheidung BGH GRUR 2011, 999 - Memantin, eine neue Lehre zum technischen Handeln nicht begründet werden kann, wenn der Stoff in der Vergangenheit an der Krankheit leidenden Patienten zur Behandlung - wie etwa zur Linderung der Krankheitssymptome - bereits verabreicht worden ist, steht der Neuheit gleichfalls nicht entgegen. Denn die Neuheit entfällt nur dann, wenn der Stoff schon gezielt zur Behandlung dieser Erkrankung oder ihrer Symptome eingesetzt wurde bzw. ihre Eignung für diesen Zweck erkannt wurde.
81
Fehlt es an dieser Erkenntnis, ist eine medizinische Indikation bei bekannten Wirkstoffen neu, auch wenn diese Wirkung infolge der Verabreichung bei anderen Erkrankungen in der Vergangenheit eingetreten ist, ohne erkannt zu werden. In diesem Falle wird Schutz gerade für die bisher nicht zum Stand der Technik gehörende, weil nicht erkannte gezielte Anwendung bei einer bestimmten Erkrankung gewährt. Dass diese Wirkung schon zwangsläufig eingetreten sein muss, berührt wegen der fehlenden Kenntnis die Schutzfähigkeit nicht (Melullis, in: Benkard, PatG, 10. Auflage 2015, § 3 Rn. 384).
82
Nicht wesentlich anders verhält es sich vorliegend. Selbst unterstellt, die Behauptung der Verfügungsbeklagten sei zutreffend, das rekonstituierte Velcade® habe schon im Prioritätszeitpunkt die Eigenschaft der Stabilität für drei Monate aufgewiesen, ist es - wie die Anlage AG 4 deutlich vor Augen führt -, nie später als acht Stunden nach der Rekonstitution therapeutisch angewendet worden. Dass es als Stoff mit allen beanspruchten Eigenschaften möglicherweise schon bereitstand, berührt die Neuheit nicht, weil der Patentanspruch auf eine therapeutische Verwendung über einen Zeitraum von 3 Monaten gerichtet ist und eine solche gerade bisher nicht erfolgte. Die technische Lehre des Verfügungspatents, wonach die gebrauchsfertige flüssige pharmazeutische Lösung bei einer Temperatur von 2 bis 8°C eine Laufzeit von zumindest 3 Monaten aufweist und der Bortezomibgehalt dabei bis zum Ende der Laufzeit 90% des ursprünglich eingesetzten Bortezomibs nicht unterschreitet, vermittelt mithin eine neue technische Anwendbarkeit des Stoffes.
83
(4.) Ferner ist zu berücksichtigen, dass die mittels eines lyophilisierten Pulvers erst gebrauchsfertig herzustellende Lösung etwas anderes ist als die vom Verfügungspatents beanspruchte. Letztere zeichnet sich dadurch aus, dass sie bereits gebrauchsfertig ist. Der Stand der Technik offenbarte mithin nicht die dreimonatige Stabilität im Hinblick auf den Wirkstoff Bortezomib in einer von Anfang an gebrauchsfertigen, flüssigen,pharmazeutischen Lösung, sondern die einer erst rekonstituierten flüssigen pharmazeutischen Lösung.
84
bb) Auch die Entgegenhaltung AG 6 trifft weder allein noch im Verbund mit dem notorischen Fachwissen die verfügungspatentgemäße Lehre neuheitsschädlich.
