VG München, Beschluss v. 27.03.2023 – M 8 SN 23.1010
Titel:

Erfolgloser Eilantrag der Nachbarin gegen Hofbebauung

Normenketten:
VwGO § 80a Abs. 3
BauGB § 34
BayBO Art. 6 Abs. 1 S. 3
Leitsätze:
1. Der gesetzlich eingeräumte Vorrang des Städtebaurechts vor dem Abstandsflächenrecht gilt nicht nur für Festsetzungen in Bebauungsplänen, sondern auch dort, wo sich die planungsrechtliche Zulässigkeit von Vorhaben nach § 34 BauGB richtet. (Rn. 23) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die Möglichkeit, nach § 34 Abs. 1 BauGB (bzw. nach Art. 6 Abs. 1 S. 3 BayBO) ein grenzständiges Gebäude zu errichten, kann dann nicht gegeben sein, wenn der Grenzanbau für den Nachbarn unzumutbar ist. (Rn. 28) (redaktioneller Leitsatz)
3. Für die Annahme einer „erdrückenden“ Wirkung eines Nachbargebäudes besteht grundsätzlich schon dann kein Raum, wenn dessen Baukörper nicht erheblich höher ist als der des betroffenen Gebäudes. Dies gilt insbesondere dann, wenn beide Gebäude im dicht bebauten städtischen Bereich liegen. (Rn. 30) (redaktioneller Leitsatz)
4. Das Rücksichtnahmegebot gewährleistet weder eine bestimmte Dauer oder „Qualität“ der natürlichen Belichtung noch die unveränderte Beibehaltung einer zuvor gegebenen Situation. (Rn. 32) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Nachbareilantrag, Abstandsflächen, Verstoß gegen das Gebot der Rücksichtnahme (verneint), Vorrang des Städtebaurechts vor dem Abstandsflächenrecht, grenzständiges Gebäude, erdrückende Wirkung, Verschattung, Anbau von Balkonen
Fundstelle:
BeckRS 2023, 6681

Tenor

I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Die Antragstellerin hat die Kosten des Verfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen zu tragen.
III. Der Streitwert wird auf 5.000,-- EUR festgesetzt.

Gründe

I.
1
Die Antragstellerin begehrt im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes die Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage vom 18. Oktober 2022 gegen eine der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung für das Grundstück …str. 158, Fl.Nr. …, Gem. … (im Folgenden: Baugrundstück).
2
Die Antragstellerin ist Eigentümerin des Grundstücks …str. 156, Fl.Nr. …, Gem. … (im Folgenden: Nachbargrundstück), welches sich im Osten an das Baugrundstück anschließt.
3
Bau- und Nachbargrundstück liegen im Geviert …straße, …straße, …straße und …straße. Für dieses ist u.a. entlang der …straße eine vordere Baulinie durch übergeleiteten Baulinienplan festgesetzt. Das Baugrundstück verfügt gegenwärtig über ein dreigeschossiges Vordergebäude mit ausgebautem Dachgeschoss, im rückwärtigen Hofbereich finden sich eingeschossige Nebengebäude. Das Nachbargrundstück ist mit einem fünfgeschossigen wohngenutzten Vordergebäude sowie im rückwärtigen Bereich mit zwei eingeschossigen Nebengebäuden (zum Teil Garagen) an der Grenze zum Baugrundstück (westliche Grenze des Nachbargrundstücks) bebaut.
