Inhalt

VGH München, Beschluss v. 22.09.2025 – 1 CS 25.1381
Titel:

Kostenauferlegung bei verspäteter Erledigungserklärung

Normenkette:
VwGO § 92 Abs. 3 S. 1, § 155 Abs. 1 S. 2, Abs. 4, § 161 Abs. 2
Leitsätze:
1. Wirft der in der Hauptsache erledigte Rechtsstreit schwierige Sach- oder Rechtsfragen auf, so entspricht es regelmäßig billigem Ermessen, die Verfahrenskosten gem. § 155 Abs. 1 S. 2 VwGO zu teilen. (Rn. 4) (redaktioneller Leitsatz)
2. Das Prozessrecht setzt einem Antragsteller grundsätzlich keine zeitliche Grenze, einen Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt zu erklären; beruht aber die Notwendigkeit, ein Rechtsmittelverfahren zu führen, auf dem bisherigen prozessualen Verhalten des Rechtsmittelführers, entspricht es der Billigkeit, dass er die Kosten des Rechtsmittelverfahrens trägt. (Rn. 6) (redaktioneller Leitsatz)
3. Die Auferlegung der durch eine verspätete Erklärung verursachten Mehrkosten folgt der gesetzlichen Wertung des § 155 Abs. 4 VwGO. (Rn. 6) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
verspätete Erledigterklärung, Erledigung, Kostenentscheidung, billiges Ermessen, verspätete Erledigungserklärung, Verschulden, Kosten des Verfahrens, Zeitpunkt, Hauptsache, Prozessverhalten
Vorinstanz:
VG München, Beschluss vom 02.07.2025 – M 11 SN 25.2449
Fundstelle:
BeckRS 2025, 25623

Tenor

I. Das Verfahren wird eingestellt.
II. Der Beschluss des Verwaltungsgerichts München vom 2. Juli 2025 ist mit Ausnahme der Streitwertfestsetzung wirkungslos.
III. Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens. Die Kosten des erstinstanzlichen Verfahrens werden gegeneinander aufgehoben. Der Beigeladene trägt seine außergerichtlichen Kosten selbst.
IV. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 6.000 € festgesetzt.