85
(1.) Eine neuheitsschädliche Offenbarung verlangt, dass sämtliche Merkmale des streitgegenständlichen Patentanspruchs für den maßgeblichen Fachmann eindeutig und unmittelbar der Entgegenhaltung zu entnehmen sind (BGH GRUR 2009 Rn. 25 - Olanzapin). Offenbart kann auch dasjenige sein, was im Patentanspruch und in der Beschreibung nicht ausdrücklich erwähnt ist, aus der Sicht des Fachmanns jedoch für die Ausführung der unter Schutz gestellten Lehre selbstverständlich ist und deshalb keiner besonderen Offenbarung bedarf, sondern „mitgelesen“ wird. Die Einbeziehung von Selbstverständlichem erlaubt jedoch keine Ergänzung der Offenbarung durch das Fachwissen, sondern dient, nicht anders als die Ermittlung des Wortsinns eines Patentanspruchs, lediglich der vollständigen Ermittlung des Sinngehalts, d.h. derjenigen technischen Information, die der fachkundige Leser der Quelle vor dem Hintergrund seines Fachwissens entnimmt (BGH, a.a.O., Rn. 26).
86
(2.) Die Anlage AG 6 berichtet über eine Versuchsanordnung betreffend die Stabilität von mit 0,9%igem Natriumchlorid rekonstituiertem Bortezomib bei 4°C und Raumtemperatur (23°C) und deren Ergebnisse. Ausgangspunkt der Untersuchung sei, dass in der Bortezomib-Produktmonographie auf die geringe Haltbarkeit des rekonstituierten Arzneimittel s von nur acht Stunden hingewiesen wird. Daraus folge in Anbetracht der Produktverpackung und der Fläschchengröße sowie des derzeit empfohlenen Dosierungsschemas eine erhebliche Verschwendung. Denn es seien etwa 13.000 US-Dollar für eine 5-Zyklen-Therapie mit Bortezomib für einen einzelnen Patienten aufzuwenden sind. Ziel der Studie sei es daher, die Stabilität von Bortezomib (3,5-mg-Fläschchen) zu bewerten, das mit 3,5 ml 0,9% Natriumchlorid (NS) rekonstituiert wurde, um eine 1-mg/ml-Lösung herzustellen und durch bessere Erkenntnisse über die Stabilität gegebenenfalls eine finanzielle und materielle Ressourcenschonung herbeizuführen (vgl. Anlage AG 6 „ABSTRACT“).
87
Dabei wiederholen die Studienautoren eine Studie mit gleicher Zielsetzung, die von André u.a. „kurz zuvor“ durchgeführt worden sei. Die Autoren berichten, die Entscheidung, die Studie von André u.a. zu wiederholen, beruhe auf drei Faktoren: Erstens hätten André u.a. die Lösung untersucht, die nach der Entnahme der Patientendosen in einem Fläschchen verblieben war (d.h. Abfall); zweitens hätten sie ihre Probenanalyse abgebrochen, nachdem die Konzentration an einem Tag unter 90% gefallen war; und drittens hätten sie keine 95%-Konfidenzintervalle (KI) für den an den letzten Studientagen verbliebenen Prozentsatz angegeben. Darüber hinaus hätte die Analyse der von André u.a. berichteten Durchschnittsdaten eine Stabilität während der ersten fünf Tage bei 5°C gezeigt, gefolgt von einem schnelleren Rückgang der Konzentration zwischen Tag 8 und 11.
88
Bei näherer Betrachtung hätten sich die Abweichungen zwischen den beobachteten Daten und der durch lineare Regression geschätzten Restmenge für Tag 8 (Spritzen) und Tag 11 (Fläschchen) verdoppelt, was darauf hindeute, dass das von André u.a. berichtete Verfallsdatum verlängert werden könnte.