4
Vgl. zur Lage der Grundstücke und ihrer Bebauung anliegenden Lageplan im Maßstab 1 : 1000, der eine Darstellung des Vorhabens enthält (nach dem Einscannen möglicherweise nicht mehr maßstabsgerecht):
5
Mit Bescheid vom 22. September 2022 (auf Grundlage des Bauantrags von 24. Juni 2022 nach PlanNr. … und nach PlanNr. …) erteilte die Antragsgegnerin der Beigeladenen die Baugenehmigung zum Umbau, Sanierung und Erweiterung eines denkmalgeschützten Wohn- und Geschäftsgebäudes durch ein hofseitiges Wohnhaus sowie den Anbau eines außenliegenden Aufzugs. Die Baugenehmigung hatte unter anderem den Anbau von hofseitigen Balkonen an das Vordergebäude sowie (z.T. unter Abbruch der vorhandenen rückwärtigen Bebauung) die Errichtung eines fünfgeschossigen, zum Nachbargrundstück hin grenzständigen Rückgebäudes (mit einer Grundfläche von ca. 5,26 m x 7,72 m und einer Wandhöhe – Ostseite – von +16,85 m) sowie eines grenzständigen Aufzugs (positioniert zwischen Vorderund Rückgebäude) mit einer Höhe von +15,22 zum Gegenstand. Das geplante Rückgebäude nimmt die Kubatur des Rückgebäudes auf der sich nördlich anschließenden Fl.Nr. … (…str. 61) auf. Die Baugenehmigung enthielt u.a. eine Abweichung von Art. 6 Abs. 2 Satz 1 BayBO wegen Nichteinhaltung erforderlicher Abstandsflächen zum Nachbargrundstück für die Balkone.
6
Mit Schriftsatz vom 18. Oktober 2022, bei Gericht eingegangen am selben Tag, erhob die Antragstellerin Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht München mit dem Ziel, den Bescheid vom 22. September 2022 aufzuheben. Über diese Klage (M 8 K 22.5143) wurde bisher noch nicht entschieden.
7
Mit Schriftsatz vom 1. März 2023 beantragt sie:
8
Die aufschiebende Wirkung der Klage zum Verwaltungsgericht München gegen den Bescheid der Beklagten … … vom 22.9.2022, Az.: …, rechtshängig beim Bayerischen Verwaltungsgericht München, Az: M 8 K 22.5143, wird angeordnet.
9
Zur Begründung wird im Wesentlichen ausgeführt, dass der Innenhof von Bau- und Nachbargrundstück bisher nicht oder nur mit eingeschossigen Nebengebäuden bebaut sei. Der grenzständige „Wohnturm“ und der Aufzug würden eine rechtlich unzulässige Abstandsfläche auf das Nachbargrundstück werfen. Die Maßnahme könne weder auf Art. 6 Abs. 5a Satz 2 BayBO noch auf Art. 6 Abs. 7 BayBO gestützt werden. Auch Art. 6 Abs. [1] Satz 3 BayBO könne keine Anwendung finden, da die beabsichtigte Neubebauung zu einer Einmauerung mit erdrückender Wirkung führe. Die geplante Bebauung übersteige die vorhandene eingeschossige Hinterhofbebauung der Antragstellerin um mehr als 12 m und sei damit höher als das Nachbargrundstück breit sei. Die Bebauung würde zu einer nachmittäglichen Totalverschattung führen. Aus den gleichen Gründen scheide auch eine Befreiung nach Art. 63 BayBO aus.
10
Die Antragsgegnerin beantragt,
11
den Antrag abzulehnen.
12
Eine Abweichung von Abstandsflächen nach Art. 63 BayBO sei in Fällen des Art. 6 Abs. 1 Satz 3 BayBO nicht nötig. Vorliegend dürfe nach planungsrechtlichen Vorschriften an die Grenze gebaut werden. Im Geviert sei weit überwiegend Bebauung in geschlossener Bauweise umgesetzt. Das Geviert sei auch von mehrgeschossiger grenzständiger Bebauung im rückwärtigen Bereich geprägt. Eine Verletzung des Gebots der Rücksichtnahme komme nicht in Betracht. Die Grundstücke lägen in einem äußerst dicht bebauten innerstädtischen Bereich. Ein Verschattungseffekt als typische Folge der Bebauung sei hier nicht rücksichtslos. Eine besondere Belastungswirkung im konkreten Fall sei nicht ersichtlich, ebenso keine erdrückende oder einmauernde Wirkung.