Gründe

I.
1
Mit Bescheid vom 17. März 2025 erteilte das Landratsamt dem Beigeladenen, einer kreisangehörigen Gemeinde, die beantragte Baugenehmigung für den Neubau eines Feuerwehrgerätehauses. Der Antragsteller, der Eigentümer eines unmittelbar an das Baugrundstück angrenzenden Grundstücks ist, erhob am 22. April 2025 Klage gegen die Baugenehmigung und stellte einen Antrag im vorläufigen Rechtsschutzverfahren. Zur Begründung wurde im Wesentlichen vorgetragen, der Antragsgegner habe bei der Entscheidung über die Abweichung von den Abstandsflächen sein Ermessen fehlerhaft ausgeübt und seine Belange nicht ausreichend berücksichtigt. Zudem seien Lärm- und Luftimmissionen nicht hinreichend geprüft worden. Der beigeladene Markt hob nach Klageerhebung die geltende Satzung über abweichende Maße der Abstandsflächentiefe (im Folgenden: Abstandsflächensatzung) auf. Das Verwaltungsgericht München hat den Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Anfechtungsklage mit Beschluss vom 2. Juli 2025 abgelehnt.
2
Der Antragsteller hat gegen den Beschluss Beschwerde eingelegt und sinngemäß beantragt, die Kostenentscheidung zu seinen Gunsten zu ändern. Zur Begründung beruft er sich im Wesentlichen darauf, dass die Auferlegung der Kosten gegen Verfahrensrecht verstoße und ihn in eigenen Rechten verletzte.
II.
3
Die Beteiligten haben den Rechtsstreit in der Hauptsache übereinstimmend für erledigt erklärt. Daher ist das Verfahren in entsprechender Anwendung von § 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO einzustellen und gemäß § 161 Abs. 2 VwGO über die Kosten des Verfahrens nach billigem Ermessen zu entscheiden. Eine Zustimmung des Beigeladenen ist nicht erforderlich (vgl. BVerwG, U.v. 15.11.1991 – 4 C 27.90 – NVwZ-RR 1992, 276).
4
In der Regel entspricht es der Billigkeit, dem Beteiligten die Kosten aufzuerlegen, der ohne Eintritt des erledigenden Ereignisses voraussichtlich unterlegen wäre. Der in § 161 Abs. 2 VwGO zum Ausdruck kommende Grundsatz der Prozesswirtschaftlichkeit befreit jedoch nach Erledigung des Verfahrens in der Hauptsache das Gericht von dem Gebot, anhand eingehender Erwägungen abschließend über den Streitstoff zu entscheiden. Wirft der in der Hauptsache erledigte Rechtsstreit schwierige Sach- oder Rechtsfragen auf, so entspricht es nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung regelmäßig billigem Ermessen, die Verfahrenskosten gemäß § 155 Abs. 1 Satz 2 VwGO zu teilen (stRspr, vgl. BVerwG, B.v. 12.2.2024 – 2 VR 9.23 – juris m.w.N.).
5
Gemessen an diesen Grundsätzen entspricht es einerseits billigem Ermessen, die Kosten für das Verfahren vor dem Verwaltungsgericht gegeneinander aufzuheben (§ 155 Abs. 1 Satz 2 VwGO). Zur Beurteilung der Erfolgsaussichten des Antrages auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage vor Aufhebung der Abstandsflächensatzung wäre eine eingehende Prüfung der Sach- und Rechtslage erforderlich, um zu ermitteln, ob die erteilte Abweichung rechtswidrig war und den Antragsteller in eigenen Rechten verletzt hat, was nach Erledigung der Hauptsache nicht mehr geboten ist. Das Ergebnis erscheint auch nicht ohne Weiteres absehbar, nachdem sich der angefochtene Beschluss mit dieser Frage nicht befasst hat. Das Verwaltungsgericht konnte die Fragestellung aufgrund der nachträglichen Änderung der Sach- und Rechtslage zugunsten des beigeladenen Bauherrn offen lassen. Eine Kostentragung des Beigeladenen gemäß § 154 Abs. 3 Halbs. 2 i.V.m. § 155 Abs. 4 VwGO erscheint dagegen nicht angebracht. Ein Verschulden ist nicht ersichtlich und wurde vom Antragsteller auch nicht hinreichend dargelegt. Zudem erscheint offen, ob die Aufhebung der Abstandsflächensatzung tatsächlich Auswirkungen auf die Rechtmäßigkeit der Baugenehmigung hatte, was gerade nicht mehr geprüft werden muss. Im Übrigen ist es zweifehlhaft, ob ein materiellrechtlich zulässiges außerprozessuales Verhalten überhaupt eine Pflichtverletzung i.S. des § 155 Abs. 4 VwGO darstellen kann (ablehnend Wöckel in Eyermann, VwGO 16. Aufl. 2022 m.w.N. auch zur Gegenauffassung).
6
Billigem Ermessen entspricht es andererseits, dass der Antragsteller die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu tragen hat. Selbst wenn mit dem Beschwerdevorbringen davon ausgegangen wird, dass das Rechtsschutzbedürfnis für eine Beschwerde auch dann fortbestehen kann, wenn sich der Rechtsstreit vor Erlass der erstinstanzlichen Entscheidung in der Hauptsache erledigt hat, das Verwaltungsgericht jedoch – mangels verfahrensbeendender Erklärung des Antragstellers – gleichwohl in der Hauptsache entscheiden musste (OVG NW, B.v. 8.1.2021 – 19 B 2010/20 – NVwZ-RR 2021, 509; a.A. OVG Bln-Bbg, B.v. 26.8.2016 – OVG 12 S 37.16 u. a. – juris, jew. m.w.N.), muss der Zeitpunkt der Erledigungserklärung im Rahmen der Billigkeitsentscheidung Berücksichtigung finden. Das Prozessrecht setzt einem Antragsteller grundsätzlich keine zeitliche Grenze, einen Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt zu erklären (vgl. BVerwG, U.v. 22.1.1993 – 8 C 40.91 – NVwZ 1993, 979). Beruht aber die Notwendigkeit, ein Rechtsmittelverfahren zu führen, auf dem bisherigen prozessualen Verhalten des Rechtsmittelführers, entspricht es der Billigkeit, dass er die Kosten des Rechtsmittelverfahrens trägt (vgl. BayVGH, B.v. 8.4.1987 – 7 CS 87.281 – BayVBl 1987, 636). Die Auferlegung der durch eine verspätete Erklärung verursachten Mehrkosten folgt der gesetzlichen Wertung des § 155 Abs. 4 VwGO (vgl. BVerwG, B.v. 29.7.2003 – 1 B 291.02 – NVwZ 2004, 353; OVG NW, B.v. 8.1.2021 – 19 B 2010/20 – NVwZ-RR 2021, 509; vgl. dazu auch Neumann/Schaks in Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 155 Rn. 78). Der Antragsteller hat keine Gründe dafür dargelegt, warum er nicht bereits das erstinstanzliche Verfahren für erledigt erklärt hat. Der Einwand, er sei davon ausgegangen, dass sich „wohl die Anfechtungsklage erledigt haben dürfte, dies aber keine Auswirkungen auf das Eilverfahren“ habe, überzeugt nicht. Es begegnet keinen Bedenken, dass das Verwaltungsgericht davon ausgegangen ist, dass der Antrag unbegründet ist, wenn die Klage in der Hauptsache (aufgrund der geänderten Rechtslage) nach summarischer Prüfung keinen Erfolg haben wird (vgl. zum Prüfungsmaßstab Hoppe in Eyermann, § 80 Rn. 89 ff. m.w.N.). Soweit mit der Beschwerde geltend gemacht wird, das Verwaltungsgericht habe keinen Hinweis auf die geänderte Rechtslage gegeben, ist dies nicht nachvollziehbar. Mit Schreiben des Berichterstatters vom 25. Juni 2025 (Bl. 69 ff. der Akte des VG) wurde der Rechtsanwalt des Antragstellers ausdrücklich darauf hingewiesen, dass – „sollte eine etwaige Abstandsflächenproblematik mit Aufhebung der Abstandsflächensatzung … entfallen sein“ – dieser Umstand bei einer Entscheidung zu berücksichtigen sei. Nach „vorläufiger und unverbindlicher Prüfung“ spreche „einiges dafür, dass jedenfalls nach Aufhebung der Abstandsflächensatzung im Hinblick auf das Grundstück des Antragstellers … kein Verstoß gegen Art. 6 BayBO“ vorliege und die erteilte Abweichung sich damit erledigt habe. Ein derartiger Hinweis erscheint bei einem anwaltlich vertretenen Beteiligten ausreichend.
7
Der Beigeladene hat keinen Antrag gestellt. Er trägt daher seine außergerichtlichen Kosten, soweit solche angefallen sind, nach § 162 Abs. 3 VwGO selbst.
8
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1 und Abs. 8 GKG i.V.m. Nrn. 1.5, 9.6.1 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2025.