89
Die Autoren diskutieren ihre Ergebnisse in Abgrenzung zu denen von André u.a. Laut den Ergebnissen dieser Studie sei zwar eine Stabilität während der ersten fünf Tage bei 5°C festgestellt worden, doch daraufhin ein schnellerer Konzentrationsabfall zwischen dem achten und elften Tag erfolgt. André u.a. berichteten, dass Bortezomib besonders oxidationsempfindlich sei. Der Stickstoff in der Velcade-Durchstechflasche begrenze die Oxidation bis zur Rekonstitution, aber Velcade selbst enthalte kein Antioxidans, das die Oxidation nach der Rekonstitution begrenze. André u.a. berichteten zudem, dass die Luft aus den in ihrer Studie verwendeten Fläschchen nicht entfernt wurde. Die Autoren der AG 6 meinen jedoch, André u.a. hätten eine Lösung verwendet, die nach der Zubereitung der Patientendosen in den Fläschchen verblieb, so dass es möglich sei, dass in ihre Fläschchen im Vergleich zu denen, die in der aktuellen Studie verwendet worden seien, eine größere Menge Sauerstoff eingebracht wurde und dass dieser Sauerstoff zum Abbau beigetragen haben könnte. Gemäß der Erfahrung der Studie AG 6 sei der Abbau durch Sauerstoff ein langsamer Prozess und führe im Allgemeinen nicht zu Verlusten von annähernd 1% pro Tag bei 5°C oder sogar 23°C. Deswegen kämen sie zu dem Schluss, dass Bortezomib-Lösungen von 1 mg/ml, die in der Durchstechflasche des Herstellers bis zu 42 Tage bei 4°C oder bei Raumtemperatur gelagert werden, stabil seien und mehr als 98% der ursprünglichen Bortezomib-Konzentration während der Lagerungszeit beibehalten (vgl. Anlage AG 6 S. 20, vorletzter Absatz).
90
In der Anmerkung am Ende macht die Studie folgende Ausführung:
„Seit September 2007 besagt die Produktmonographie für Bortezomib, dass das Arzneimittel nach der Rekonstitution bis zu 8 Stunden in einer Durchstechflasche oder Spritze gelagert werden kann. Die Änderung der Monographie wurde vorgenommen, nachdem diese Arbeit zur Veröffentlichung angenommen wurde.“
91
(3.) Dieser Offenbarungsgehalt nimmt die erfinderische Lehre nicht neuheitsschädlich vorweg.
92
Die Entgegenhaltung AG 6 offenbart unstreitig allein eine Stabilität einer rekonstituierten Bortezomib-Lösung für einen Zeitraum von 42 Tagen. Hinsichtlich einer darüberhinausgehenden, der technischen Lehre des Verfügungspatents entsprechenden Stabilität, berichtet sie nichts. Demnach ist das Merkmal 1.4 bzw. 1.5 des Verfügungspatentanspruchs nicht eindeutig und unmittelbar offenbart.
93
Dieser Umstand kann auch nicht, wie von den Verfügungsbeklagten behauptet, durch Fachwissen zu einer neuheitsschädlichen Offenbarung ergänzt werden. Es ist zu berücksichtigen, dass die Beurteilung des Offenbarungsgehalts der Vorveröffentlichung die Ermittlung ihres Gesamtinhalts erfordert (BGH GRUR 2009, 382 Rn. 25 - Olanzapin). Der Offenbarungsgehalt wird bestimmt durch den Gegenstand der Vorveröffentlichung und dessen gesamten Informationsgehalt (BGHZ 128, 270 (275) - Elektrische Steckverbindung).
94
Die Verfügungsbeklagten behaupten demgegenüber, der die Anlage AG 6 lesende Fachmann hätte die Ergebnisse der Versuche, wonach die Stabilität der rekonstituierten Bortezomib-Lösung für 42 Tagen unter bestimmten Lagerbedingungen gewährleistet sei, zum Anlass genommen, diese hochzurechnen und auf einen Zeitraum von drei Monaten zu interpolieren. Das sei möglich, da er nach der Information aus der Anlage AG 6 davon habe ausgehen können, dass sich die Stabilität auch über einen Zeitraum von drei Monate nicht ändere.
95
Die Studie enthält indes keinerlei expliziten Hinweis darauf, dass das gefundene Ergebnis interpolierbar ist und falls ja, bis zu welchem Zeitpunkt (50 Tage, 90 Tage?). Ein linearer Abbau des Wirkstoffgehalts über den beobachteten Zeitraum hinaus, wird nicht explizit offenbart.