13
Die Beigeladene beantragt ebenfalls,
14
den Antrag abzulehnen.
15
Das Vorhaben füge sich hinsichtlich der Art und des Maßes der baulichen Nutzung, der Bauweise und der überbaubaren Grundstücksfläche in die nähere Umgebung ein. Als Bezugsfälle seien hier die …str. 61 (Fl.Nr. …) und die …str. 160 (Fl.Nr. …) heranzuziehen. Das Rücksichtnahmegebot sei nicht verletzt, weil das Vorhaben die Antragstellerin nicht einmauere, erdrückend auf ihr Eigentum wirke oder die Belichtung, Belüftung und Besonnung unzumutbar verschlechterte. Der Grenzanbau sei nach Art. 6 Abs. 1 Satz 3 BayBO ohne Abstandsfläche zulässig, da nach planungsrechtlichen Vorschriften an die gemeinsame Grenze von Baugrundstück und Grundstück der Antragstellerin gebaut werden dürfe.
16
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichts- und die vorgelegten Behördenakten, auch im Verfahren der Hauptsache (M 8 K 22.5143), verwiesen.
II.
17
Der zulässige Antrag nach § 80a Abs. 3 VwGO i.V.m. § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO i.V.m. § 212a Abs. 1 BauGB, gerichtet auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage vom 18. Oktober 2022 (M 8 K 22.5143) ist unbegründet, da die in der Hauptsache von der Antragstellerin erhobene Anfechtungsklage voraussichtlich ohne Erfolg sein wird.
18
Die angefochtene Baugenehmigung vom 22. September 2022 verletzt bei summarischer Prüfung keine nachbarschützenden Vorschriften, die im vereinfachten Baugenehmigungsverfahren zu prüfen sind und auf die sich die Antragstellerin berufen kann, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO, Art. 59 BayBO.
19
1. Nach § 212 a Abs. 1 BauGB hat die Anfechtungsklage eines Dritten gegen die bauaufsichtliche Zulassung eines Vorhabens keine aufschiebende Wirkung. Legt ein Dritter gegen die einem anderen erteilte und diesen begünstigende Baugenehmigung eine Anfechtungsklage ein, so kann das Gericht auf Antrag gemäß § 80a Abs. 3 Satz 2 VwGO in entsprechender Anwendung von § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO die bundesgesetzlich gemäß § 212a Abs. 1 BauGB ausgeschlossene aufschiebende Wirkung der Anfechtungsklage ganz oder teilweise anordnen. Hierbei trifft das Gericht eine eigene Ermessensentscheidung darüber, welche Interessen höher zu bewerten sind – die für einen sofortigen Vollzug des angefochtenen Verwaltungsakts oder die für die Anordnung der aufschiebenden Wirkung streitenden. Dabei stehen sich das Suspensivinteresse des Nachbarn und das Interesse des Bauherrn, von der Baugenehmigung sofort Gebrauch zu machen, grundsätzlich gleichwertig gegenüber. Im Rahmen dieser Interessenabwägung sind die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs in der Hauptsache als wesentliches Indiz zu berücksichtigen. Fällt die Erfolgsprognose zu Gunsten des Nachbarn aus, erweist sich die angefochtene Baugenehmigung also nach summarischer Prüfung gegenüber dem Nachbarn als rechtswidrig, so ist die Vollziehung der Genehmigung regelmäßig auszusetzen (vgl. BayVGH, B.v. 12.4.1991 – 1 CS 91.439 – juris). Hat dagegen die Anfechtungsklage von Nachbarn mit hoher Wahrscheinlichkeit keinen Erfolg, so ist das im Rahmen der vorzunehmenden und zu Lasten des Antragstellers ausfallenden Interessensabwägung ein starkes Indiz für ein überwiegendes Interesse des Bauherrn an der sofortigen Vollziehung der ihm erteilten Baugenehmigung (vgl. BayVGH, B.v. 26.7.2011 – 14 CS 11.535 – juris Rn. 18). Sind schließlich die Erfolgsaussichten offen, findet eine reine Abwägung der für und gegen den Sofortvollzug sprechenden Interessen statt (vgl. BayVGH, B.v. 26.7.2011, a.a.O.).
20
Ein Dritter kann die Baugenehmigung mit dem Ziel der Aufhebung nur dann erfolgreich angreifen, wenn öffentlich-rechtliche Vorschriften verletzt sind, die auch dem nachbarlichen Schutz dienen (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Dritte können sich gegen eine Baugenehmigung mit Aussicht auf Erfolg zur Wehr setzen, wenn die angefochtene Baugenehmigung rechtswidrig ist und diese Rechtswidrigkeit (auch) auf der Verletzung von Normen beruht, die gerade dem Schutz des betreffenden Nachbarn zu dienen bestimmt sind, weil dieser in qualifizierter und zugleich individualisierter Weise in einem schutzwürdigen Recht betroffen ist (stRspr, vgl. BVerwG, U.v. 26.9.1991 – 4 C 5.87 – juris; BayVGH, B.v. 24.3.2009 – 14 CS 08.3017 – juris m.w.N.).
21
Dies zugrunde gelegt, sprechen nach der im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nur möglichen, aber auch ausreichenden summarischen Prüfung überwiegende Gründe dafür, dass das mit der streitgegenständlichen Baugenehmigung zugelassene Bauvorhaben nicht gegen solche drittschützende Rechte der Antragstellerin verstößt (Art. 59 Satz 1 BayBO, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Das private Interesse der Antragstellerin an der Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage gegen die erteilte Baugenehmigung ist deshalb gegenüber dem kraft Gesetzes zugrunde gelegten Interesse der Beigeladenen an der sofortigen Vollziehung der Baugenehmigung nachrangig.
22
2. Das Rückgebäude verstößt – nach summarischer Prüfung – nicht gegen (zumindest auch) dem Nachbarschutz dienende Vorschriften des Bauplanungs- und Bauordnungsrechts, welche im vereinfachten Baugenehmigungsverfahren zu prüfen sind, insbesondere nicht gegen die Vorschriften des Abstandsflächenrechts, Art. 59 Satz 1 Nr. 1b) BayBO i.V.m. Art. 6 BayBO. Die Hofbebauung darf entsprechend Art. 6 Abs. 1 Satz 3 BayBO ohne Abstandsfläche an der Grundstücksgrenze errichtet werden. Insoweit greift der Vorrang des Planungsrechts. Das planungsrechtlich zulässige Vorhaben verstößt insbesondere nicht gegen das Gebot der Rücksichtnahme.
23
Gemäß Art. 6 Abs. 1 Satz 1 BayBO und Art. 6 Abs. 2 Satz 1 BayBO sind vor den Außenwänden von Gebäuden Abstandsflächen freizuhalten, die auf dem Grundstück selbst liegen müssen. Nach Art. 6 Abs. 1 Satz 3 BayBO ist eine Abstandsfläche jedoch nicht erforderlich vor Außenwänden, die an Grundstücksgrenzen errichtet werden, wenn nach planungsrechtlichen Vorschriften an die Grenze gebaut werden muss oder gebaut werden darf. Der gesetzlich eingeräumte Vorrang des Städtebaurechts vor dem Abstandsflächenrecht gilt nicht nur für Festsetzungen in Bebauungsplänen, sondern auch dort, wo sich die planungsrechtliche Zulässigkeit von Vorhaben nach § 34 BauGB richtet (Kraus in: Busse/Kraus, Bayerische Bauordnung, Stand: Januar 2022, Art. 6 Rn. 47).