96
Der Fachmann hätte zudem auch die Anmerkung am Schluss der Entgegenhaltung zur Kenntnis genommen, wonach die untersuchte Lösung derzeit nur bis zu acht Stunden nach der Rekonstitution therapeutisch angewendet wird.
97
Einer Interpolation der Daten steht weiter entgegen, dass die Autoren der Studie in der Anlage AG 6 nicht nur zur Erklärung des Ausgangspunkts ihrer Untersuchung, sondern auch im Rahmen der Diskussion ihrer Ergebnisse („Discussion“) über die Studie von André u.a. berichten, die zu anderen, abweichenden Ergebnissen gekommen ist. Aufgrund der geschilderten widerstreitenden Ergebnisse in der Anlage AG 6, des dort fehlenden eindeutigen Hinweises bezüglich einer möglichen Interpolation und des Verweises auf die kurze therapeutische Anwendung der untersuchten Lösung kann nicht angenommen werden, ein Fachmann habe die Ergebnisse der Anlage AG 6 ohne weiteres interpoliert, so dass ihm eine Stabilität gemäß dem Verfügungspatent offenbart wäre.
98
Außerdem beinhaltet zwar der Offenbarungsgehalt einer Entgegenhaltung auch dasjenige, was in den Merkmalen des Patentanspruchs und im Wortlaut der Beschreibung nicht ausdrücklich erwähnt, aus der Sicht des Fachmanns jedoch nach seinem allgemeinen Fachwissen für die Ausführung der unter Schutz gestellten Lehre selbstverständlich oder unerlässlich ist und deshalb keiner besonderen Offenbarung bedarf. Dadurch erfolgt indes keine Ergänzung der Offenbarung durch das Fachwissen, sondern nur derjenigen technischen Information, die der fachkundige Leser der jeweiligen Quelle vor dem Hintergrund seines Fachwissens entnimmt. Abwandlungen und Weiterentwicklungen dieser Information gehören ebenso wenig zum Offenbarten wie diejenigen Schlussfolgerungen, die der Fachmann kraft seines Fachwissens aus der erhaltenen technischen Information zu ziehen vermag (BGH GRUR 2009, 382 Rn. 26 - Olanzapin).
99
Die Durchführung einer Interpolation entspricht nicht dem, was nach der soeben dargestellten Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs vom Fachmann mitgelesen wird. Es handelt sich stattdessen um eine (mathematische) Weiterentwicklung und Schlussfolgerung betreffend den Offenbarungsgehalt, die über dasjenige hinausgeht, was der Fachmann der Entgegenhaltung unmittelbar und eindeutig entnimmt.
100
cc) Die verfügungspatentgemäße Lehre ist ferner nicht nahegelegt.
101
Sofern die Verfügungsbeklagten zur Darstellung des Gegenteils auf die Anlage AG 6 verweisen, kann auf die Ausführungen unter bb) (3) verwiesen werden. Es kann angesichts der dort dargestellten widersprüchlichen Aussagen in der Studie nicht davon ausgegangen werden, dass der Fachmann nach Lesen der Studie eine Anregung gehabt hätte, einen über das Ergebnis der Studie hinausgehenden Stabilitätszeitraum zu untersuchen. Vielmehr wäre er wegen der widersprüchlichen Angaben in der Studie von André u.a., die er ebenfalls herangezogen hätte und dem in der Studie am Schluss zitierten Hinweis aus der Gebrauchsinformation, davon weggeführt worden, weitere Stabilitätsstudien anzustellen.
102
Auch die gleichzeitige Kenntnisnahme der Entgegenhaltungen AG 4 und AG 6 hätte dem Fachmann die technische Lehre des Verfügungspatentanspruchs 1 nicht nahegelegt.