24
Wann nach Planungsrecht an die Grenze gebaut werden darf, richtet sich vorliegend, da der einfache übergeleitete Baulinienplan hierzu keine Aussage trifft, nach § 34 Abs. 1 BauGB. Danach ist innerhalb der im Zusammenhang bebauten Ortsteile ein Vorhaben insbesondere hinsichtlich der Bauweise zulässig, wenn es sich in die Eigenart der näheren Umgebung einfügt. In Bezug auf den bauplanungsrechtlichen Nachbarschutz ist maßgeblich, ob das Vorhaben gegen das im Tatbestandsmerkmal des Einfügens enthaltene Gebot der Rücksichtnahme verstößt (stRspr, BVerwG, U.v. 5.12. 2013 – 4 C 5.12, ZfBR 2014, 257, m.w.N).
25
Inhaltlich zielt das Gebot der Rücksichtnahme darauf ab, Spannungen und Störungen, die durch unverträgliche Grundstücksnutzungen entstehen, möglichst zu vermeiden. Welche Anforderungen das Gebot der Rücksichtnahme begründet, hängt wesentlich von den jeweiligen Umständen des Einzelfalles ab. Für eine sachgerechte Bewertung des Einzelfalles kommt es wesentlich auf eine Abwägung zwischen dem, was einerseits dem Rücksichtnahmebegünstigten und andererseits dem Rücksichtnahmeverpflichteten nach Lage der Dinge zumutbar ist, an (BVerwG, U.v. 18.11.2004 – 4 C 1.04 – juris, Rn. 22; U.v. 29.11.2012 – 4 C 8.11 – juris Rn. 16; BayVGH, B.v. 12.9.2013 – 2 CS 13.1351 – juris Rn. 4). Eine Rechtsverletzung ist erst dann zu bejahen, wenn von dem Vorhaben eine unzumutbare Beeinträchtigung ausgeht (BayVGH, B.v. 22.6.2011 – 15 CS 11.1101 – juris Rn. 17).
26
Zur Bestimmung dessen, was dem Rücksichtnahmeverpflichteten nach Lage der Dinge zumutbar ist, ist insbesondere die nähere Umgebung als (städte-)baulicher Rahmen, in den das Vorhaben- und Nachbargrundstück eingebettet sind, sowie die jeweilige besondere bauliche Situation der betroffenen Grundstücke in den Blick zu nehmen (VG München, U.v. 22.3.2022 – M 8 K 20.3855 – juris Rn. 29; U.v. 14.6.2021 – M 8 K 19.2266 – juris Rn. 41). Maßstabsbildend im Sinne des § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB ist dabei die Umgebung, insoweit sich die Ausführung eines Vorhabens auf sie auswirken kann und insoweit, als die Umgebung ihrerseits den bodenrechtlichen Charakter des Baugrundstücks prägt oder doch beeinflusst (BVerwG, B.v. 22.9.2016 – 4 B 23.16 – juris Rn. 6). Wie weit diese wechselseitige Prägung reicht, ist eine Frage des Einzelfalls.
27
Nach den Bauvorlagen und den von der Kammer eingesehenen, im Internet öffentlich zugänglichen Luftbildern („Google Maps“) ist die maßgebliche Umgebung (Straßenrand- und rückwärtige (Innenhof-)Bebauung entlang der …- und der …straße, im Osten mindestens bis zur Höhe …straße 150, im Westen mindestens bis zur Höhe …straße 166; soweit dürfte nach summarischer Prüfung der Bereich wechselseitiger Prägung reichen) vorliegend sowohl im vorderen straßenseitigen als auch im rückwärtigen Bereich von grenzständigen Hauptbaukörpern, also geschlossener Bauweise geprägt (unter anderem Fl. Nrn. …, …, …, …, …, …). Ein Strukturschnitt zwischen Vorder- und Rückgebäuden kann aufgrund der dichten, verzahnten und beengten Anordnung der Bauten nicht ausgemacht werden. Dass vorliegend ein grenzständiges Hauptgebäude auch im rückwärtigen Bereich errichtet werden darf, ist offensichtlich.