103
Der Fachmann war bereits über die Anmerkung im letzten Absatz der AG 6 über die zeitlich sehr beschränkte therapeutische Anwendbarkeit rekonstituierten Bortezomibs informiert. Es macht daher keinen Unterschied hinsichtlich der Frage des Naheliegens, ob der Fachmann die Entgegenhaltung AG 6, die die Kernaussage der Entgegenhaltung AG 4 im letzten Absatz enthält, allein zur Kenntnis nimmt oder zusätzlich dazu die AG 4. dd) Demnach konnten die Verfügungsbeklagten die durch den Erteilungsakte geschaffene Bestandsvermutung nicht erschüttern. Zweifel an der Rechtsbeständigkeit des Verfügungspatents stehen der Annahme eines Verfügungsgrundes mithin nicht entgegen.
104
2. a) Im Übrigen fällt die Interessenabwägung unter Berücksichtigung der Besonderheiten dieses Einzelfalls zugunsten der Verfügungsklägerin aus, wobei zu beachten ist, dass grundsätzlich das Interesse des Verfügungsklägers/Antragstellers an dem Erlass einer einstweiligen Verfügung vorrangig ist, wenn der Verfügungsanspruch und der Rechtsbestand hinreichend glaubhaft gemacht sind. Die Zurückweisung einer einstweiligen Verfügung kommt nur dann in Betracht, wenn die aus ihrer Vollstreckung den Verfügungsbeklagten erwachsenden Nachteile deutlich über die üblicherweise mit einem Unterlassungsgebot einhergehenden Eingriffe hinausgehen. Hierfür bestehen vorliegend keine greifbaren Anhaltspunkte.
105
b) Es sind keine durchgreifenden Gründe erkennbar, warum es der Verfügungsklägerin zuzumuten sein sollte, die weitere Präsenz des patentverletzenden Produkts hinzunehmen und stattdessen bei einer Verurteilung der Verfügungsbeklagten in einem Hauptsacheprozess auf Schadenersatzansprüche verwiesen zu werden. Die Verfügungsbeklagten wussten spätestens seit dem Antrag auf Erlassung einer einstweiligen Verfügung aus dem parallelen Gebrauchsmuster der Verfügungsklägerin, dass diese eine Verletzung der dadurch geschützten technische Lehre nicht bereit ist hinzunehmen. Sie wussten bzw. hätten aufgrund dieses Verfahrens wissen können, dass die Verfügungsklägerin auch über eine Patentanmeldung verfügt, für die in naher Zukunft ein Patent, das Verfügungspatent, zu erwarten ist.
106
Sie hätten demnach Vorkehrungen hierfür treffen können, indem sie beispielsweise ihre bereits produzierten Produkte abverkaufen und sich sodann vom Markt vorerst zurückziehen. Sie haben sich indes für eine andere Strategie entschieden, für deren Folgen sie in der hiesigen Interessenabwägung einzustehen haben.
107
Den Verfügungsbeklagten ist es ebenso möglich, dass insoweit unstreitig patentfreie Velcade® in der bisher bereits von anderen Marktteilnehmern vertriebenen Form als lyophilisiertes Pulver zu Herstellung einer rekonstituierten Lösung zu vertreiben. Es ist nicht erkennbar, dass sie oder Dritte darauf angewiesen wären, das verfügungspatentgeschützte Produkt zu vertreiben. Vor diesem Hintergrund scheidet ein Zurückstehen des Unterlassungsanspruchs im Wege der einstweiligen Verfügung aus.
108
Es bestehen schließlich keine Zweifel daran, dass der infolge einer sich nachträglich als rechtswidrig herausstellenden einstweiligen Verfügung verursachte Schaden von der Verfügungsklägerin ersetzt werden kann. Das Gericht hat nichtsdestotrotz eine Sicherheitsleistung als Voraussetzung für die Vollziehung der einstweiligen Verfügung angeordnet, deren Höhe sich mangels näherer Angaben der Verfügungsbeklagten an dem von der Antragstellerin angegebenen Streitwert orientiert.
C.
109
Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 ZPO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit aus § 709 ZPO.