28
Das Gebot der Rücksichtnahme erfordert hier auch kein Zurückweichen des Bauvorhabens von der gemeinsamen Grenze. Zwar kann die Möglichkeit, nach § 34 Abs. 1 BauGB (bzw. nach Art. 6 Abs. 1 Satz 3 BayBO) ein grenzständiges Gebäude zu errichten, dann nicht gegeben sein, wenn der Grenzanbau für den Nachbarn unzumutbar ist (BayVGH, U.v. 4.5.2017 – 2 B 16.2432 – juris Rn. 29 m.w.N.). Die Antragstellerin hat vorliegend jedoch die durch die Umgebungsbebauung städtebaulich vorgegebenen Veränderung hinzunehmen (vgl. hierzu: BayVGH, B.v. 12.9.2013 – 2 CS 13.1351 – juris Rn. 6). Durch die Bebauung wird keine unzumutbare Enge geschaffen. Der entstehende Innenhof (…str. 156 und 154, …straße 59 und 57) ist – gemessen an dem im Quartier bereits Vorhandenen – weder besonders beengt noch besonders verschattet.
29
Das Vorhaben greift die Kubatur des direkt im Norden benachbarten Rückgebäudes Fl.Nr. … (…str. 61) im Wesentlichen auf und setzt diese auf dem Baugrundstück fort (vgl. Schnitt BB und Schnitt CC: Firsthöhe Nachbar Fl.Nr. … ca. +16,85, geplante Firsthöhe +16,85, Höhe bestehende Brandwand +17,00). Der zwischen Rückgebäude und Vordergebäude geplante Aufzug bleibt in seiner Höhenentwicklung (+15,22 m) sogar hinter der Höhe der grenzständigen Außenwand zurück.
30
Zwar ist in der Rechtsprechung anerkannt, dass eine Verletzung des Rücksichtnahmegebots insbesondere dann in Betracht kommt, wenn durch die Verwirklichung des genehmigten Vorhabens aufgrund seiner Höhe bzw. seines Volumens ein in der unmittelbaren Nachbarschaft befindliches Wohngebäude „eingemauert“ oder „erdrückt“ würde (vgl. BVerwG, U.v. 13.3.1981 – 4 C 1/78 – juris Rn. 38; U.v. 23.5.1986 – 4 C 34/85 – juris Rn. 15; BayVGH, B.v. 5.9.2016 – 15 CS 16.1536 – juris Rn. 28; B.v. 10.3.2018 – 15 CS 17.2523 – juris Rn. 27). Hauptkriterien bei der Beurteilung einer „erdrückenden“ bzw. „abriegelnden“ Wirkung sind die Höhe des Bauvorhabens und seine Länge sowie die Distanz der baulichen Anlage in Relation zur Nachbarbebauung (vgl. BayVGH, B.v. 5.12.2012 – 2 CS 12.2290 – juris Rn. 9; B.v. 10.3.2018 – 15 CS 17.2523 – juris Rn. 27). Für die Annahme einer „erdrückenden“ Wirkung eines Nachbargebäudes besteht jedoch grundsätzlich schon dann kein Raum, wenn dessen Baukörper nicht erheblich höher ist als der des betroffenen Gebäudes (vgl. BayVGH, B.v. 5.9.2016 – 15 CS 16.1536 – juris Rn. 30). Dies gilt insbesondere dann, wenn beide Gebäude – wie hier – im dicht bebauten städtischen Bereich liegen (vgl. BayVGH, B.v. 20.4.2010 – 2 ZB 07.3200 – juris Rn. 3; B.v. 5.12.2012 – 2 CS 12.2290 – juris Rn. 9).
31
Dies berücksichtigend ist hinsichtlich der geplanten Hofbebauung (Rückgebäude und Aufzug) bereits aufgrund der Höhenverhältnisse und der Stellung der Gebäude zueinander eine einmauernde oder erdrückende Wirkung hinsichtlich des wohngenutzten Vordergebäudes ausgeschlossen. Bei den eingeschossigen Gebäuden auf dem Nachbargrundstück handelt es sich nach den Angaben der Antragstellerin um Nebengebäude, diese sind schon von vornherein nicht schutzbedürftig, sodass es auf die Relation der Höhenverhältnisse insoweit nicht ankommt. Das Vordergebäude der Antragstellerin erreicht eine Firsthöhe von +18,55 (vgl. genehmigte Bauvorlagen, Südansicht Vordergebäude) und überragt damit das Rückgebäude (Firsthöhe: +16,85 m) sogar um ca. 2 m. Zudem stehen die Gebäude in einen Abstand von ca. 5 m senkrecht (90° Winkel) zueinander. Dass mit der geplanten Bebauung die seitliche Grenze zum Nachbargrundstück geschlossen wird, ist diesem gegenüber auch bei Berücksichtigung seiner Breite nicht (wie die Antragstellerin meint) unzumutbar. Das Nachbargrundstück entspricht von seinem Zuschnitt her in etwa den weiteren Grundstücken in der maßgeblichen Umgebung. Eine besondere Situation ist nicht auszumachen. Das Nachbargrundstück verbleibt an zwei Grenzen unbebaut. Der (entstehende) Innenhof (Fl.Nrn. …, …, …, …) verfügt mit ca. 300 qm unbebauter Fläche (abgegriffen) über eine angemessene Größe, von einem „Einmauerungseffekt“ kann daher – auch angesichts der Umgebungsbebauung – keine Rede sein.
32
Die durch das Vorhaben zu erwartenden Auswirkungen auf die Belichtung sind nicht derart gravierend, dass man einen Verstoß gegen das Gebot der Rücksichtnahme annehmen müsste. Ein Verschattungseffekt als typische Folge der Bebauung ist insbesondere in innergemeindlichen bzw. innerstädtischen Lagen, bis zu einer im Einzelfall zu bestimmenden Unzumutbarkeitsgrenze in der Regel nicht rücksichtslos und daher hinzunehmen (vgl. BayVGH, B.v. 10.12.2008 – 1 CS 08.2770 – juris Rn. 24; B.v. 20.3.2018 – 15 CS 17.2523 – juris Rn. 28 m.w.N.; OVG Bremen, B.v. 19.3.2015 – 1 B 19/15 – juris Rn. 19; SächsOVG, B.v. 4.8.2014 – 1 B 56/14 – juris Rn. 19). Dass diese Grenze vorliegend aufgrund einer besonderen Belastungswirkung im konkreten Fall überschritten sein könnte, ist im Rahmen der vorgegebenen städtebaulichen Situation nicht ersichtlich, zumal das Rückgebäude und das Vordergebäude im 90°-Winkel zueinander versetzt stehen und der sogenannte „45°- Lichteinfallswinkel“ (zu den Fensterbrüstungen des Vordergebäudes) durch die hinzutretende Bebauung nicht berührt wird. Die Einhaltung eines Lichteinfallswinkels von 45° in Höhe der Fensterbrüstung von Fenstern von Aufenthaltsräumen stellt grundsätzlich eine ausreichende Belichtung sicher (vgl. BayVGH, B.v. 17.7.2013 – 14 ZB 12.1153 – juris Rn. 14 unter Bezugnahme auf BayVGH, B.v. 9.6.2011 – 2 ZB 10.2289 – juris Rn. 5; U.v. 20.9.2011 – 2 B 11.761 – juris Rn. 26). Die Belichtung von Süden und Osten her ist weiterhin ohne (über den Status quo hinausgehende) Einschränkungen gewährleistet. Die Antragstellerin hat überdies keinen Anspruch darauf, die Belichtung und Belüftung ihres Gebäudes und des rückwärtigen Hofbereichs über das Baugrundstück zu bewirken. Vielmehr obliegt es grundsätzlich jedem Bauherrn, die erforderliche Belichtung über sein eigenes Grundstück zu erreichen. Das Rücksichtnahmegebot gewährleistet weder eine bestimmte Dauer oder „Qualität“ der natürlichen Belichtung noch die unveränderte Beibehaltung einer insoweit zuvor gegebenen Situation (OVG Hamburg, B.v. 26.9.2007 – 2 Bs 188/07 – ZfBR 2008, 283).
33
Es verbleibt mithin auch bei Beachtung der besonderen städtebaulichen Situation und der Begebenheiten auf den betroffenen Grundstücken bei dem Grundsatz, dass in einem von geschlossener oder halboffener Bebauung geprägten innerstädtischen Bereich mit einer höheren Verschattung durch ein neu errichtetes bzw. aufzustockendes Wohngebäude regelmäßig zu rechnen und diese hinzunehmen ist (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, B.v. 20.11.2020 – 10 S 66/20, NVwZ-RR 2021, 335; B.v. 30.3.2020 – 10 S 30/19, BeckRS 2020, 6293).
34
Nicht mehr hinnehmbare Einblickmöglichkeiten (welche im dicht bebauten innerstädtischen Bereich grundsätzlich die Ausnahme sind, vgl. BayVGH, B.v. 7.10.2010 – 2 B 09.328 – juris Rn. 30) sind vorliegend aufgrund der Ausgestaltung der Grenzmauer als fensterlose Brandwand nicht zu besorgen.
35
3. Auch der Anbau von Balkonen an das Bestandsgebäude verstößt – nach summarischer Prüfung – nicht gegen (zumindest auch) dem Nachbarschutz dienende Vorschriften des Bauplanungs- und Bauordnungsrechts, welche im vereinfachten Baugenehmigungsverfahren zu prüfen sind.
36
Ein Verstoß gegen auch die Antragstellerin schützende Normen des Bauplanungsrechts (§ 34 BauGB) ist nicht ansatzweise ersichtlich. Stößt eine Wohnnutzung auf eine vorhandene Wohnnutzung, dann kommt unter dem Gesichtspunkt der Nutzungsart ein Verstoß gegen das Rücksichtnahmegebot nur unter ganz außergewöhnlichen – hier nicht erkennbaren – Umständen in Betracht (BayVGH, B.v. 15.11.2010 – 2 ZB 09.2191 – juris Rn. 7).
37
Zudem verstößt der Anbau der Balkone nicht gegen die Vorschriften des Abstandsflächenrechts, Art. 59 Satz 1 Nr. 1b) BayBO i.V.m. Art. 6 BayBO. Nach Art. 6 Abs. 6 Satz 1 Nr. 3 BayBO bleiben bei der Bemessung der Abstandsflächen bei Gebäuden an der Grundstücksgrenze die Seitenwände von Vorbauten, auch wenn sie nicht an der Grundstücksgrenze errichtet werden, außer Betracht (vgl. auch BayVGH, B.v. 2.8.2022 – 2 ZB 22.1229 – n.V.; VG München, U.v. 28.3.2022 – M 8 K 20.3855 – juris Rn. 48). Hierunter fallen die östlichen Seitenwände der geplanten Balkonanlage. Da eine Abstandsfläche für diese Bauteile nicht mehr erforderlich ist, ist nicht entscheidungserheblich, ob die hierfür gleichwohl erteilte Abweichung rechtmäßig ist, da eine Rechtsverletzung der Antragstellerin insoweit ausscheidet.
38
4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
39
Es entspricht der Billigkeit im Sinne von § 162 Abs. 3 VwGO, dass die Beigeladene ihre außergerichtlichen Kosten erstattet erhält, da sie einen Antrag gestellt hat und damit ein Kostenrisiko eingegangen ist (§ 154 Abs. 3 VwGO).
40
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1 Gerichtskostengesetz (GKG) i.V.m. den Ziffern 1.5 und 9.7.1 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013.